Inhalt

Patrick ist elf Jahre alt und belauscht heimlich seine Eltern. Er erfährt auf diese Weise, dass er einen Bruder bekommt. Aus dem leisen Gespräch der Eltern hört er heraus, dass mit dem ungeborenen Kind etwas nicht stimmt, es voraussichtlich an Trisomie leidet. Um zu verstehen, was die Behinderung für den Bruder, aber auch für ihn selbst bedeutet, vertraut sich Patrick höchst unterschiedlichen Menschen an. Zunächst spricht er mit seinem Freund Valentin, der ihn an Danijel aus der Klasse über ihnen verweist, der wiederum Patrick zu seinem Boxtrainer mitnimmt. Patrick sucht auch mit seiner Lehrerin, Frau Schlepper, das Gespräch und mit einer Gemüsefrau, von der Patrick glaubt, dass sie behindert ist. Als letztes spricht er mit einem etwas verwahrlost wirkenden Mann, den alle nur "den Professor" nennen. All diese unterschiedlichen Menschen tragen mit ihren Überlegungen dazu bei, dass Patrick immer weniger Ängste in Bezug auf sein ungeborenes Geschwisterchen hat. Als am Ende des Stückes Patricks Mutter ihm erzählt, dass er einen Bruder bekommt, der "nicht […] wie andere Kinder" (S. 26) sein werde, reagiert Patrick reif und entschlossen. Er hat seinen Bruder angenommen und will ihm helfen. Patricks Trick, sich intensiv mit einem möglicherweise behinderten Bruder auseinanderzusetzen und unterschiedliche Personen nach dem Anderssein um Rat zu fragen, hat funktioniert. Er freut sich darauf, ein großer Bruder zu werden, und sieht der Geburt gelassen entgegen.

Kritik

Das am 18. September 2014 am Theater der Jungen Welt in Leipzig uraufgeführte und mit mehreren Theaterpreisen ausgezeichnete Stück greift das Thema Behinderung auf und versucht so einen Beitrag für Inklusion zu leisten. Die Inszenierung in Augsburg 2018 wurde beispielsweise von der Aktion Mensch unterstützt. Die Thematik wird dabei sehr sensibel umgesetzt, auch weil die Perspektive des Kindes beachtet wird.

Patrick erfährt von der Behinderung seines Bruders, als er seine Eltern belauscht. Aufgrund dieser Heimlichkeit traut er sich nicht, seine Eltern anzusprechen. So wirkt titelgebend Patricks Trick, sich an andere Menschen seines Umfeldes zu wenden, realistisch und nachvollziehbar. Die Gespräche mit anderen helfen Patrick auf unterschiedliche Weise: Als sein Freund Valentin erfährt, dass Patricks Bruder womöglich nie sprechen lernt, schickt er ihn zu dem Mitschüler Danijel. Dieser stammt aus Kroatien und hat erst vor vier Jahren begonnen, Deutsch zu lernen. Auch wenn Danijel Patrick keine Tipps zum Sprechenlernen gibt, zeigt er Patrick doch auf, wie viele Menschen Probleme beim Erlernen der Sprache haben und dass Patrick mit solchen Problemen nicht allein dasteht. Auch die anderen Figuren helfen Patrick vor allem, indem sie dem Thema Behinderung die Schwere nehmen. Der Boxtrainer meint, dass man nur das Sprechen lernt, indem man viel zuhört. Patrick solle also viel mit seinem Bruder reden. Patricks Deutschlehrerin erklärt ihm, dass man nicht festlegen kann, wo Normalsein aufhört und eine Behinderung beginnt. Auch sie habe beispielsweise als Kind Schwierigkeiten gehabt, richtig zu schreiben. Die Lehrerin macht Patrick Mut:

Patrick, ich verrate dir ein Geheimnis. Wenn zwei sich begegnen, ist da immer Magie im Spiel. Egal, wie genau du mir beschreibst, was du denkst, ich werde es mir nie ganz genau vorstellen können. Und egal, wie genau ich dir beschreibe, was ich denke, du wirst nie wissen, wie sich das wirklich anfühlt in meinem Kopf. Aber das ist gar nicht schlimm. Denn Valentin ist dein Freund. Obwohl du nicht genau weißt, wie das in seinem Kopf ist. Und du liebst deine Eltern, obwohl du nicht weißt, was sie genau fühlen. Und bei deinem Bruder wird das ganz genauso sein. (S. 19)

Patrick kann die Worte seiner Lehrerin annehmen und befolgt ihren Rat, einmal mit einem Menschen zu sprechen, der behindert ist. Er macht sich auf den Weg zu der Gemüsehändlerin, die ihre Behinderung als unproblematisch ansieht: "Das ist ganz normal." Zuletzt zeigt der Besuch bei dem etwas verwahrlost wirkenden Mann, den alle den Professor nennen, auf, dass das Verstehen von Sprache gar nicht wesentlich sein muss. Alle Figuren machen Patrick somit Mut, sich seiner Aufgabe als großer Bruder eines behinderten Geschwisterkindes zu stellen.

Nicht nur die Thematik, sondern auch Form und Spielweise erweisen sich als höchst komplex. Die zwölf Figuren in dem Stück werden lediglich von zwei Schauspielerinnen oder Schauspieler verkörpert, die zunächst nur Patrick und seinen Bruder darstellen (vgl. Abbildung 1). Hier zeigt sich eine erste Besonderheit, denn in der Wirklichkeit des Theaterstücks ist Patricks Bruder ja noch gar nicht geboren. Diesen Widerspruch thematisiert Patrick im späteren Verlauf der Handlung selbst, wie die folgende Szene zeigt:

Sein Bruder: (liest vor) "Kinder mit Freier Trisomie 3 sind nicht lebensfähig und versterben in der Regel bereits im Verlauf der Schwangersch –" Ach, du Scheiße.
Patrick: Keine Sorge, das wird es nicht sein.
Sein Bruder: Ich will nicht sterben.
Patrick: Jetzt reg dich nicht a / (uf, wir werden) –
Sein Bruder: Ich will nicht sterben!
Sein Bruder: Was?
Patrick: Weil es dich gar nicht gibt.
Sein Bruder: Was?
Patrick: Du bist nur eine Stimme in meinem Kopf. Du bist nur da / (weil ich) – (S. 20)

Als der Bruder Patrick mehrfach boxt, gibt Patrick klein bei: "Also bist du wohl doch da." (S. 21) Letztlich verdeutlicht die so tatsächlich existierende Stimme in Patricks Kopf, dass sich Patrick intensiv damit beschäftigt, wie es sein könnte, einen behinderten Bruder zu haben.

Sagor PatricksTrick InszenierungAugsburgAbb. 2 Theater Augsburg PatricksTrick mit Christian Beppo Peters und Stefan Voglhuber

 

Der Auftritt des eigentlich noch ungeborenen Bruders lässt sich aber auch als ein Hinweis ansehen, dass Patricks Bruder tatsächlich geboren und leben wird. Ein zweites ungewöhnliches Merkmal von Patricks Trick ist, dass die beiden Schauspieler oder auch Schauspielerinnen zudem die anderen Figuren darstellen und sprechen lassen. So heißt es in der Regieanweisung:

Patrick und sein Bruder werden von zwei Schauspielern gespielt, die auch die anderen zehn Figuren spielen. Genauer gesagt: Die beiden Schauspieler spielen Patrick und seinen Bruder, die wiederum die anderen Figuren spielen. Es sind nur Figurenwechsel notiert. Steht vor einer Rede also keine Angabe, wer spricht, wird diese Rede von der zuletzt angegebenen Figur gesprochen. (S. 2)

Es müssen also durch Requisiten, aber auch Stimmlage und veränderter Mimik und Gestik den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern deutlich gemacht werden, wer gerade spricht. Oft spielt die Figur Patricks oder des Bruders mehrere Rollen in einem Redefluss. Dabei wird das Schlüpfen in andere Rollen immer wieder thematisiert und offengelegt, was als Verfremdungseffekt im Sinne Brechts anzusehen ist und auch Situationskomik evoziert. Fragen um die Themen Familie, Anderssein und Behinderung werden auf diese Weise aus verschiedenen Perspektiven erörtert. Ein Beispiel dafür ist die Frage, ob ein Bruder eine Bereicherung für Patrick ist:

Sein Bruder: Valentin hat einen, und er sagt, sein großer Bruder nervt.
Patrick: Aber das glaub ich ihm nicht.
Sein Bruder: (als Valentin) Doch, der nervt wirklich.
Patrick: Wie gesagt, glaub ich ihm nicht. Denn sein Mund lächelt, wenn er sich über seinen Bruder aufregt. Sein Bruder leiht sich Valentins Fahrrad ohne zu fragen, weil sein eigenes gerade nen Platten hat.
Sein Bruder: (als er selbst) Und weil der zu faul ist, das zu reparieren.
Patrick: Und Valentin ärgert sich nicht. Das heißt, er tut so, als würde er sich ärgern:
Sein Bruder: (als Valentin) Hey, der nervt total rum. (als er selbst) In Wirklichkeit ist er stolz. (S. 3)

Indem der Schauspieler nicht nur die Rolle Valentins übernimmt, sondern auch die von Patricks Bruders spielt, entlarvt er Valentins Äußerungen als unehrlich und zeigt auf, dass auch Valentin seinen Bruder liebt. So wird Patrick verdeutlicht, wie schön es ist, einen Bruder zu haben. Das bekräftigt auch Patricks Bruder selbst, als die möglicherweise ehrliche Stimme in seinem Kopf: "Ich wollte immer schon einen Bruder! Gut, eigentlich wollte ich immer einen großen Bruder." (S. 6) Dass Patrick sein großer Bruder ist, wird an dieser Stelle noch nicht gesagt. Denn Patrick muss erst bereit sein, die Rolle des großen Bruders anzunehmen.

Innerhalb des Theaterstückes wird immer wieder das Thema Sprache aufgegriffen, das eigentlich gar nicht so relevant innerhalb des Themenbereichs Behinderung ist. Fragen um das Erlernen und Verstehen von Sprache durchziehen viele Dialoge. "Das Ausgangsthema des Stückes war für mich: Sprache. […] Dann erst kam die Idee, dass die Behinderung des ungeborenen Bruders Ausgangspunkt für die Suchbewegung eines älteren Geschwisters sein könnte," so Kristo Šagor selbst. (vgl. http://www.theaterheute.de/blog/muelheimstuecke/kristo-sagor-uber-patricks-trick) Besonders beim Besuch des Professors wird die Bedeutung von Sprache und auch die Möglichkeit des Nicht-Verstehens herausgestellt. Patrick spricht mit dem Professor, der von seinem Bruder dargestellt wird:

Sein Bruder: (rezitiert) Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts.
Patrick: Schwarze Milch?
Sein Bruder: Ach, dafür bist du noch zu jung.
Patrick: Ich bin für gar nichts zu jung.
Sein Bruder: Ach, ich hätte gar nicht davon anfangen dürfen.
Patrick: Sie haben gesagt, Sie finden es gut, daß ich hier (imitiert Professor Milch) reingestiefelt bin, (imitiert ihn nicht mehr) und jetzt nehmen sie mich nicht ernst.
Sein Bruder: Das ist von einem Lyriker. Einem Mann, der Gedichte schreibt.
Patrick: Gedichte find ich nicht so toll.
Sein Bruder: Ja, aber der hat Wörter erfunden, die es gar nicht gibt. (S. 25)

Der Professor möchte Patrick Möglichkeiten der Sprache aufzeigen, die nicht immer verstanden werden muss: "Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts." (S. 25) Er zitiert hier aus Paul Celans Gedicht Todesfuge, was ein intertextueller Verweis ist, den Kinder nicht erkennen können. Diese Referenz zu deuten, erweist sich als schwierig. Zwar lassen sich sowohl Patricks Trick als auch Celans Gedicht auf das Thema Sprache und Mehrstimmigkeit beziehen. Die Todesfuge gilt vor allem als ein Gedicht, das sich mit der Shoa auseinandersetzt. Diese Thematik lässt sich aber nicht auf Patricks Fragen zu seinem behinderten Bruder zu beziehen. Die Intention der Figur des Professors, dass Patrick anhand von Celans Lyrik sein Verständnis von Sprache erweitert, hätte auch an passenderen Gedichten dargestellt werden können.

Zusammenfassend reift Patrick an allen Begegnungen, auch wenn die Aussage der Lehrerin für ihn besonders hilfreich gewesen ist. Patrick weiß jetzt, dass er sich seinem Freund Valentin anvertrauen kann. Er hat großen Mut bewiesen, als er Danijel, der von anderen Kindern gefürchtet wird, angesprochen hat. Jetzt ist dieser ein Freund geworden. Der Boxtrainer hat Patrick nicht nur die Bedeutung des Sprechens aufgezeigt, sondern ist sein neuer Sporttrainer. Und anhand der Begegnung mit der Gemüseverkäuferin lernt Patrick, dass eine Behinderung normal ist. Patrick hat jetzt keine Angst mehr vor einem Bruder, der Trisomie hat: "Ja, weiß ich, Mama, er wird behindert sein, eine Trisomie, er wird vielleicht nicht mal richtig sprechen lernen, ich habe euch belauscht, jede Nacht, wenn ihr darüber geflüstert habt, das ist nicht schlimm, Mama, ich habe einen Plan […]." (S. 26)

Nach dieser Rede verschwindet die Figur des Bruders. Patrick kann sich jetzt der neuen Herausforderung in seinem Leben stellen und braucht den fiktiven Bruder, die Stimme in seinem Kopf nicht mehr: "Ich wollte immer einen großen Bruder haben. Jetzt bin ich selbst einer." (S. 27)

Fazit

Kristo Šagor hat mit Patricks Trick nicht nur ein sehr erfolgreiches Theaterstück für Kinder ab neun Jahren geschrieben, dessen Thematik vor dem Hintergrund von Heterogenität und Inklusion überzeugt. Sein Stück lässt sich auch als Beleg anführen, dass dramatische Texte des Theaters für ein junges Publikum überaus komplex und vielschichtig sein können und großes schauspielerisches Können erfordern.

Literatur

Šagor, Kristo: Patricks Trick. Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb, 2013.

Abbildungen

Abb. 1 Kristo Šagor. Foto: Lucas Lentes

Abb. 2 Theater Ausburg Patricks Trick, Foto: Frauke Wichmann

Titel: Patricks Trick
Autor/-in:
  • Name: Šagor, Kristo
Uraufführung: 18.09.2014 Leipzig, Theater der jungen Welt
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2013
Verlag: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb
Altersempfehlung Redaktion: 9 Jahre
Šagor, Kristo: Patricks Trick