Explikat

Merlin-Rezeptionen im Mittelalter

a) Geoffrey of Monmouth in der Vita Merlini

Die literarische Figur Merlins ist eine Schöpfung von Geoffrey of Monmouth, der sich auf zwei historische Figuren bezieht, nämlich erstens auf einen Briten namens Lailoken, der nach einer keltisch-walisischen Dichtung im 6. Jh. nach Christus in den Wäldern Schottlands lebte und als mit der Gabe der Prophetie ausgestattet angesehen wurde. Lailoken wurde von den Walisern auch Myrddin genannt, Geoffrey überführte den Namen ins Lateinische, so dass aus Myrddin Merlinus wurde (vgl. Ashe 2003, 220f.). Die zweite Figur, die in Merlin einfließt, ist der Prophet Ambrosius, „der Vortigerns Magier in Verwirrung versetzt“ (Ashe 2003, 221), und der Historia Britonum des Nennius entnommen wurde. Hier wird die Episode erzählt, "die unmittelbares Vorbild für Geoffreys of Monmouth Merlinkonzeption [...] gewesen sein dürfte" (Vielhauer 1985, 38). Die zweite Quelle Geoffreys findet sich demnach in der Geschichtsschreibung Großbritanniens.

Geoffreys Vita Merlini widmet sich ausführlich dem Leben Merlins und stellt seine Zerrissenheit im Kontrast von Gesellschaft und Natur dar. Deutlich wird in Geoffreys Schilderung, dass Merlin die Gesellschaft nicht erträgt und in Raserei verfällt, die ihn dazu treibt, aus der Gesellschaft in den Wald zu fliehen, wo er Trost sucht und findet. Er schöpft Kraft aus der Natur, mit der er im Einklang leben kann. Geoffrey verortet Merlin aber nicht nur in den Gegensatz von Gesellschaft und Natur, sondern bringt als dritte Komponente auch das Christentum ins Spiel, wenn Merlin Christus im Gebet um Hilfe bittet. Wahnsinn und die Suche nach Abgeschiedenheit in der Natur im Wald, also fernab jeglicher Zivilisation, und die Frage nach Gott sind Momente, die sich übrigens auch in Wolframs Parzival finden. Der Protagonist verlässt voll von Trauer und Gram die Artusrunde und damit die Zivilisation.

ichne bin doch trûrensnihterlôst,

und will iuch des bescheiden.

ichne mag es sônihtgeleiden

als ez mir leide kündet,

daz sich numangersündet

an mir, der nihtweizmînerclage

und ich dâbîsîn spotten trage.

ichne will deheinervröudejehen,

ichnemüezealrêrst den gral gesehen,

diuwîlesî kurz oder lanc (Wolfram 1991, Buch 6, 329, Vers 18-27).

Auch aus Parzival bricht die Frage nach Gott heraus:

Der Wâleis sprach >wêwaz ist got?

waer der gewaldec, sölhenspot

het er uns bêdenniht gegeben,

kundegot mit creften leben.

ich was im dienstesundertân,

sît ich genâden mich versan.

nu will ich im dienst widersagen:

hât er haz, den will ich tragen (Wolfram 1991, Buch 6, 332, Vers 1-8).

Nachdem Parzival die Artusrunde verlassen hat, wird die Geschichte Gawans erzählt, bis Parzival wieder in die Gesellschaft zurückkehrt. 

In der Neubearbeitung des Parzival-Stoffes durch Adolf Muschg werden diese Aspekte aufgegriffen. Parzival verlässt die Gesellschaft, nicht ohne vorab im Gespräch mit Gawan zu sagen: 

"Was ist Gott? Er hat Glück, daß es ihn nicht gibt. Sonst müßte man ihm mit seiner Welt das Maul stopfen, bis er daran erstickt. Gawan zuckte zusammen. – Er rette Eure Seele, flüsterte er. Er wird sich hüten, sagte Parzivâl. – Daran ist nichts zu retten." (Muschg 1996, 606).

Als Parzival seine selbstgewählte Einsamkeit aufgibt, ist das auch äußerlich erkennbar. "Er redete wieder, hatte die Perücke abgetan, den falschen Bart, längst war ihm ein richtiger gewachsen" (Muschg 1996, 668). Die 'neue' Zugehörigkeit zur Gesellschaft geht dementsprechend einher mit dem Ablegen der Verkleidung und dem 'Wiederfinden' der Sprache. Gleichzeitig hat Parzival den Weg zu Gott gefunden, sein Verstand ist wieder klar.

Genauso ergeht es auch Merlin. Er erfährt die Heilung vom Wahnsinn durch das Wasser einer neu aufgebrochenen Quelle im Wald, nachdem er davon getrunken hat (vgl. Geoffrey 1985, 77). Die Heilung durch Gott geht einher mit einem Dienst an Gott, gleichzeitig aber auch mit dem Verlust der Sehergabe. Der Glaube an Gott wird als Erklärung herangezogen: „Merlin glaubt an Gott, an den Schöpfer, der alleine das Recht hat, die Menschen zu lenken und deren Schicksale zu kennen. Merlin ordnet sich Gott als höherer Macht unter und büßt damit seine Sehergabe ein, ohne dies zu bereuen“ (Planka 2008, 159).

Die Sehergabe macht Merlin so besonders, hat er doch dadurch nachhaltig die Geschichte Englands beeinflussen können. Vielhauer zeigt auf, dass alle Prophezeiungen, die Merlin hier in der Vita Merlini tätigt, bereits in Geoffreys Historia enthalten waren. Dabei merkt sie an, dass die größte Gabe Merlins die prophetische ist (Vielhauer 1985, 27):

"Die zweierlei Aspekte seiner Prophetengabe: die Erhellung der Zukunft und der Vergangenheit werden von späteren, christlich-dualistisch empfindenden Erzählern so gedeutet, dass er die eine Gabe von Gott, die andere vom Teufel erhalten habe. Begleitet werden die rein historischen Partien von apokalyptischen Bildern, von Mahn- und Weherufen, die den sittlichen Verfall des Volkes zum Inhalte haben. [...] Merlin ist von seinem Ursprung her ein Wissender, und die Gabe der politischen Prophezeiung bleibt unlösbar mit seiner Gestalt verbunden." (Vielhauer 1985, 31f.)

Brugger-Hackett unterteilt die Prophezeiungen Merlins in zwei Arten: Einmal sind es "die in das Geschehen unmittelbar integrierten, handlungsimmanenten Prophezeiungen [...]"(Brugger-Hackett 1991, 18). Zum anderen sind es Prophezeiungen Merlins, die über die Handlungszeit hinausgehen (Brugger-Hackett 1991, 35).

"Merlin, wie er in der Legende zutage tritt, ist eine Gestalt des Übergangs, die einen Fuß in beiden Welten hat, auf gewissen Weise ein Christ, aber gleichzeitig auch eine Art Druide" (Ashe 2003, 222). Durch letzteren Umstand steht er auch in Verbindung zur Kunst der Weissagung, was untermauert wird durch die Umstände seiner Geburt, wie sie ausführlich bei Robert de Boron geschildert werden.  

b) Merlin der Künder des Grals von Robert de Boron

Neben Geoffreys Vita Merlini schildert Robert de Boron das Leben Merlins wesentlich ausführlicher, greift aber auf Geoffreys Darstellung zurück (vgl. Mertens 1984, 327), so dass bestimmte Episoden narrativ ähnlich aufgebaut sind. "Schon 1155 übersetzt der Normanne Wace die Historia in französische Verse und führt so den Arthur-Kreis in die festländische Literatur ein" (Vielhauer 1985, 38). Fest steht, dass durch Robert de Boron die Merlindichtung "[ihre] ganze poetische Fülle und metaphysische Tiefe [...] gewonnen [hat]" (Vielhauer, 1985, 39). 

Robert de Borons Merlin-Figur ist in seinem Werk Merlin der Künder des Grals wesentlich ausführlicher dargestellt, als es der Merlin bei Geoffrey war. So schildert Robert die ungewöhnlichen Umstände, die zu Merlins Zeugung geführt haben – die Teufel sind für Merlins Zeugung verantwortlich als Reaktion auf Christus, der die Menschen von ihren Sünden erlöst hat: er soll die Menschen verführen und betrügen –, seine Geburt und sein Aufwachsen (vgl. Robert 1975, 7ff.).

Aber Merlin entwickelt sich anders, was nicht zuletzt am göttlichen Einfluss liegt, denn Gott ist der teuflische Plan nicht verborgen geblieben. So ergänzt er Merlins Sehergabe: Von den Teufeln hat Merlin die Gabe bekommen, in die Vergangenheit zu schauen. Von Gott bekommt er die Gabe, in die Zukunft zu schauen. Merlin kann so den Menschen nicht nur Verfehlungen aufzeigen, sondern auch die daraus entstehenden künftigen Entwicklungen (vgl. Robert 1975, 22f.). "Ganz klar wird die Gabe, in die Vergangenheit schauen zu können, dem Bösen zugeordnet, die Gabe, die Zukunft zu sehen, ist eine Gabe Gottes, der Merlin somit an seinem Wissen über die Zukunft teilhaben lässt. Gleichzeitig wird hier eine Paktsituation zwischen Gott und dem Teufel aufgeworfen, die stark an Goethes Faust erinnert, dessen Seele ebenfalls zum Spielball zwischen Gott und Teufel wird" (Planka 2008, 168).

"[Merlins] Geburt war [also] die Folge der Verbindung seiner Mutter mit einem nichtmenschlichen Wesen. [...] Die Höllenbewohner wollten einen Menschen mit übernatürlichen Kräften schaffen, der den christlichen Glauben niederschlagen sollte. Die Frömmigkeit der Mutter vereitelte diesen Plan, aber ihr Sohn war mit prophetischen und magischen Kräften begabt, allerdings ging ihm die Bosheit ab, die sein Erzeuger hatte hervorbringen wollen." (Ashe 2003, 218)

Merlins Wissen über Vergangenheit und Zukunft und seine Prophezeiungen beginnen kurz nach seiner Geburt und reihen sich im weiteren Handlungsverlauf förmlich aneinander. Er wächst heran vor dem Hintergrund geschichtlicher Entwicklungen: Heerführer Vortigern gelingt es, den Thron nach König Konstans‘ Tod an sich zu reißen und England zu regieren, von den drei Söhnen wird Moine getötet, Pendragon und Uter können fliehen. Merlin bekommt von alldem nichts mit, bis Vortigern auf den jungen Merlin aufmerksam gemacht wird, als ein Turmbau zu scheitern droht (vgl. Robert 1975, 42ff.). Merlin tritt Vortigern gegenüber und es kommt zur wohl bedeutendsten Prophezeiung Merlins:

"Weißt du, was unter diesem Turm ist? Da ist ein großes Wasser, und unter diesem Wasser liegen zwei Drachen, die nichts sehen. Der eine ist weiß und der andere rot. Die liegen unter zwei großen Steinen. Sie kennen einander recht gut und sind gar groß und stark. Und wenn sie spüren, daß das Wasser und die Erde durch die Gewalt der Steinmassen, mit denen man den Turm baut, zu hart auf ihnen lastet, so wenden sie sich um, und zwar mit so großer Gewalt, daß das Wasser in Wallung gerät. Dadurch bringen sie eine so große Erschütterung hervor, daß alles, was darüber liegt, einstürzen muß. Auf diese Weise fällt der Turm durch diese beiden Drachen zusammen." (Robert 1975, 57)

Merlin rät Vortigern, Steine und Wasser abzutragen bzw. abzulassen, damit er sich selbst von der Prophezeiung überzeugen kann. Merlin erklärt aber weiter:

"Die Drachen, die unter diesem Wasser liegen, werden sich bekämpfen, sobald sie einander wittern. Und sie werden einander töten. Nun laß alle Edlen deines Landes kommen, um den Kampf der beiden Drachen mit anzusehen. Denn darin wird eine tiefe Bedeutung liegen. [...] Mit ihrem Sieg und ihrem Kampf ist eine tiefe Bedeutung verbunden, und was ich dir darüber sagen will, das sollst du erfahren. [...] Du sollst wissen, der Weiße wird den Roten besiegen. Und wisset, er wird große Pein erleiden müssen, bevor er ihn besiegt und getötet hat, und die Tatsache, daß er ihn töten wird, hat eine große Bedeutung. Aber ich werde euch nichts mehr darüber sagen, sondern erst nach dem Kampf weitersprechen." (Robert 1975, 58f.)

Erst nach dem Kampf, dessen Verlauf so eintritt, wie Merlin es prophezeit hat, deutet er dem König das Gesehene. 

"Das sind Zeichen für die Dinge, die geschehen sind, und für die, die noch in der Zukunft sind. [...]" Merlin sprach zum König: "Vortigern, der rote Drache bedeutet dich selbst, und der weiße bedeutet die Söhne des Konstans." [...] „[...] So wisse denn über die beiden Drachen, daß der roten Drache, der so groß und so wild war, dich selbst und dein böses Gemüt bedeutet. Und die Tatsache, daß er so mächtig war, bedeutet deine Kraft. Der andere, der weiß war, bedeutet das Erbteil der Kinder, die vor dir geflohen sind. Und daß die beiden Drachen so lange und heftig kämpften, bedeutet, daß du ihr Land so lange innegehabt hast. Daß du sahest, wie der Weiße schließlich den Roten verbrannte, bedeutet, daß die Kinder dich verbrennen werden. Und wähne ja nicht, daß der Turm, den du gemacht hast, dich davor schützen kann, so daß du nicht auf diese Weise sterben mußt." (Robert 1975, 60ff.)

Als Vortigern fragt, ob es denn auch anders kommen könnte, antwortet Merlin: "Es kann nicht anders sein, als daß du von dem Feuer der Kinder des Konstans stirbst, genauso, wie du den weißen Drachen den roten hast verbrennen sehen" (Robert 1975, 63). Damit verweist Merlin eindeutig auf die Tatsache, dass alles unveränderlich und unabwendbar vorherbestimmt ist.

Diese Prophezeiung der zwei miteinander kämpfenden Drachen – und deren anschließende Deutung – ist wohl die wichtigste, die Merlin getätigt hat, eröffnet sie ihm doch den Weg dahin, dass er später in den Diensten von Englands Königen steht.

Ashe merkt an, dass Merlin,  "als er vor Vortigern geführt wurde und von dem roten und dem weißen Drachen sprach, [...] in Trance [fiel] und [...] weit mehr Prophezeiungen [aussprach], als sich die Waliser in die Erinnerung zurückrufen können." (Ashe 2003, 218) "Durch den Aspekt der Trance, den Ashe hier thematisiert, der aber in Roberts Schilderung nicht deutlich wird, zeigt sich, dass Merlin nicht nur mit Sehern und Propheten in Verbindung gebracht werden kann, sondern dass sich auch Anlehnungen an die Figur der Pythia finden lassen, die ebenfalls in einen tranceartigen Zustand fiel, bevor sie ihre Prophezeiungen ausgesprochen hat." (Planka 2008, 170f.)  Merlin zieht sich nach dieser Prophezeiung zurück, "bis die Söhne des Konstans ihn holten." (Robert 1975, 63) Ihnen lässt er manche Prophezeiung zuteil werden, mittels derer sie ihre Feinde besiegen können, so dass er als Mentor bezeichnet werden kann, dessen Weisheit immer wieder betont wird. 

Robert verknüpft das Leben Merlins zudem mit der Errichtung Stonehenges. Nach dem Tod Pendragons – sein Bruder Uter nimmt dessen Namen an, so dass er fortan Uter-Pendragon heißt – wird an dessen Grab ein Steindenkmal errichtet: "[…] Merlin [ließ] durch Zauberkunst eben die Steine von Irland kommen, die noch auf dem Friedhof von Salisbury zu sehen sind. [...] So ließ Merlin die Steine sich aufrichten, die noch heute auf dem Friedhof von Salisbury stehen" (Robert 1975, 63).

Eine andere Version der Entstehung von Stonehenge berichtet, dass ein Massengrab an dieser Stelle errichtet werden sollte. 

"Merlin erzählte [...] vom Giants’ Ring, dem riesigen in Irland stehenden Megalithenring. Merlin schlug vor, ihn von dort zu entfernen und über dem Grab der Edelleute wieder aufzurichten. Er reiste mit Uther in Begleitung einer großen Schar Briten nach Irland und setzte seine geheimen Künste dazu ein, den Ring abzubauen. Die Steinblöcke wurden auf Schiffe verladen und nach Britannien geschafft; dann ließ Merlin den Steinzirkel über dem Grab neu erstehen. So kam es, daß Stonehenge heute dort aufragt." (Ashe 2003, 219f.)

Die Gründung der Arthurischen Tafelrunde wird ebenfalls mit Merlin, dem Künder des Grals, verbunden. Der Gral – Joseph von Arimathea soll das Blut Christi mit dem Gral aufgefangen haben – ist für die Artusrunde von großer Bedeutung, die Artus-Ritterschaft macht sich auf die Suche nach dem Gral, um Erlösung zu finden. Insofern sind hier ebenfalls Bezüge zum Christentum gegeben, die sich haben finden lassen bei Merlins Zeugung und Geburt. 

Die Gründung der Tafelrunde durch Uter hat Folgen: Uter trifft auf Igerne, Frau des Herzogs von Tintagel, und verliebt sich in sie. Mithilfe Merlins verwandelt er seine Gestalt und zeugt ein Kind mit ihr, auf das Merlin Anspruch erhebt: Es wird der spätere König Artus sein, der später als König Britannien regiert (vgl. Robert 1975, 115ff.). Die Geschichte um Artus ist legendär: Nachdem Ritter und Adelige vergeblich versucht haben, das Schwert aus dem Stein zu ziehen, gelingt dies Artus, was ihn schließlich zum König und damit zum Nachfolger Uters macht (vgl. Robert 1975, 137).

c) Thomas Malory: Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde

Nachdem der Merlin-Stoff etabliert war, erschienen nachfolgend viele andere Werke, die sich auf Geoffrey und Robert beziehen und mit dem Artus-Stoff und dementsprechend auch mit Merlin auseinandersetzen, Roberts Roman fortschrieben, aber auch Modernisierungen des Stoffes vornahmen. Dazugehört z.B. auch, dass Merlin nicht unfehlbar ist. Er verfällt den Reizen einer Frau, in manchen Werken ist es Nimue, in anderen Viviane: Beide sperren Merlin ein, entweder in eine Höhle oder ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauer, aus dem Merlin nicht entkommen kann, oder in einen Weißdornbusch (vgl. Planka 2008, 175ff.).

Zu diesen Werken, die Merlin aufgreifen, gehört auch Thomas Malorys Werk Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde betrachtet. Es geht in Malorys Werk – wie der Titel sagt – hauptsächlich um das Leben König Artus‘. Das bedeutet aber, dass auch Merlin – obwohl der nur am Rande Erwähnung findet – eine tragende Rolle spielt, immerhin ist er Initiator von Artus‘ Geburt. Das ist auch der Punkt, als Merlin das erste Mal in Erscheinung tritt. Auch hier verhilft er Uther zu einer Nacht mit Igraine und erhebt Anspruch auf das gezeugte Kind (vgl. Malory 1977, 19). 

Auch in diesem Werk wird Merlins prophetische Gabe im Zusammenhang mit seiner Mentorenfunktion gegenüber Uther und auch Artus thematisiert, Merlin wird hier aber auch als 'Feldherr' gezeigt, der kriegerische Pläne und Schlachtpläne vorlegt (vgl. Malory 1977, 37/39). Merlin ist hier Prophet, Ratgeber, tritt aber auch als Gestaltwandler auf, wie er das auch bei Robert gemacht hat, und nutzt seine Zauberkraft, um Artus zu beschützen (vgl. Malory 1977, 49/61). "Somit ist Merlin gleichzeitig auch Beschützer des Königs. Diese Beschützerfunktion stützt sich ebenfalls, wie auch die Ratgeberfunktion, auf Merlins Gabe der Prophetie, durch die er künftige Ereignisse vorhersehen und folglich in das Geschehen eingreifen kann" (Planka 2008, 179).

Merlin-Rezeptionen hat es in der europäischen Literatur des Mittelalter zahlreiche gegeben, z.B. sowohl in den Niederlanden als auch Italien (vgl. dazu Brugger-Hackett 1991). Brugger-Hackett verweist in Bezug auf mittelalterliche Rezeptionen darauf, dass 

"[die] Rezeption Merlins [...] durchgängig charakterisiert [ist] durch das Auseinandertreten von Prophetie und Historie. [...] Die Lösung der Prophezeiungen von der historischen Gestalt ermöglicht auch die Verkündigung von Prophezeiungen allen möglichen Inhalts in Merlins Namen. Sein Name dient schließlich nur noch als propagandistisches Etikett. Die Geschichtsschreibung dagegen, und ebenso die epische Geschichtsdichtung nimmt sich in erster Linie der Person des Propheten als vorgeblich historischer Gestalt an. Merlin wird hier stets als ein Bestandteil der arthurischen Geschichte rezipiert. [...]. Die Merlinkonzeption verschiebt sich so vom Propheten hin zur übernatürlichen Gestalt mit magischen Fähigkeiten und lediglich anerkannter prophetischer Gabe, die aber nicht mehr die zentrale Rolle spielt." (Brugger-Hackett 1991, 82)

Da sich nach Brugger-Hackett die Überlieferungen ziemlich genau an ihre Vorlagen halten, die sich ihrerseits so weit zurückverfolgen lassen, bis sie bei Geoffrey 'ankommen’– "[der] Merlinstoff nimmt seinen Ausgang von der in England vor der Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßten [Historia Regum Britanniae] des Geoffrey of Monmouth" (Brugger-Hackett 1991, 321) – oder bei Robert – "[nach] Geoffrey of Monmouth war Roberts de Boron religiöse Gestaltung des Stoffs in der Dichtung von Merlin das herausragende Ereignis für die Rezeption in der volkssprachlichen Literatur" (Brugger-Hackett 1991, 324) –, kann man sagen, dass auch die Gabe der Prophetie übernommen wurde.

Merlin in Klassik und Romantik

Die Figur Merlins wurde sowohl von Goethe als auch von anderen klassischen Dichtern aufgegriffen. So hat auch Dorothea Schlegel eine Geschichte des Zauberers Merlin verfasst. Ihre 

"eindrucksvolle Zusammenfassung verschiedener Überlieferungen gibt ein einheitliches Bild des keltischen Magiers. Uhland, Lenau und andere deutsche Dichter der Folgezeit wurden von diesem Buch inspiriert. Doch keinem ist es bis heute gelungen, die mächtige Gestalt in ihrem ganzen Umfang im dichterischen Wort zu vergegenwärtigen. Eine weitere Quelle, die damals auf die deutsche Romantik wirkte, war die 1811 in englischer Sprache erschienene Prosanacherzählung der ’Vita Merlini’ von George Ellis […], die Uhland zu seiner Ballade ’Merlin der Wilde’ anregte" (o.A. 1985, 92)

"Schlegel orientiert sich stark an Roberts Vorlage, strafft das Geschehen und fasst es an einigen Stellen zusammen. „Die wesentlichen Punkte und der Verlauf der Handlung stimmen aber mit Roberts Handlungsverlauf und dessen Figurenkonstellationen überein […]" (Planka 2008, 182).

Für die Romantik wurde Merlin interessant 

"allein schon durch seine Herkunft und durch die janusköpfige Rolle, die er im Heilsplan Gottes und im Vernichtungsplan des Teufels spielt, zu einer geradezu umworbenen Identifikationsfigur [wurde]. Daß der Prophet trotz seiner antagonistischen Abstammung im Grunde ausschließlich den Absichten des Himmels dient, das Gralskönigtum des Artus vorbereitet und dabei selbst vom Wunderknaben zum Weisen reift, der die Intentionen Gottes ihrer Verwirklichung ein Stück näher bringt, erhöht noch die exemplarische Würde, die dem alten Stoff für Dorothea Schlegel innewohnt. Denn selbst dort, wo Merlin zunächst als das Werkzeug seines luziferischen Vaters zu wirken scheint, wie etwa bei der Inszenierung der Amphitryonade, die dem König Uterpendragon ein erstes voreheliches Beilager mit der noch anderweitig vermählten Yguerne gewährt, wird er doch durch das Fazit solcher Tat als christlicher Heilsbringer gerechtfertigt: der in jener Nacht gezeugte Knabe ist Artus, dereinst König der Ritterschaft, die das Gefäß des heiligen Gral mit dem Blut des Erlösers beschirmen wird." (Günzel 1984, 154f.)

Es ist Merlins prophetische Gabe, die sich durch alle im folgenden entstandenen Werke zieht, ein Zeichen, dass neben Geoffreys Werken, in denen Merlin ein erstes Mal literarisch erwähnt wird, auch Roberts Roman und Malorys Bearbeitung der Merlin-Figur mit ihren prophetischen Gaben im Blickfeld der Rezipienten standen. (vgl. dazu Brugger-Hackett 1991)

Merlins Grab

Neben Merlins prophetischer Gabe, die in allen Werken aufgegriffen wird und die Grundlage für seine Ratgeber- und Mentorenfunktion bildet, ist – neben der Weißdornhecke als Gefängnis – auch das Motiv des Grabes selbst präsent und wird immer wieder aufgegriffen. Besonders ist der Umstand, dass Merlin, obwohl gefangen, aus seinem Grab heraus prophezeit. Sowohl Uhland als auch Goethe und Immermann lassen Merlin aus dem Grab sprechen. Bei Uhland heißt es z.B.: "Versunken lag im moose / Merlin doch tönte lang / Aus einer waldkluftschoosse / Noch seiner stimme klang" (Uhland, nach o.A. 1985, 93). Und Gothe schreibt: "Merlin der alte, im leuchtenden grabe, / Wo ich als jüngling gesprochen ihn habe, / Hat mich mit ähnlicher antwort belehrt: / [...]!" (Goethe, nach o.A. 1985, 90)

Die prophetische Gabe Merlins setzt sich in der deutschen Literatur, besonders in der neuromantischen Welle Ende des 19. Jahrhunderts, fort. 

In Trauerspielen, Epen, Gralsdramen, Mysterien, Märchendichtungen, 'Welt- und Waldspielen', kosmischen Gesängen, Opern, dramatischen Gedichten, in Romanen, Novellen wird nun Merlin zum Künder aller Sehnsüchte, aller irdischen und überirdischen Verzweiflungen, Sentimentalitäten und Tiefsinnigkeiten einer Moderne, des jedes Erbgut der Überlieferung gut ist für ihre schmarotzerischen Zwecke, die aus jeder Vergangenheit sich nur Kostüme für ihren epigonalen Mummenschanz zurecht schneidert (O.A. 1985, 108f.).

Merlin in der Literatur des 20. Jahrhunderts: Tankred Dorsts Merlin oder Das wüste Land

Herausragend aus den Werken des 20. Jahrhunderts ist Tankred Dorsts Werk Merlin oder Das wüste Land. Dorst greift verschiedene, bereits bekannte Elemente auf. So ist auch hier Merlins Geburt motiviert durch die Ankunft Christi – wie bereits bei Robert de Boron gesehen –, Teufel sind für seine Zeugung verantwortlich und die Geburt selbst steht ebenfalls ganz im Zeichen des Bösen: Bei Merlins Geburt lässt Dorst Dämonen erscheinen und sich den Himmel verdunkeln, "die Schwingen des Teufels verdecken die Sonne" (Dorst 1985, 26).

DER TEUFEL

   Misch Licht und Dunkel sich, schmelz Erd und Himmel!

   Seid eins und kehrt zurück ins alte Chaos.

   Zerbrecht das Werk, zerstört die Welt, ihr Kräfte!

   Doch soll die Erde dauern, so gebt Raum

   und Leben der Geburt, der mißgeschaffnen,

   die euer Orakel mehrt durch ihren Ruhm!

   Hekate! Königin der Schatten! Lucina!

   Hör mich, Proserpina! Um Ceres Willen!

   Ruf aus der stygschen Nacht der Schicksalsschwestern!

   Oh fahrt daher auf dem beschwingten Winde,

   damit der Tod sie und ihr Kind nicht finde.

   Helft, Geister aus der unterirdschen Tiefe!

   Schieläugige Ericto! Kommt geschwind,

   erscheint und helft dem wunderbaren Kind!

   Dank, Hekate! Heil dir, der Götter Schwester!

   Dorthin nur eil! Hilf mir den Schicksalsschwestern

   und ende ihr die Angst der herben Schmerzen,

   auf daß der Sprössling von der Hölle Saat

   ein menschlich Wesen werde.

   Hanne ächzt und schreit.

EIN GEIST DER UNTERWELT

   Für dieses Kind vereint das Schicksal gern

   all seine Kräfte, Wissenschaft und Kunst,

   Erkenntnis, Weisheit, die verborgne Gunst

   der Prophezeiung, um vorauszusehen

   die künftigen Zeiten. Seines Wissens Schauen

   wird sich, ein Erzwall, um dies Eiland bauen.

DER TEUFEL

   Merlin! Sein Name wird durch alle Lande schallen

   solange Menschen leben, er gibt allen

   zum Staunen Anlaß, und es weint der Neid.

   Das Mißgeschick bewegt die dunklen Schwingen.

   Die künftige Welt soll Merlins Taten singen (Dorst 1985, 26f.).

Der Teufel ist es, der Merlin neben seinen Fähigkeiten auch die Gabe der Prophetie – interessanterweise sowohl den prophetischen Blick in die Vergangenheit als auch in die Zukunft – verliehen hat, die sofort nach der Geburt erkennbar ist: Merlin 'weiß' einfach, dass sein Onkel statt zehn Pfennigen hundert Mark in der Tasche hat. (vgl. Dorst 1985, 28f.) Und über die Gabe, in die Zukunft sehen zu können, erfährt Merlin auch von seinem Ende in der Weißdornhecke. (vgl. Dorst 1985, 32) Damit greift Dorst ein weiteres klassisches Element der Merlin-Sagen auf und integriert es in sein Werk.

"Auch die Gründung der Tafelrunde durch Merlin wird bei Dorst ziemlich früh angedeutet und die damit einhergehende Machtlosigkeit des Teufels, so dass bereits hier erkennbar ist, dass er Merlin verlieren wird und versucht, Merlin von diesen Bildern, die er sieht, abzulenken." (Planka 2008, 191)

Der Teufel versucht, Merlin von den Bildern der Zukunft abzuhalten und abzulenken. (vgl. Dorst 1985, 33f.)

Dorst hat in seiner Merlin-Figur von Anfang an das Gute durch den Glauben seiner Mutter an Gott positioniert.

DER TEUFEL Was! Du gehorchst mir nicht? Du mußt deinem Vater gehorchen!

MERLINWieso? Wohl, weil es in der Bibel steht?

DER TEUFEL  Unverschämter! Anarchist!

MERLIN Mein Vater ist zwar der Teufel, aber meine Mutter ist eine fromme Frau. So sind also auch fromme Gefühle in meine Seele gelegt worden (Dorst 1985, 35).

Merlin wird sich nicht dem Teufel anschließen, sondern Gutes tun. 

Tankred Dorsts Merlin präsentiert sich als 

"Prophet, Kenner der Zukunft und Berater- und Beschützer-Figur von König Artus, den er letztlich doch nicht vor seinem Tod retten kann. Damit wird deutlich, dass sich bis zu Dorst die Rezeption Merlins als Prophet erhalten hat neben anderen wichtigen Aspekten, die ebenfalls immer wieder aufgegriffen werden – also z.B. die Gründung der Tafelrunde, die Gralssuche und Merlins Untergang in der Weißdornhecke. (Planka 2008, 192)

Die Figur Merlin

Merlin ist in allen Werken Berater, Mentor, Zauberer und Gestaltwandler, am wichtigsten ist aber wohl seine Gabe der Prophetie, die es ihm ermöglicht, in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen zu können. Das bewahrt ihn jedoch nicht vor seinem eigenen Schicksal, im Gegenteil: 'Sehenden Auges' läuft er seinem Schicksal in Gestalt von Nimue/Viviane/Niniane entgegen und lässt sich, obwohl er um sein Eingeschlossensein weiß, den Zauberspruch entlocken, der ihn erst in das Gefängnis bringt. Damit akzeptiert er sein Schicksal, während die Geschichte um ihn herum weite rläuft. 

Die Verknüpfung zur Tafelrunde, zu König Artus und damit dem Gral lässt sich seit Robert de Borons Werk in nachfolgenden Werken finden. Diese Berater-/Mentorenfunktion gründet sich eben auf seine Fähigkeit der Prophetie. 


Bibliografie

Der Artikel basiert im Wesentlichen auf dem Kapitel "Merlin" aus: 

  • Planka, Sabine: Orakel und Wahrsagetechniken im Film. Rezeption, Visualisierung und Funktion seit 1950. Berlin: WVB, 2008, bes. S. 157-194.

Primärliteratur

  • Dorst, Tankred: Merlin oder Das wüste Land. Mitarb. Ursula Ehler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985 (= suhrkamptaschenbuch 1076).
  • Geoffrey von Monmouth: Das Leben des Zauberers Merlin. Vita Merlini Erstmalig in der dt. Übers. mit anderen Überlieferungen. Hrsg. v. Inge Vielhauer. 4., unveränd. Aufl. Amsterdam: Castrum Peregrini Presse, MCMLXXXV, S. 25 – 4.
  •  Malory, Thomas: Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde. 3 Bände, hier Bd. 1. Übertr. v. Helmut Findeisen auf d. Grundl. d. Lachmannschen Übers. Mit e. Nachw. v. Walter Martin. Mit Illustrationen v. Aubrey Beardsley. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag, 1977 (= inseltaschebuch 239).
  • Muschg, Adolf: Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996 (= suhrkamptaschenbuch 2581).
  • Schlegel, Dorothea: Geschichte des Zauberers Merlin. Nachwort von Klaus Günzel. Köln: Diederichs, 1984 (= Diederichs Kabinett).
  • Robert de Boron: Merlin der Künder des Grals. Aus d. Altfrz. übers. v. Konrad Sandkühler. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 1975.
  • Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. 1, Buch 1-8. Mhd./Nhd. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. u. Nachw. v. Wolfgang Spiewok. Stuttgart: Reclam, 1981 (= Reclams Universal-Bibliothek; Nr. 3681).

Sekundärliteratur

  • Ariost, zitiert nach: o.A.: Merlin in der neueren deutschen Dichtung. In: Geoffrey von Monmouth: Vita Merlini (MCMLXXXV).
  • Ashe, Geoffrey: Kelten, Druiden und König Arthur. Mythologie der Britischen Inseln. 4. Aufl. Düsseldorf: Albatros, 2003.
  • Brugger-Hackett, Silvia: Merlin in der europäischen Literatur des Mittelalters. Stuttgarter Diss. Stuttgart: Helfant-Ed., 1991 (= Helfant-Studien 8).
  • Günzel, Klaus: Im Banne Merlins oder Der Prophet und die Romantiker. In: Schlegel, Dorothea: Geschichte des Zauberers Merlin. Nachwort von Klaus Günzel. Köln: Diederichs, 1984 (= Diederichs Kabinett), S. 150 – 159.
  • Mertens, Volker: Artus. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. v. Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1984 (Kröners Taschenausgabe; Bd. 483).
  • O.A.: Merlin in der neueren deutschen Dichtung. In: Geoffrey von Monmouth: Vita Merlini (MCMLXXXV).
  • Vielhauer, Inge: „Einleitung in die Vita Merlini“, in: Geoffrey von Monmouth: Das Leben des Zauberers Merlin. Vita Merlini Erstmalig in der dt. Übers. mit anderen Überlieferungen. Hrsg. v. Inge Vielhauer. 4., unveränd. Aufl. Amsterdam: Castrum Peregrini Presse, MCMLXXXV, S. 25 – 41.