2 Explikat

Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht intendiert, dass der Leser gewissermaßen zum Co-Autor wird und das Gelesene durch Spielarten im Sinne einer postmodernen Didaktik zu reproduzieren und zu variieren vermag (vgl. Frizen 1996, S. 28). Wesentlich ist, dass auch die "situativ-affektiven Bedürfnisse junger Menschen berücksichtigt" (Haas 2011, S. 39) werden. Aus historischer Perspektive hat bereits der Dichter Novalis erste Anstöße für eine derartige Unterrichtsform geliefert, indem er im 18. Jahrhundert konstatiert hat, dass ein Leser seiner Meinung nach nur dann einen Text verstanden habe, wenn er im Geiste des Autors handeln könne, ohne dessen Individualität zu verringern (vgl. hier). Dies bedeutet, dass ein handlungsdominierender Schaffensprozess mit der Lektüre einhergeht. So soll auch die geistige Annäherung an den Text möglichst frei erfolgen. Damit geht eine Abkehr vom "normativ-statischen Dichtungsverständnis" (Haas 2011, S. 41) wie sie in der traditionellen Literaturdidaktik forciert wurde und wird, einher. Im Sinne des literarischen Lernens nach Spinner (2006, S. 6-16) ist die Unabschließbarkeit des Interpretationsprozesses zu akzeptieren und als gewinnbringend für die Reflexion literarischer Texte zu nutzen. Von besonderer Relevanz ist hierbei der Aspekt der 'Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses' eines Textes, zumal es auch Ziel eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts sein sollte, vielfältige Deutungshypothesen für einen Text zu entwickeln, ohne ihm "jede Rätselhaftigkeit zu nehmen, vielmehr geht es gerade um die Bereitschaft, sich in Verstehensprozesse verwickeln zu lassen, die kein bündiges Ergebnis versprechen und deshalb aspektreich sind" (Spinner 2006, S. 12). Wichtig bei einem solchen Verfahren ist zudem, dass Schul- und Freizeitlektüre miteinander in Einklang kommen. Die Schüler lassen sich durch einen persönlich-emotionalen Zugang besonders zum Lesen animieren. Dies eröffnet auch literarisch weniger bewanderten oder interessierten Schülern die Möglichkeit, sich in den Unterricht einzubringen, indem sie spielerisch und über Umwege zur Materie herangeführt werden. Anstatt einer bloß kognitiven Analyse sollen die Lernenden durch kreative Eigenproduktionen auf der Basis von Gedichten, Prosaformen und Dramen Funktion und Struktur der Texte erkennen und durchschauen. Insgesamt sind Handlungs- und Produktionsorientierung in den verschiedensten Phasen der Textrezeption als auch an den unterschiedlichsten Gattungen und Genres anwendbar, wie an den folgenden Konkretisierungen zu zeigen ist.

Handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit Gedichten

Im Rahmen von handlungs- und produktionsorientierten Verfahren bei Gedichten geht man von einer strikt problemorientierten Analyse weg. Schüler sollen lyrische Texte vor allem durch spielerische Erprobung des Inhalts verinnerlichen. Dies heißt einerseits, dass z.B. die Verse einer oder mehrerer Strophen eines Gedichts auf Papier gedruckt, zerschnitten und durcheinandergewürfelt werden. So können Schüler z.B. in Partnerarbeit die Reihenfolge erproben. Dabei ist es laut Haas (2011, S. 62) zentral, dass die Lehrkraft auch sinnvolle Varianten eines Gedichts würdigt, um das Selbstvertrauen der Schüler zu stärken und ihnen die Offenheit von lyrischen Texten vor Augen zu führen: "Sie entdecken dabei, dass es offenere und eher geschlossene lyrische Texte gibt, aber dass ganz selten letztlich nur eine einzige Lösung vertreten werden kann."  In einem nächsten Schritt können Lernende zur Einleitung der Produktionsorientierung auch eigene Überschriften finden. Darüber hinaus könnte man ihnen z.B. eine weitere Strophe des Gedichts vorlegen, in der einzelne Wörter, z.B. Reimwörter, fehlen. Diese sollen die Schüler dann sinngemäß ergänzen. Die Verse eines lyrischen Textes können auch in der Mitte geteilt und durcheinandergewürfelt werden. Durch Rekonstruktion der Logik lassen sich diese sinngemäß verbinden. Als Alternative kann die Lehrkraft auch mit zwei Gedichten gleichzeitig arbeiten, die kontrastive Themen erfassen: Die Verse beider Gedichte werden miteinander vermengt und Schüler erhalten die Aufgabe diese zu entwirren. So sind z.B. gegensätzliche Strömungen in einer Epoche zu erfassen. Schließlich kann die Lehrkraft den Schülern zur Evokation des Schaffensprozesses auch Wortgitter (Reizwörter mit festgelegter Reihenfolge) und semantische Kerne (Substantive mit Infinitiven) geben, damit diese daraus ein sinnvolles Gedicht erstellen. In diesem Kontext sind auch Fortsetzungsgedichte, Elfchen oder Akrosticha sinnvoll. Als Form der bildlichen Interpretation sind Text-Bild-Kollagen empfehlenswert, die lyrische Texte künstlerisch aufwerten und auch als Produkt ausgestellt werden können.

Handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit erzählerischen und dramatischen Texten

Auch die Besprechung von Lektüren und prosaischen Kurzformen sollte über das rein Analytische hinausgehen. Zur Motivationssteigerung gerade für einen handlungs- und produktionsorientierten Unterricht sollten sich Schüler an der Wahl der zu  lesenden Texte aktiv beteiligen und die Lehrkraft ihren Schülern Einblicke in das Narrativ der Texte gewähren. Dies kann durch das Vorstellen von Steckbriefen handlungstragender Figuren oder eigentümlicher Textpassagen  erfolgen. Zur bildlichen Interpretation der Handlung sind wie bei Gedichten auch Text-Bild-Collagen zielführend, durch die sich laut Haas (2011, S. 157f.) "Personen charakterisieren, Handlungs- oder Figurenkonstellationen verdeutlichen, Aussageinhalte veranschaulichen und bedeutsame Situationen akzentuieren lassen." Um einen adressatengerechten Rahmen herzustellen und damit die Relevanz von Literatur außerhalb der Hermeneutik zu forcieren, sind Buchbesprechungen oder Werbeplakate einsetzbar, die andere Schüler zum Lesen anleiten sollen. Zum produktiven Überprüfen von Textwissen können sich Schüler im Rahmen eines Quiz' auch gegenseitig Fragen stellen. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass literarische Texte bei Schülern dauerhaft ein Gefühl von Irritation hervorrufen, sollten Lernende Texte in sachlichere Formen, wie z.B. einen Zeitungsbericht, umschreiben. Zur Steigerung der subjektiven Involviertheit und der genauen Wahrnehmung (vgl. Spinner 2006, S. 8) können im  Rahmen einer handlungsorientierten Interpretation wie in antiken Deklamationen Figuren im Rahmen einer fiktiven Gerichtsverhandlung angeklagt oder verteidigt werden. Zentrale Motive eines Texten lassen sich auch dadurch kreativ erarbeiten, indem Schüler zu Texten Paralleltexte, wie z.B. durch Perspektivwechsel aus Sicht einer anderen Person, produzieren. Dies soll Heranwachsende auch dazu anleiten, sich konkrete Vorstellungen von fiktiven Situationen, die auch sagenhaften Ursprungs sein können, zu machen, "sodass die Kenntnisse der Schüler in Bezug auf den Sekundärkode Mythologie und kulturelles Kontextwissen erweitert [werden]" (vgl. Stierstorfer 2015, S. 63). In diesem Zusammenhang ist auch die Erstellung von Gegentexten möglich, welche zentrale Handlungsmomente, wie z.B. den Schluss eines Textes, verändern oder parodieren. Eine dritte Möglichkeit in diesem Zusammenhang sind Zwischentexte, die komplexe Handlungsstrukturen nochmals zusammenfassen und ggf. kommentieren. Um eine produktiv-kreative Immersion des Rezipienten in einen Text zu ermöglichen, können Schüler zusätzliche Äußerungen von Personen über einen Protagonisten erfinden. Konkrete Beispiele hierfür wären Briefe oder Tagebucheinträge. Zur facettenreichen Charakterisierung von Figuren können Lernende auch Steckbriefe und Fragebögen (z.B. Prousts Fragebogen) erarbeiten. Damit Schüler eine komplexe Handlungslogik von Schülern hierarchisch nach Wichtigkeit und chronologisch bzw. dramaturgisch nachvollziehen können (vgl. Spinner 2006, S. 10), sind graphisch-bildliche Darstellungen geeignet. Bei einer größeren, schwer zu überschaubaren Zahl an Figuren kann ein Personenverzeichnis einen sinnvollen Überblick über die Protagonisten und Antagonisten verschaffen, das auch begleitend zur Lektüre erstellt werden kann. Als aufwändigere, interdisziplinäre Projekte wären schließlich auch musikalische Vertonungen des Inhalts eines Textes oder die Produktion von Hörspiel- bzw. (Kurz-)Filmfassungen möglich. Nicht nur, aber besonders für Dramen bieten sich zusätzlich Standbilder, Klangteppiche oder Beziehungsstatuen (Zabka 2015, S. 38) an, um "versinnbildlichend Machtverhältnisse, Konflikte, Handlungsweisen" zu illustrieren.

Chancen und Grenzen Handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts

Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht bietet eine immense Vielfalt an unterschiedlichen Methoden zur kreativen Interpretation von Texten und zur Schaffung diverser Zugangsweisen. Die Lehrkraft darf dabei jedoch nicht die Zielführung aus den Augen verlieren und muss zugleich entscheiden, welche Methode für welche Jahrgangsstufe und welche Vorlieben einer Klasse bzw. einzelner Schüler angemessen und sinnvoll sind. Zugleich darf nicht Methodik um der Methodik willen stattfinden, sondern die jeweilige handlungs- und produktionsorientierte Form der Texterschließung sollte immer auf eine Subkompetenz literarischen Lernens und auf die Inhalte des Lehrplans bzw. der Bildungsstandards abgestimmt sein. Die Einführung der Schüler in derartige Methoden kostet anfangs zwar mehr Zeit, die an weiterführenden Schulen mit Fachlehrerprinzip stets Mangelware ist. Wenn aber eine Methode, wie z.B. das Inszenieren von Standbildern mit Klangteppich, kontinuierlich eingeübt wurde, lässt sich diese auf andere Texte übertragen, sodass bestenfalls ein handlungs- und produktionsorientiertes Methodencurriculum entsteht, das systematisch über mehrere Jahrgangsstufen hinweg aufgebaut wird und wovon sowohl Schüler als auch Lehrer immens profitieren. 

Literaturverzeichnis

  • Frizen, Werner: Patrick Süskinds 'postmoderne' Didaktik. In: Der Deutschunterricht, Heft 3 (1996), S. 26-31.
  • Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. Theorie und Praxis eines "anderen" Literaturunterrichts für die Primar- und Sekundarstufe, Klett/Kallmeyer: Seelze 92011.
  • Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierteVerfahren im Literaturunterricht. In: Kämper van den Boogaart, Michael (Hg.): Deutsch-Didaktik – Leitfaden für die Sekundarstufe I und II, Cornelsen: Berlin 2003, S. 175 – 190.
  • Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen (Basisartikel). In: Praxis Deutsch, Heft 200 (2006), S. 6-16.
  • Stierstorfer, Michael: Literarisches Lernen mit postmodernen Sagenadaptionen. Dimiter Inkiows Mythenbearbeitungen im Deutschunterricht der Grundschule. In: Literatur im Unterricht, Heft 1 (2015), S. 53-76.
  • Zabka, Thomas: Fausts Paradies – die Höhle? Szenische Interpretation und Wertung der Sozialutopie. In: Praxis Deutsch, Heft 250 (2015), S. 36-42.

Internet

http://novalis.autorenverzeichnis.de/vermischte_bemerkungen/vb_029.html [Frank Fischer, Literaturserver am Bodensee (LIAS)] (zuletzt abgerufen am 18.08.18)

Fußnoten

1 Der Begriff 'Schüler' wird hier und im Folgenden geschlechtsneutral verwendet.