Explikat

Intertextualität umschreibt "das, was sich zwischen Texten abspielt" (Broich/Pfister 1985, S. IX). Dass im Besonderen ein literarischer Text nicht in einem Vakuum existiert, ist bereits der klassischen Rhetorik bekannt: Begriffe wie Quelle und Einfluss, Zitat und Anspielung, Parodie und Travestie, Imitation, Übersetzung – und die Adaption – entstammen diesem Kontext und beschreiben, erklären oder systematisieren die Relationen zwischen Texten.

Grundsätzlich können zunächst zwei Kategorien von Intertextualitätstheorien unterschieden werden: Die eine geht von einem weitgefassten Intertextualitätsbegriff, von einer "radikalen Entgrenzung und Metaphorisierung des Textbegriffs und folglich einer Entgrenzung" (Rajewsky 2002, S. 48) des Begriffs aus, die andere versteht Intertextualität als deskriptives Hyperonym für Bezugsformen von Texten in Abgrenzung zu den "epistemologischen, sprachphilosophischen und texttheoretischen Implikationen" (Pfister 1985, S. 15) der poststrukturalistischen oder dekonstruktivistischen Kategorie.

Die Theorien, welche zu der ersten Kategorie gehören, lassen sich auf die Arbeiten des russischen Sprach- und Literaturtheoretikers Michail Bachtin zurückführen. Bachtin zufolge, der die Theorie der Dialogizität während der russischen Kulturrevolution der zwanziger Jahre entwickelt, sei jede Äußerung "filled with dialogic overtones", "with echoes and reverberations of other utterances" (Bachtin 2004, S. 91f.) und somit untrennbar mit Dialog und Zitat verbunden. Da Sprache ein soziales Medium ist, seien die Wörter, die wir nutzen, bereits angereichert mit den Intentionen und Akzenten anderer Sprecher.

Äußerungen beziehen ihre Bedeutung nur aus der "dialogisch erregte[n] und gespannte[n] Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente", mit welchen sie in "komplexen Wechselbeziehungen" (Bachtin 1979, S. 169) stehen. Sprache ist so durch Heteroglossie gekennzeichnet, der Konfiguration ständig konkurrierender sozialer, generischer und berufsspezifischer Sprachen, welche die Zusammensetzung jeder Einzelsprache zu einem beliebigen Zeitpunkt bestimmen.

Diese und ähnliche Überlegungen greift Julia Kristeva in den späten sechziger Jahren auf, um damit die dialogische Relation aller Texte untereinander zu beschreiben. Laut Kristeva sei jeder Text "comme mosaïque de citations" konstruiert, sei jeder Text "absorption et transformation d'un autre texte" (Kristeva 1969, S. 146). Diese (totale) Ausweitung des Textbegriffs bedeutet, dass kein Text mehr nicht intertextuell ist, dass Intertextualität kein besonderes Merkmal bestimmter Texte oder Textgattungen darstellt, sondern mit der Textualität gegeben ist. Julia Kristeva geht dabei so weit, die Intentionalität eines Verfassers völlig zu marginalisieren, indem der Dialog von intendierten Sprechern durch den Dialog von Texten ersetzt wird: "A la place de la notion d'intersubjectivité s'installe celle d'intertextualité, et le langue poétique se lit, au moins, comme double." (Kristeva 1969, S. 146)

Den Vertretern dieser universell-ontologischen Kategorie wird zwar eine progressive Grundhaltung attestiert, sie werden jedoch als Befürworter eines Intertextualitätsbegriffs ausgewiesen, dessen Beliebigkeit letztlich Grundlage seines Erfolges in der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Debatte sei. Andererseits sei nur dieser Intertextualitätsbegriff fähig, "der Dynamik von Zeichenprozessen und der (subjektlosen) Produktivität von Texten Rechnung zu tragen" (Rajewsky 2002, S. 49).

Dem Oberbegriff für "jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen" (Pfister 1985, S. 15) entspricht die zweite Kategorie der Intertextualitätstheorien – auf welche die meisten der detaillierteren Studien zur Intertextualität basieren. Intertextuelle Bezüge werden hier als "konkrete, fakultative Verfahren der Bedeutungskonstitution eines Textes in Relation zu einem oder mehreren Prätexten betrachtet" (Pfister 1985, S. 15).

Damit hat das Konzept eine analytische Aussagekraft und einen heuristischen, operativen Wert für die Analyse von Texten, denn bei der Ausweitung des Textbegriffs auf "jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur" im Sinne eines universalen "texte général" (Pfister 1985, S. 7) führt die 'Eigenschaft' der Intertextualität, die hier jedem Text zugeschrieben wird, zu einer faktischen Nicht-Analysierbarkeit.

Die Vertreter dieser spezifisch-deskriptiven Kategorie werden als "conventional literary scholars" (Plett 1991, S. 4) , ihre Arbeit "als mit dem modischen Deckmantel des neuen Begriffs behängt[e] traditionell[e] Einflussforschung" (Eicher 1993, S. 28) beschrieben, dennoch wird diesem Intertextualitätskonzept im Sinne eines methodologischen und terminologischen Instrumentariums bescheinigt, den neuen Ansatz praktikabel gemacht zu haben.

In Abgrenzung zu einer Textreferenz, die den Bezug eines Textes auf einen oder mehrere konkrete Einzeltexte beschreibt, bezieht sich der Terminus der Systemreferenz auf die Bezugnahme eines Textes auf ein semiotisches System. Hierunter fallen z. B. bestimmte Genres oder Textsorten. Abgesehen von Bezugnahmen eines Textes auf die "Konventionen literarischer Gattungen, auf Mythen, philosophische oder rhetorische Systeme" (Broich 1985, S. 48) kann ein Text auch auf eine Stilrichtung in der bildenden Kunst referieren.

Als Begriffsinstrumentarium dienen in der Forschung verschiedene Termini, die in unterschiedlichen wissen-schaftlichen Ansätzen das Verhältnis der textlichen Bezugnahmen charakterisieren: So wird der Text, der einen anderen Text referiert, als Posttext, Phänotext oder Hypertext bezeichnet. Der Text, auf den letzterer Bezug nimmt, wird hingegen Prätext, Genotext oder Hypotext genannt.

Einen Artikel zur Intertextualität in der Kinder- und Jugendliteratur lesen Sie hier.


Bibliografie

  • Aczel, Richard: Intertextualität und Intertextualitätstheorien. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 330-332.
  • Bachtin, Michael M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Georg Grübel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.
  • Bachtin, Michael M.: Speech Genres and Other Late Essays. Hrsg. von Caryl Emerson. 9. Auflage. Austin: University of Texas Press, 2004 (= University of Texas Press Slavic Series; 8).
  • Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35). S. 48-52.
  • Broich, Ulrich und Manfred Pfister: Vorwort. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35). S. IX-XII:IX.
  • Eicher, Thomas: Erzählte Visualität. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Hermann Brochs Romantrilogie "Die Schlafwandler". Bochumsche Diss. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993 (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; 37).
  • Hess-Lüttich, Ernest W.B.: Intertextualität und Medienvergleich. In: Text Transfers: Probleme intermedialer Übersetzung. Hrsg. von Ernest W. B. Hess-Lüttich. Münster: Nodus, 1987. S. 9-20.
  • Kristeva, Julia: Sémeiotiké. Recherches pour une sémanalyse. Paris: Editions du Seuil, 1969.
  • Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35). S. 1-31.
  • Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35). S. 52-58.
  • Plett, Heinrich F.: "Intertextualities". In: Intertextuality. Hrsg. von Heinrich F. Plett. Berlin: de Gruyter, 1991 (= Research in Text Theory; 15). S. 3-29.
  • Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen: Francke, 2002 (= UTB für Wissenschaft; 2261).