Fachlicher Hintergrund
Das Neue des in den 1990ern erstarkenden Intermedialitätsparadigmas besteht einmal darin, dass sich eine lediglich intramediale bzw. intertextuelle Perspektive auf medienübergreifende Phänomene ausdehnt (vgl. zur Unterscheidung von Intermedialität und Intertextualität Robert 2014, S. 20; Maiwald 2019, S. 377; ebenso Kurwinkel 2012). Zudem rücken neben Werken der klassischen Hochkultur auch neuere Künste und mediale Produkte der Populärkultur mit in den Blick (vgl. Wolf 2014, S. 11).
Die Bestimmung intermedialer Phänomene hängt vom zugrunde gelegten Medienbegriff und von der wissenschaftlichen Perspektive ab:
- Eine medienwissenschaftliche Ausrichtung mit weitem Medienbegriff zeichnet übergreifende Medienentwicklungen nach (z. B. von der Fotografie zum Film) (z. B. J. Müller 2008, 2014).
- In einer medienanthropologischen Perspektive erscheint Intermedialität als Gegebenheit menschlichen Medienhandelns (z. B. McLuhan 1962, Schneider 2008, Roloff 2008).
- Das Augenmerk der philologischen Forschung richtet sich auf Bezüge zwischen konkreten Texten. In einem erweiterten philologischen Verständnis ist Intermedialität "jedes Überschreiten von Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien" (Wolf 2008, S. 327). Eine enger verstandene "literaturbezogene Intermedialität" (Rajewsky 2019) hingegen fokussiert die Einbeziehung anderer Medien im literarischen (Schrift-)Text.
In philologischer Perspektive werden als Erscheinungsformen von Intermedialität gemeinhin die Medienkombination, der Medienwechsel und die intermedialen Bezüge (zwischen Texten) differenziert (vgl. z. B. Wolf 2008, 2019; Rajewsky 2002, 2019; ebenso Schmerheim 2012).
Bezüge zwischen Intermedialität und Literaturdidaktik
Die Entwicklung von Multimedia, Hypertext und Internet erzeugt bereits in den 1990ern einen Diskurs über digitales Lehren und Lernen (vgl. Issing/Klimsa 1995) sowie über sprachliches und literarisches Lernen in der Medienkultur. Wegweisend wird Jutta Wermkes Konzeption einer Integrierte[n] Medienerziehung im Fachunterricht. Schwerpunkt Deutsch von 1997. Sie konstatiert veränderte "Leitmedien und Intermedialität", spricht von intermedialen Phänomenen wie filmischem Schreiben, von einem breiten Spektrum medialer Texte (z.B. Musikvideos, Actionfilme) sowie von einer (auch) intermedialen Medienkompetenz (ebd., S. 45, 37, 133). Daran anschließend werden in der Literatur- bzw. Mediendidaktik neue Gegenstände (z. B. hyperfiction, Graphic Novels, Computerspiele) erschlossen, medienbezogene literarische Praktiken (z. B. Schreiben und Chatten im Netz) erprobt und medienübergreifende Kompetenzen (z. B. Narrationskompetenz) modelliert. "Mediendidaktik Deutsch" wird zu einer eigenständigen Säule der Deutschdidaktik (vgl. Barsch 2006; Frederking/Krommer/Maiwald 2008, 3. Aufl. 2018).
In einer "Mediatisierung von Literatur" (Josting 2017, S. 238) werden literarische Stoffe immer weniger in schriftsprachlicher Monomedialität und immer mehr in intermedialen Verflechtungen produziert und rezipiert (vgl. Staiger 2007, S. 250-254). Von daher wären Literaturdidaktik und Literaturunterricht bereits dann schon intermedial, wenn sie lediglich die Grenze schriftlicher Texte überschreiten. Klarere literaturdidaktische Konturen lassen sich aus den genannten theoretischen Konzeptualisierungen von Intermedialität ableiten:
Mediengeschichtlich und -wissenschaftlich fundiert ist die Konzeption eines symmedialen Literaturunterrichts (vgl. zusammenfassend Frederking 2014), in dem ein Zusammenspiel aller möglichen Medien bzw. medialen Formen sowohl auf der Ebene der Texte als auch des Textumgangs erfolgt. In den Blick rücken aber auch Phänomene des Medienverbunds und der Medienkonvergenz, insbesondere im aktuellen Handlungssystem der Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Kümmerling-Meibauer 2007, Josting/Maiwald 2007, Josting 2014, Kruse 2014a; vgl. zum Medienverbund auch Kurwinkel 2013).
Anthropologische Intermedialitätskonzepte lenken den didaktischen Blick auf eine zusehends konvergente Medienpraxis, auf die Verschmelzung von Nutzung und Produktion beim Medien-'Produser', auf die Durchdringung von Medien und Alltagsleben, auf neue Formen medialer Selbstinszenierung und Selbstdefinition (vgl. Marci-Boehncke 2008; Barsch 2011, S. 45; Möbius 2014).
Intermedialität als philologische Kategorie wiederum führt didaktisch zu einer Erschließung intermedialer Formen in und zwischen literarischen Texten. Dies lässt sich weiter auffächern:
Einmal sind intermediale Bezüge in Texten zu verfolgen. Zu denken wäre etwa an filmische Motive und Darstellungsmodi in Kafkas Roman Der Verschollene (veröffentlicht unter dem Titel Amerika 1927) (vgl. Robert 2014, S. 133–149); aber auch an Referenzen auf Musik, Computerspiele und Filme sowie auf filmische Schreibweise und Roadmovie-Qualitäten in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick (2010) (vgl. Maiwald 2016, S. 11-12).
Wenn Literatur in verschiedenen medialen Trägerformen auftritt, stellen sich Fragen des Medienwechsels bzw. der intermedialen Transposition: Was sind genuine Qualitäten mündlicher, schriftlicher und audiovisueller Literatur? Was geschieht bei der Übersetzung eines Romans in ein Hörbuch, in einen Film, in ein Computerspiel? (Vgl. für die kategoriale Mediendifferenz zwischen Lese- und Hörtexten Müller, K. 2012, S. 17, 43; auch Wicke 2016; für die mediale Differenz zwischen Spielfilm und Roman z. B. Maiwald 2015, S. 20).
Intermedial wäre der Umgang mit Literatur auch dann, wenn er Medienkombinationen bzw. plurimediale Texte in den Blick nimmt. In Romanen wie Emil und die Detektive (Kästner 1929) oder Rico, Oskar und die Tieferschatten (Steinhöfel 2008) beispielsweise ist der schriftliche Text in seinem Sinnzusammenhang mit den Illustrationen zu lesen. Bilderbücher, Comics und Graphic Novels kombinieren Bild und Schrift; Theateraufführungen und Filme verbinden Verbalsprache, verkörperte Handlung, Objekte und Requisiten in einem Handlungsraum, Licht und Geräusche.
Zwei explizit intermediale didaktische Konzeptionen
Blicken wir auf zwei Konzeptionen, die sich explizit auf das Intermedialitätsparadigma stützen und zugleich dessen literaturdidaktische Spannweite markieren:
Einen intermedialen Literaturunterricht "an den Rändern der Künste" hat Marion Bönnighausen (2008, S. 67; zusammenfassend 2013) ausgearbeitet. Im Zentrum steht die Frage nach der spezifischen Medialität verschiedener Kunstformen; relevant werden dabei sowohl ein engerer Begriff von Intermedialität als Kombination distinkter Medien als auch die erweiterte Sicht eines konzeptionellen und historisch bedingten Miteinanders von Medien (vgl. Bönnighausen 2013, S. 524-529).
Ein ergiebiger intermedialer Gegenstand ist das postdramatische Gegenwartstheater (vgl. Bönnighausen 2004), wie es sich z. B. in Elfriede Jelineks Wolken.Heim (1988) oder in Igor Bauersimas norway.today (2000) zeigt. Schülerinnen und Schüler können daran "Wissen über spezifische Medialität der einzelnen Künste erwerben" (Bönnighausen 2006, S. 200), Automatismen unreflektierter Wahrnehmung unterbrechen und Orientierung auf der Suche nach Authentizität in einer mediatisierten Gesellschaft gewinnen Für jüngere Lernende eignet sich der Medienverbund um Yvan Pommaux' Comic über den Detektiv John Chatterton (1993) (vgl. Bönnighausen 2008, S. 56). Für kritische Nachfragen – zur begrenzten Reichweite, zum erhöhten Anspruch und zur eher vagen Operationalisierung – eines solch intermedialen Konzepts vgl. Maiwald (2019, S. 387f.).
Das Konzept intermedialer Lektüre(n) (IML) von Iris Kruse (2011, 2014b, 2019) geht davon aus, dass "insbesondere Kinder- und Jugendliteratur [zusehends] im Medienverbund existiert und in anderen Medien als dem Buch rezipiert wird" (Kruse 2011, S. 200). Hierauf antwortet die IML als ein unterrichtliches Setting für die Primarstufe, "bei dem durch einen Wechsel zwischen Vorlesen des Buchtextes, Vorspielen des Hörspiels und Vorführen des Films die literarische Geschichte (der intermediale Text)" präsentiert wird (ebd., S. 203). Wesentlich ist, dass die Buch-, Hörspiel- und Filmrezeption nicht additiv, sondern integrativ erfolgt. In diesem Arrangement sollen gleichwohl ein kohärenter Gesamttext und Mediendifferenzen erfahrbar werden.
Auch hier geht es, aber gerade für bildungs- und literaturferne Schülerinnen und Schüler, um Erweiterungen bestehender Wahrnehmungs- und Erfahrungsschemata. Die inhaltsanalytische Auswertung von Rezeptionsdokumenten gibt Aufschlüsse über die "lernförderliche Bedeutsamkeit angeleiteter Medienverbundrezeption" (Kruse 2014b, S. 195) in drei Bereichen: 1) Literarische Rezeptionskompetenz als medienübergreifende Fähigkeiten der Erschließung und Deutung des narrativen Situationsmodells, 2) Medienspezifische Rezeptionskompetenz für genuine darstellungsästhetische Mittel der einzelnen Medien, 3) Intermediale Rezeptionskompetenz in der vergleichenden Zusammenschau der verschiedenen Medien (vgl. Kruse 2011, S. 204f.). So wird in der IML "Intermedialität vom kulturwissenschaftlichen Modewort zum literaturdidaktischen Praxisbegriff" (Kruse 2011, S. 208). Für auch von Kruse selbst thematisierte Grenzen, offene Fragen und weitergehende Perspektiven des Konzepts vgl. Maiwald (2019, S. 391).
An den Grenzen der Literatur und des Literaturunterrichts
Man kann im Umgang mit einem Roman wie Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008) nach intermedialen Referenzen auf andere Texte, nach dem Zusammenspiel von Schrift und Illustration in der Medienkombination oder nach Modalitäten des Medienwechsels zum Film zu fragen (vgl. Maiwald 2018). Dies wäre ein intermedial sinnvoll erweiterter Literaturunterricht. Medienverbund- und Medienkonvergenzphänomene legen es hingegen nahe, literaturdidaktisches Handeln nicht mehr nur am Umgang mit Texten anzusetzen als vielmehr in den (inter-)medialen Praktiken von Kindern und Jugendlichen. Dies würde den Literaturunterricht grundlegend verändern. Denn in den Vordergrund rückte dann die Frage, auf welche Art und Weise Kinder und Jugendliche in und mit Medien ihre Unterhaltungsbedürfnisse bedienen, ihnen wichtige biographische Themen bearbeiten, Identität(en) inszenieren und konstruieren (vgl. Möbius 2014).
Literaturverzeichnis
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