Explikat

Rassismus ist bis heute nicht konsensual definiert. Gemäß der Minimaldefinition aus dem Duden handelt es sich um eine „[m]eist ideologischen Charakter tragende, zur Rechtfertigung von Rassendiskriminierung, Kolonialismus o. Ä. entwickelte Lehre, Theorie, nach der Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen oder ethnisch-kulturellen Merkmalen anderen von Natur aus über- bzw. unterlegen sein sollen.“ (Duden) Aus dieser Definition geht hervor, dass Rassismus sich auf vermeintlich natürliche Unterschiede zwischen Menschen beruft, um darauf aufbauend diskriminierende Handlungen, Sprechweisen und gesellschaftliche Strukturen zu rechtfertigen. So wurden auf Basis phänotypischer Eigenschaften, etwa der Physiognomie oder der Hautfarbe, Aussagen über Charaktereigenschaften von Menschen getroffen, deren kulturelle Entwicklung bewertet und damit Deklassierungen und Ausgrenzungen legitimiert (vgl. Kissling 2020, S. 9).

Bis heute wirken derartige Sichtweisen nach und bedingen dadurch rassistische Diskriminierungen. Die UN-Antirassismuskonvention von 1965 definiert rassistische Diskriminierung als „jede auf der ‚Rasse‘*, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschliessung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Geniessen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ (UNO 1965) Auch aus dieser Definition geht hervor, dass rassistisch motivierte Ausgrenzungen oder Benachteiligungen Machtstrukturen aufbauen, die durch die empirisch falsche Lehre der evolutionär unterschiedlichen Entwicklungsstände von Menschen bestehen. Dabei geht es nicht nur um rechtsextreme Gewalt oder explizite Herabwürdigungen, sondern auch um alltagsrassistische Sichtweisen, gesellschaftliche Strukturen oder Verhaltensweisen. Simon und Fereidooni (2021, S. 3-4) halten vor diesem Hintergrund fest, dass insbesondere westliche Gesellschaften durch ein starkes Machtgefälle strukturiert sind. Entsprechend werde beispielsweise in der europäischen Betrachtung das Eigene als selbstverständlich überlegen gesetzt, wobei eine Abgrenzung zum Anderen, Abweichenden und als unterlegen Markierten (othering) erfolge. Für die von Rassismus Betroffenen wirken sich die alltäglichen Ausgrenzungen, Herabwürdigungen und die Markierung als anders Mecheril (2007, S. 3) zufolge als kontinuierliche Stressfaktoren aus, die im Kindesalter beginnen und sich das ganze Leben weiter durchziehen. Sie werden immer wieder darauf zurückgeworfen, nicht zur heteronormativen Gruppe zu gehören und werden auch diskursiv marginalisiert.

Fereidooni und Simon (2021) arbeiten heraus, dass eine Reflexion des eigenen Standpunktes (Standpunktreflexion, S. 6-7) erfolgen müsse, um soziale Machtgefüge sichtbar zu machen. Da auch das Schulsystem und der Klassenraum keine machtfreien Räume seien, sei insbesondere für Lehrkräfte eine standpunktreflexive Handlungsweise zentral. Spivak (1996, S. 4) betont, dass Rassismuskritik dazu beitragen müsse, illegitime Privilegien zu markieren und damit deren Abbau zu ermöglichen. So führt sie aus, es müsse zu einem „unlearning“, also einem Verlernen (ebd., S. 4) in Bezug auf Privilegien und Machtstrukturen kommen. Die als selbstverständlich erachteten Privilegien müssten also hinterfragt und dadurch dekonstruierbar gemacht werden.

Auch in Filmen, in Literatur, Hörspielen oder in der Werbung sind rassistische Implikationen zu beklagen. So ist bis heute zu bemerken, dass in Literatur und Medien *weiße Figuren die Mehrheit darstellen und BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) sehr selten in zentralen Rollen vertreten sind. Darüber hinaus arbeitet Rösch heraus, dass BIPoC-Figuren wenn, dann oftmals als inferior gesetzt bzw. konstruiert werden (vgl. Rösch 2000: 31f.). Darüber hinaus werden zum Teil direkt rassistische Stereotypen aufgerufen oder es wird ein Weltbild entworfen, das die westliche Kultur als dominant setzt. Aufgrund der Tatsache, dass literarische und medial erzählte Geschichten fiktionale Weltentwürfe ausgestalten, die nicht notwendigerweise mit der außerdiegetischen Realität gleichzusetzen sind, bieten sich Möglichkeiten, zur Reflexion bestehender gesellschaftlicher Normen und Wertungen in ihrem Konstruktcharakter einzuladen.

Besonderheiten des Gegenstandes im Kontext von KJM

Becker (2024, S. 19–21) trägt vier Möglichkeiten für die Literaturdidaktik zusammen, rassismussensibel zu wirken: Erstens durch exemplarische rassismuskritische Analysen, zweitens durch Hinweise zur Literaturauswahl, drittens durch Konzepte für rassismussensible Lehr-Lern-Arrangements und viertens durch Überlegungen dazu, wie Schüler:innen zur kritischen Reflexion rassistischer Inhalte gebracht werden können (vgl. Becker 2024: 19–21).

Die Reflexion von Machtstrukturen und die damit einhergehende rassismuskritische Analyse ist schon in Bezug auf die Textauswahl im Literaturunterricht zentral, insofern wirken die von Becker zusammengetragenen Möglichkeiten oftmals zusammen. Kißling (2020, S. 348) stellt heraus, dass Literatur entweder machtaffimierend oder machtkritisch sein kann. Beispielsweise kann Literatur aufgrund des Figureninventars und in Bezug auf Identifikationsfiguren bereits Gruppen sichtbar bzw. unsichtbar machen. Auch die Fokalisierung kann eine dominant westliche oder eine multiperspektivische Sicht ausgestalten. Zudem ist auch in Medien wie zum Beispiel Hörspielen, Filmen, narrativen Computerspielen oder Podcasts zu bemerken, dass hier durch implizite Wertungen, Figurenkonstrukte, Sprachverwendung und auch die Art und Weise der Darstellung rassistische Stereotype impliziert und Marginalisierungen verstärkt werden können. Dementsprechend sei es zentral, dass Lehrkräfte derartige auch implizit eingeschriebene Machtaffirmationen oder -subversionen bei der Textauswahl bereits erkennen.

Für die Literatur- und Mediendidaktik stellt sich die Herausforderung, zu hinterfragen, wie mit machtaffirmierenden Gegenständen umzugehen ist. In der aktuellen didaktischen Forschung zeichnen sich aber viele Positionen ab, die gerade die Möglichkeit der kritischen Reflexion problematischer Elemente hervorheben (vgl. dazu Kißling/Tönsing 2024; Becker 2024; Bernhardt 2024). Literaturunterricht kann helfen, rassistische Strukturen sichtbar zu machen, und dadurch zum Verlernen beitragen. Wichtig ist allerdings, keinen politisch überwältigenden Literaturunterricht zu konzipieren, sondern in erster Linie ästhetische Wahrnehmungen zu ermöglichen. Mit diesen unterschiedlichen Facetten kann Literatur- und Medienunterricht dazu beitragen, dominanzkritische Reflexionen anzustellen. Das setzt auf Seiten der Lehrkraft eine hohe Sensibilität voraus und muss auch methodisch mit einer stark diskriminierungsreflexiven Form des Unterrichtens einhergehen.  

Literaturangaben

Becker, Karina: Grundlagen eines rassismussensiblen Literaturunterrichts. In: Rassismussensibler Literaturunterricht. Grundlagen, Dimensionen, Herausforderungen, Möglichkeiten. Hrsg. von dies. und Michael Hofmann. Würzburg: Könighausen und Neumann, 2023. S. 1–22.

Bernhardt, Sebastian: Auditive Serialität als Möglichkeit zur Dekonstruktion machtaffirmierender Strukturenim Literaturunterricht ab Klasse 4. In: Einfach aussortieren? Anregungen für kritische Lektüren des Literaturkanons. Hrsg. von Magdalena Kißling und Johanna Tönsing. Berlin: Frank & Timme, 2024a. (= Literatur – Medien – Didaktik; 10). S. 271–289. (Online unter https://www.frank-timme.de/de/programm/produkt/einfach_aussortieren-anregungen_fuer_kritische_lektueren_des_literaturkanons?file=/site/assets/files/6935/9783732988303.pdf.)

Dudenredaktion. Rassismus. In: Duden online. Deutsches Universalwörterbuch. https://www.duden.de/rechtschreibung/Rassismus (letzter Aufruf: 18.07.2024).

Fereidooni, Karim und Nina Simon: Rassismus(kritik) und Fachdidaktiken – (K)ein Zusammenhang? – Einleitende Gedanken. In: Rassismus – kritische Fachdidaktiken, Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung. Hrsg. von dies. Wiesbaden: Springer, 2021. S. 1–9.

Kißling, Magdalena: Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik, Bielefeld: Aisthesis, 2020.

Kißling, Magdalena/Tönsing, Johanna: Cancel Culture – Eine literaturdidaktische Silhouettierung .In: Einfach aussortieren? Anregungen für kritische Lektüren des Literaturkanons. Hrsg. von Magdalena Kißling und Johanna Tönsing. Berlin: Frank & Timme, 2024a. Band 4 der Reihe Literatur - Medien - Didaktik, hrsg. von Sebastian Bernhardt. S. 21–49.

Mecheril, Paul: Die Normalität des Rassismus. In: Überblick 13 (2007/2), S. 3–9.

Rösch, Heidi: Jim Knopf ist nicht schwarz. Anti-/Rassismus in der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik, Baltmannsweiler: Schneider, 2000.

Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung, 21. Dezember 1965 (Inkrafttreten: 4. Januar 1969), Abrufbar unter https://www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/rechtsquellen-instrumente/uno/cerd/ (letzter Aufruf: 18.07.2024).

Spivak, Gayatri C.: The Spivak Reader. (Herausgegeben von D. Landry & G. Maclean). New York/London: Routledge, 1996.