1. Biographie
Antonia Michaelis wurde am 27.04.1979 in Kiel geboren. Zwei Jahre nach ihrer Geburt zog die Familie nach Augsburg, wo Antonia Michalis auch ihr Abitur machte. Anschließend ging sie für ein Jahr nach Südindien und unterrichtete u.a. Englisch, Kunst und Schauspiel an einer Schule in Madras. Zurück in Deutschland studierte sie Medizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, unternahm weiterhin Reisen und arbeitete in unterschiedlichen Krankenhäusern. Mehrere Jahre lebte sie mit ihren vier Töchtern und ihrem Mann in Zemitz gegenüber der Insel Usedom. Seit Oktober 2018 befindet sich die Familie auf die Insel Madagaskar, worüber die Autorin in einem Blog berichtet (vgl. https://www.antonia-michaelis.de/scherbensand/).
2. Wissenschaftliche Rezeption und Werke
Antonia Michaelis’ schriftstellerisches Werk umfasst Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbücher sowie Theaterstücke. Insgesamt lässt sich die Autorin keinem bestimmten Genre zurechnen, ihre gattungstypologische Bandbreite reicht von Kriminalromanen (Kreuzberg 007) über psychologische Kinder- und Jugendbücher (Die Worte der weißen Königin) bis hin zu Road novels (Tankstellenchips. Ein Heldenepos, Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus), Adoleszenzromanen (Der Märchenerzähler) und politischen Jugendromanen (Die Attentäter, grenzlandtage).
Antonia Michaelis kann als eine Cross-Writerin bezeichnet werden, die adressatenübergreifend schreibt. Obwohl sie sich an unterschiedliche Adressatengruppen richtet, lassen sich in ihren Werken Ähnlichkeiten hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung, der Motive und Themen feststellen. Ihre Figuren sind ebenfalls häufig ähnlich gestaltet: Die Mädchen- sowie Frauenfiguren zeichnen sich u.a. durch Naivität, aber auch Fantasie und Empathie aus (vgl. hierzu Anna aus Der Märchenerzähler, Ella, Jule, aber auch Siri aus Friedhofskind), sie haben Geheimnisse und wählen neue Namen/Identitäten aus, wie etwa November aus Niemand liebt November oder Nancy aus Mr. Widows Katzenverleih. Die zerrütteten Familien, die einen Kontrast zu bildungsbürgerlichen und liberalen Familienmustern bilden, prägen ebenso ihr literarisches Werk wie die sprachliche Gestaltung oder das Spiel mit Intertextualität. Karin Manz hat bereits für ihren Roman Der Märchenerzähler das Oszillieren zwischen dem realistischen und fantastischen Erzählen hervorgehoben (vgl. Manz 2014), was sich ebenfalls in späteren Romanen findet (z.B. in Wind und der geheime Sommer), und tatsächlich fällt es schwer, Antonia Michaelis nach bestimmten Genres zu kategorisieren.
Auf die Frage, ob Michaelis mehr Freude hat, für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene zu schreiben, antwortet sie:
In der "Belletristik“ (und warum sind Kinderbücher eigentlich keine Belletristik?) hat man, schlicht gesagt, mehr Platz. Da kann ich längere Beschreibungen in den Text einbauen, und ich beschreibe schrecklich gerne Dinge. Ich fürchte, das ist manchmal ganz unlesbar; wer will schon drei Seiten lang lesen, wie ein Wald aussieht?
Im Kinderbuch kann ich dafür mehr Unsinn machen. Und im Jugendbuch kann ich mich austoben und so tun, als wäre ich selbst wieder jung, nochmal Student sein, nochmal frei sein usw. Hat alles seine Vorteile. (http://www.oetinger.de/buecher/specials/antonia-michaelis/interview-antonia-michaelis.html)
Gemeinsam ist den Texten für Kinder und Jugendliche auch das Spiel mit Gattungszuordnungen. Ihr aktueller Jugendroman Tankstellenchips. Ein Heldenepos erinnert an eine Road novel, wie auch ihre zwei Bände um das Mädchen Ella. Vor allem in den letzten beiden Ella-Bänden interpretiert Michaelis die Road novel neu, lässt die Kinder in einem Wohnwagen über eine Insel reisen und schränkt so deren Aktionsradius ein. Ähnlich wie in Road novels bzw. Roadmovies für Jugendliche dient auch in den Ella-Bänden die Reise als Metapher für die Suche nach Identität, aber vor allem als Hilfe für die Kinder aus ihrem tristen Alltag zu entkommen.
Märchen, das Werk Astrid Lindgrens und Michael Endes, aber auch Klassiker der Weltliteratur wie Oliver Twist, Der kleine Prinz oder Filme um den Agenten James Bond werden selbstverständlich in die Titelgestaltung sowie die Handlung eingebunden (Kreuzberg 007). Intertextualität beschreibt das Verhältnis von Texten untereinander: Texte beziehen sich aufeinander – sei es mit Zitaten, Anspielungen oder anderen Verweisen (vgl. hierzu im einzelnen Kurwinkel 2012: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/200-intertextualitaet sowie Wicke 2016: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/1840-intertextualitaet-in-der-kinder-und-jugendliteratur):
"Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, sagte Junius. „Das ist ein Satz aus einem Theaterstück, da hab ich mal ein Lied von auf der Geige gespielt.“
"Dreigroschenoper“, sagt Ella und nickt. "Kenn ich.“ (Michaelis: Ella Fuchs, 2013, S. 168)
Der Hinweis auf Brechts berühmten Satz aus der Dreigroschenoper wird in den Kontext eingebettet, dass eines der Kinder in einem Hofladen Schokolade gestohlen hat. Ella und auch Junius lehnen den Diebstahl ab, Junius kommentiert ihn mit dem Verweis auf Brecht. Ella setzt nach und kennt, obwohl sie erst neun Jahre alt ist, sogar das Theaterstück. Aber Antonia Michaelis belässt es nicht dabei, sondern aus diesen unterschiedlichen Kenntnissen der Kinder entfacht sich ein Streit. Jonas, der weder Satz noch Theaterstück kennt, wirft Ella und Junius vor, sie seien "gebildete […] Kinder der reichen Eltern“ (S. 168) und würden nur aus Langweile beim Zirkus mitarbeiten, während er als Sohn einer kranken und arbeitslosen Mutter das Geld braucht. Literaturverweise werden genutzt, um die Lebens- und Familienverhältnisse der Figuren zu illustrieren. Ella kommt aus einer intellektuellen Familie, in der über Literatur und Politik auch mit den Kindern gesprochen wird. Jonas dagegen stammt aus einer bildungsarmen Familie und fühlt sich aufgrund der mangelnden Kenntnisse stigmatisiert.
Ein weiteres Beispiel für Intertextualtät ist Frederic in Die Nacht der gefangenen Träume (2008), der sich fühlt wie Rilkes Panther. Das Gedicht wird in seiner neuen Schule interpretiert und "Frederic fühlte mit dem Panther“ (Michaelis: Nacht 2008, S. 14), denn er kommt sich hier genauso gefangen vor.
Aber es sind nicht nur intertextuelle Bezüge zu den Klassikern der Welt- sowie Kinder- und Jugendliteratur, sondern auch intermediale Bezüge kommen vor: So spielt Musik in Michaelis’ Werk eine wichtige Rolle. In Der Märchenerzähler sind es Lieder von Leonard Cohen, die immer wieder in die Handlung integriert werden und die Situation illustrieren. Hört man sich die Lieder während der Lektüre an, können sich die Lesarten verändern. Oft sind die Figuren auch Musiker: Jascha aus Solange die Nachtigall singt (2012) spielt wunderbar Cello, ihre Schwester Joana Oboe, die dritte Schwester Jolanda Harfe, Wind aus Wind und der geheime Sommer Geige: eine Form manifester Intermedialität im Sinne Werner Wolfs (vgl. dazu Schmerheim 2012: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/198-intermedialitaet)
2.3 Märchenhaftigkeit und Fantasie
In Michaelis’ Werk bekommen Literatur und die Macht von Worten oder Sprache eine besondere Funktion zugewiesen, denn sie ermöglichen Kindern und Jugendlichen nicht nur einen Zugang zur Bildung, sondern eröffnen ihnen auch neue Welten. Lion erfährt dies, wenn er den Märchen der "weißen Königin“ lauscht, Abel nutzt das Märchen, um seine Geschichte zu erzählen. Es ist ein Blick auf Literatur, der sich u.a. auch bei Erich Kästner oder Astrid Lindgren findet. Bei Lindgren heißt es über die Kraft von Literatur:
Sie saß am Tisch, löffelte ihre Grütze und ahnte nichts, da drangen durch die angelehnte Tür Worte zu ihr herüber, Worte, so hold, dass sie erbebte. Dort drinnen war jemand, der den Kindern des Pfarrers ein Märchen vorlas, und in all ihrer Holdigkeit drangen die Worte durch den Türspalt und kamen auch zu Malin. Nie zuvor hatte sie gewusst, dass auch Worte schön sein können, und nun erfuhr sie es und sie sanken ihr in die Seele wie Morgentau auf eine Sommerwiese. (Lindgren 1990, S. 173)
Lion aus Die Worte der weißen Königin erlebt Literatur, so wie Lindgren es in dem Zitat schildert, aber auch andere Figuren lieben Literatur, haben Fantasie und blicken mit anderen Perspektiven auf die Welt. Besonders deutlich wird dies in Michaelis’ Roman Wind und der geheime Sommer (2018). Michaelis greift hier erneut das Motiv der Freundschaft auf und führt mit John-Marlon einen Jungen ein, dem Fantasie in seinem tristen Alltag fehlt. Seine Eltern leben getrennt, haben unterschiedliche Erwartungen an ihren Sohn, die er jedoch nicht erfüllen kann. Als er durch Berlins Straßen streift, entdeckt er hinter einem Bretterzaun einen verwunschenen Garten, trifft auf das Mädchen Wind, weitere Kinder, einige sich seltsam benehmende Erwachsene und befindet sich plötzlich mitten in einer Abenteuergeschichte. Mit Wind entdeckt er fremde Welten sowie eine wunderbare Wildnis: "Er stand in einem Urwald. Einer duftenden, lichtdurchflutenden, grünen Welt, die so fern von der Stadt war, wie nur irgendetwas sein konnte. Einem Paradies.“ (Michaelis: Wind 2018, S. 12)
Mit diesen Sätzen betritt er Winds Welt, die in einem Bauwagen ohne Eltern lebt und Geheimnisse liebt. Er fühlt sich – ähnlich wie andere Jungenfiguren in Michaelis’ Werk – angezogen von dem Mädchen, das voller Fantasie ist, ihm und den anderen Kindern einen Welt eröffnet, in der sie für kurze Zeit ihre Sorgen und Probleme vergessen können. Wer Wind ist, ob sie wirklich Wind heißt, verrät sie nicht. Sie hat feste Regeln und erst nach und nach macht sich John-Marlon auf die Suche nach ihrem Geheimnis. Michaelis spielt hier noch genauer mit Fantasie und Sprache als in ihren früheren Werken, denn sie erschafft mit Worten eine neue, abenteuerliche Welt, eröffnet neue Sichtweisen und lässt uns Dinge anders betrachten. Die Figur Wind erinnert an das Motiv des fremden, wilden Kindes: Es lebt in einem verwilderten Garten, Eltern oder andere Erwachsene scheinen zunächst fern.
Neben Lindgren und den Märchen zieht sich dieses Bild durch das Werk Michaelis’, das angelehnt an Charles Dickens’ Oliver Twist sein dürfte. Michaelis beschreibt Kinder in Waisenhäusern, blickt auf jugendliche Waisen, aber auch Kinder wie Ella, die von Waisenkindern fasziniert ist und sich Geschichten zu dem Thema ausdenkt.
Michaelis’ Kinderromane oszillieren zwischen problemorientierten und psychologischen Gattungsmustern: Erzählt wird nah an der kindlichen Perspektive. Trotz der fantastisch-schrägen Handlungsmuster, die Michaelis in Romanen wie Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus (2013), Ella Fuchs und das Rätsel des fahrenden Inseltheaters (2014) oder Wind und der geheime Sommer (2018) entfaltet, werden Alltagssorgen der kindlichen Akteure nicht ausgeklammert. Vielmehr werden diese in die Handlung integriert, und es sind die Freundschaften, die den Kindern bei der Bewältigung der Probleme helfen. In Wind und der geheime Sommer sind es bspw. die Geschwister Esma und Goran, die in der Schule gemobbt werden. Sie werden verspottet, ihnen begegnen Vorurteile, die sie weder bei Wind noch in ihren Geschichten treffen. Winds "Urwald“, der ihrer Fantasie entsprungen ist, wird zu einem Zufluchtsort. Geschichten geben Mut, verändern die Kinder, ebenso wie Geschichten auch Leserinnen und Lesern Mut machen können. Michaelis verschweigt die Probleme weder, noch vereinfacht sie diese. Aber sie macht sie auch nicht zu dem Mittelpunkt ihrer Geschichten, sondern erzählt sie fast nebenbei. Und genau hier liegt auch die Komplexität ihrer Romane, unabhängig davon, ob sie an Kinder oder Jugendliche adressiert sind. Sie entwirft Figuren, die mehrdeutig und mehrdimensional sind. Die sprachlichen Bilder machen zum Beispiel Winds Welt lebendig und zwischen den Zeilen finden sich philosophische Gedanken. Irgendwann wirft Wind ihren Freunden vor, dass sie "Erwartungen“ erfüllen (S. 105). Erwartungen, die Erwachsene an sie stellen, und ihnen Freiheiten nehmen. John-Marlon spricht von einem "hinderliche[n] Alltag“ (S. 107), der ihn an Besuchen bei Wind hindert und kritisiert so seine verplante Kindheit. Eine Kindheit, die ihm kaum Raum zum Fantasieren lässt. Dabei manifestiert sich die kindliche Fantasie auch in der Sprache. Wie in vielen Büchern von Michaelis finden sich auch in Wind und der geheime Sommer Wortneuschöpfungen, hier schon im ersten Satz: "Es war einer dieser absoluten Tonnentage. Tage, die man in die Tonne kloppen kann.“ (S. 7)
Kennzeichnend für Michaelis’ Kinderromane ist, dass sie ihre jungen Akteure als Figuren mit viel Fantasie konzipiert. Zugleich entwirft sie kindliche Figuren, die in einer wohlbehüteten und fantasievollen Umgebung aufwachsen. Sie werden von ihren Eltern gefördert und unterstützt. Dem gegenüber erzählt sie von Kindern, die nicht in einer solchen Umgebung, sondern in zerrütteten fantasielosen Verhältnissen aufwachsen. Immer wieder arbeitet sie mit Kontrasten, setzt sich mit unterschiedlichen Familienmustern auseinander und erzählt von Freundschaft und dem Miteinander der kindlichen Figuren. Zugleich hebt sie die Besonderheiten von Imagination und Fantasie hervor, die für die Kinder aus zerrütteten Verhältnissen auch eine Flucht in andere Welten bedeuten können. Aber erst in der Freundschaft mit vorstellungsbegabten Kindern, die aus bildungsnahen, akademischen Elternhäusern kommen, werden den Kindern neue Perspektiven eröffnet.
"Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwickeln“ (Spinner 2006, S. 6) gilt als ein zentraler Aspekt des literarischen Lernens. Das, was Spinner theoretisch entwickelt, setzt Michaelis selbstverständlich in ihren Texten um. Sie bietet ihren Leserinnen und Lesern nicht nur Texte an, die eine imaginative Vorstellungsbildung fördern, sondern zeigt anhand von fantasievollen Kindern, wie Vorstellungen die Welt weiten können. Damit wird Vorstellungsbildung zu einer positiven Eigenschaft. Ihre Einschränkung, Kindern aus bildungsnahen, akademischen Familie diese Kompetenz zuzusprechen, lässt sich unter dem Aspekt der Mehrfachadressierung ihrer Texte deuten. Der Appell richtet sich an erwachsene Leserinnen und Leser und fordert diese auf, auch Kindern aus bildungsfernen Familien ein Leben zu ermöglichen, in dem ihre Fantasie gefördert wird.
Die Handlungsorte sind, abgesehen von wenigen Kinderromanen wie Kreuzberg 007 (2009–2012), in ländlichen Räumen angesiedelt. Es sind Landschaften, oft an der Ostsee, die den kindlichen Akteuren die Möglichkeiten bieten, sich frei zu entfalten und Kindheiten in erwachsenenfreien Räumen zu genießen wie etwa in Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus, Das Blaubeerhaus oder Wind und der geheime Sommer.
Auch die Kinder aus Kreuzberg 007 erleben in der Großstadt ebenfalls Freiheit fern der erwachsenen Welt. Sie bewegen sich, der Tradition Kästners folgend, selbstbewusst auf den Straßen Berlins, wissen aber auch um ihren familiären Rückhalt. Michaelis’ Kindheiten lesen sich wie eine Fortsetzung des Lindgren’schen Werkes, denn auch in den Bullerbü- oder Madita-Geschichten erleben die Kinder Freiheiten, wissen dabei jedoch um den Schutz, der ihnen in ihren Familien zuteil wird. Zugleich durchbricht Michaelis diese Schutzräume, denn die kindlichen Akteure begegnen anderen Kindern, die nicht in dieser heilen Welt aufwachsen. Damit versetzt Michaelis die Welt von Astrid Lindgren ins 21. Jahrhundert, orientiert sich an ihren narrativen Mustern, erweitert diese aber um Probleme von Kindern der Gegenwart.
Der Roman Jenseits der Finsterbach-Brücke. Die Geschichte einer Freundschaft, die keine Mauern kannte (2008) lässt sich explizit als eine Hommage an das Werk von Astrid Lindgren lesen, denn bereits auf der paratextuellen Ebene deutet sich Michaelis’ Spiel mit Inter- und Paratextualität an (vgl. auch Burkard 2017). Nach Genette gehören
Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten […]
zu den Paratexten (Genette 1993, S. 11). Laut Zöhrer changiert der Paratext "zwischen dem literarischen Text und dem Diskurs, der über diesen Text geführt wird“ (Zöhrer 2009, S. 38). Michaelis bzw. der Oetinger-Verlag führt zumindest in der gebundenen Ausgabe den Diskurs um Intertextualität auf der paratextuellen Ebene fort.
Auf dem Cover der gebundenen Ausgabe sieht man eine Brücke, auf der zwei Kinder auf einem Pferd reiten. Schaut man sich die Covergestaltung der Bücher Mio, mein Mio und Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren an, so entdeckt man deutliche Parallelen: Auf dem Buchdeckel von Mio, mein Mio finden sich zwei Kinder auf einem Pferd, auf dem zu den Brüdern Löwenherz sieht man zwei Kinder auf einer Brücke und damit den Verweis auf die Titelgestaltung des Romans von Antonia Michaelis. Die Taschenbuchausgabe zeigt dagegen zwei Kinder, die sich an einer Schlucht gegenüberstehen. Auch hier lässt sich eine Nähe zu Lindgren konstatieren, denn es könnte eine Anspielung auf ihren Roman Ronja Räubertochter sein. Burkard sieht in der Mädchenfigur Almuth Parallelen zu Ronja (vgl. Burkard 2016).
Im Untertitel des Romans, Die Geschichte einer Freundschaft, die keine Mauern kannte, finden sich Hinweise auf die Themen des Romans, nämlich Freundschaft und die Überwindung von Grenzen. Die Autorin entwirft eine Welt, die helle und dunkle Seiten kennt und in der die Freundschaft und das Vertrauen zum wichtigsten Gut der Menschen werden.
In Michaelis’ Œuvre ist der Übergang vom Kinder- zum Jugendroman manchmal fließend, was sich u.a. an Das Blaubeerhaus und Die Worte der weißen Königin zeigt. Der Roman Die Worte der weißen Königin (2011), dem Freudenberg ein Changieren zwischen "modernem Märchen und sozialkritischem Jugendroman“ (Freudenberger 2014, S. 14) zuspricht, erzählt einerseits von der Macht der Literatur, andererseits aber auch von einem brutalen Vater und dem Aufwachsen in Ostdeutschland. Die Gewalt des Vaters erscheint willkürlich. Die Geschichte setzt ein, als Lion von seinem Vater im Keller des alten Hauses an der Ostseeküste eingesperrt wird. Rückblickend wird die Geschichte aus der Sicht Lions erzählt: Die Mutter verließ die Familie, um ihr Glück im Westen zu suchen. Weder Vater noch Sohn haben Kontakt zu ihr. Der Vater arbeitet zunächst als Hilfsarbeiter auf einer Schiffswerft, kümmert sich liebevoll um seinen Sohn, und gemeinsam entdecken sie die Natur. Er geht mit seinem Vater auf die Jagd und entdeckt dort seine Liebe zu den Seeadlern, die er fortan beschützen möchte. Als er seinen Vater in das nahe gelegene Dorf begleitet, begegnet er in der Kirche einer alten Frau, die Kindern vorliest. Er nennt sie die "weiße Königin“. Lion wird zum ersten Mal mit der Macht des Wortes und der Phantasie konfrontiert, sehnt sich nach den Vorlesestunden und sucht nach Worten. Der Vater beobachtet die Entwicklung mit Argwohn und scheint Angst zu haben, seinen Sohn, wie schon zuvor seine Frau, ebenfalls zu verlieren.
Doch zunächst verliert er seine Arbeit und Lion die "weiße Königin“, die auf Reisen geht, dem Vater setzt der Verlust der Arbeit zu und er beginnt zu trinken. Er verwandelt sich nach und nach in den "schwarzen König“, der Lion misshandelt. Freudenberg sieht darin eine Rehabilitation des Vaters, "indem er [Lion] dessen unberechenbare, brutale Seite von ihm abspaltet und die neue Figur als den schwarzen König […] bezeichnet“ (Freudenberg 2014, S. 17). Er sieht den Vater als den "Fremden“, der "mit „schwere[n] und dunkel[n]“ Schritten sich dem „Hoftor“ nähert (Michaelis: Die Worte, 2011, S. 42). Der Vater selbst nennt sich einen Vater, und Lion sieht in ihm das Gegenteil zur weißen Königin. Lion betrachtet seinen Vater auch als ein Opfer der Umstände. Zugleich entsprechen die Bezeichnungen der weißen Königin und des schwarzen Königs zwei Märchenfiguren, die man als die für Märchen durchaus klassischen "Antipoden“ (Freudenberg 2014, S. 17) bezeichnen kann.
Lion vernachlässigt die Schule, um seine Verletzungen nicht zu zeigen. Der Vater wird immer brutaler, die Schläge nehmen zu, und eines Tages erscheint ihm das Mädchen Olin, das sich als seine Schwester vorstellt. Sie ist älter als Lion und bereits mit drei Jahren davongelaufen. Sie ermuntert Lion sich zu wehren, doch Lion erduldet die Misshandlungen, bis der Vater zu weit geht und der Sohn in den Wald läuft. Dort helfen ihm Olin und die Seeadler zu überleben. Sie werden seine Ersatzfamilie, mit der er wunderbare Wochen verbringt und sich dann schließlich auf die Suche nach der "weißen Königin“ macht, die in einem Berliner Krankenhaus liegt. Nach und nach wird Lion immer mutiger und lernt, sich den Problemen zu stellen.
Lion erfährt in der Geschichte sowohl seelische als auch körperliche Gewalt, einerseits von seiner Mutter, die ihn verlassen hat, andererseits von seinem Vater, der mit seiner Situation nicht zurechtkommt und sich in den "schwarzen König“ verwandelt. Erneut nimmt Michaelis das Motiv der zerrütteten Familie auf sowie das der Mutter, die ihr Kind verlassen oder Selbstmord begangen hat (vgl. auch Der Märchenerzähler, später auch Niemand liebt November oder Nashville, Die Attentäter oder Wind und der geheime Sommer). Lion kennt die Beweggründe seiner Mutter nicht. Sie wirkt, wie auch die Mutter Cliffs in Die Attentäter, sehr egoistisch. Sie hat ihn alleine zurückgelassen, und diese Leere füllt er mit seiner Fantasie: Er stellt sich eine andere, eine liebevolle Mutter vor, die ihn als Baby geliebt hat. Die Geschichte verschweigt, was aus der Mutter geworden ist, eine Rückkehr wird nicht erzählt. Aber er füllt den Verlust auch mit der Zuneigung zu der Märchenerzählerin, die er die "weiße Königin“ nennt. Hier erfährt er nicht nur Zuneigung, sondern auch die Macht des Vorlesens – etwas, was er Zuhause nicht erleben konnte. Literatur wird so zu einem "Schutzraum“ (Freudenberg 2014, S. 16) für den Jungen, was wiederum zu Konflikten mit seinem Vater führt. Dieser besitzt keinen "richtigen Schulabschluss“ (Michaelis: Die Worte, 2011, S. 41), hat keinen Zugang zu Büchern und fürchtet, seinen Sohn wegen der Literatur zu verlieren. Zugleich macht er sich auf die Suche nach der "weißen Königin“ und damit nach der Literatur.
Mit Olin wird ein zweites Ich Lions entworfen, das sein Handeln reflektiert und ihm schließlich das Selbstvertrauen und den Mut zum Handeln gibt. Die Figur Lions ist sensibel und die Autorin nähert sich behutsam dem Thema der häuslichen Gewalt. Sie zeigt, wie ein zehnjähriges Kind mit den Ängsten umgeht und sich schließlich in eine Art Fantasiewelt flüchtet. Seine Liebe zu den Seeadlern, die ihn nach und nach akzeptieren, nimmt weite Passagen des Textes ein. Er rettet sie immer wieder und auch sie helfen ihm, im Wald zu überleben. Natur steht hier für Freiheit:
"Die Welt kam mir unendlich weit vor, sie ging hinter den Bäumen einfach immer weiter, und nirgendwo gab es Kellermauern oder verschlossene Türen. Es war ganz erstaunlich – zwischen den Kellermauern hatte ich mich gefühlt wie eine zerbrochene Puppe, und hier, in der Unendlichkeit, konnte ich auf einmal wieder rennen.
Ich vergaß alle blauen Flecken und alle Schrammen.
Ich war frei – […].“ (Michaelis: Die Worte, 2011, S. 79f.)
Am Ende der Geschichte kehrt Lion zu seinem Vater zurück, der in einer Entzugsklinik war. Doch der Vater kann seinem Sohn kein gutes Ende garantieren, denn auf seine Frage, ob alles gut werden wird, antwortet der Vater: "Ich weiß es nicht […] Man muss abwarten.“ (S. 264) Damit deutet Michaelis einen vorsichtige Neuanfang zwischen Sohn und Vater an und widersetzt sich so dem klassischen Happy End eines Märchens.
In Die Worte der weißen Königin ist es erneut Astrid Lindgren, die immer wieder zitiert wird. Das ruhige Erzählen erinnert an die skandinavische Erzählweise und kommt gänzlich ohne Action und Tempo aus.
In ihren Jugendromanen setzt Michaelis das kontrastierende Spiel mit den jugendlichen Akteuren fort und zeigt auch hier Mädchenfiguren aus wohlgeordneten Familien, die auf Jungen aus den unteren Schichten treffen. Aber sie beschreibt auch, welche Auswirkungen zerrüttete Familienverhältnisse auf das Leben der Kinder haben. In Niemand liebt November wird ein gesellschaftskritisches Bild präsentiert, und erneut zeigt die Autorin die Abgründe des Lebens und entwirft Familie als einen Ort ohne Geborgenheit.
Im Mittelpunkt steht die 17-jährige Amber Lark, die sich "November“ nennt. Ihre Eltern haben sie kurz vor ihrem 6. Geburtstag im November verlassen und seitdem verbrachte das verletzte Mädchen ihr Leben in Pflegefamilien und Heimen. Es kam immer wieder zu Wutausbrüchen, weshalb Amber fortan als "schwierig“ galt. Ihren Schmerz und ihre Einsamkeit konnte oder wollte sie nicht artikulieren. Lediglich mit ihrer Katze spricht sie, denn das Tier ist die letzte Verbindung zu ihren Eltern. Kurz vor ihrem 17. Geburtstag flieht sie aus ihrer WG, um ihre Eltern zu suchen. Nach wie vor glaubt sie an das Bild einer intakten Familie. Gemeinsam mit ihrer Katze geht sie in die benachbarte Großstadt und hofft in einer Kneipe die ersten Anhaltspunkte zu finden. Sie lebt zunächst auf der Straße, lernt den Besitzer der Kneipe, Katja, und seinen Hund kennen. Dort findet sie nicht nur erste Hinweise auf ihren Vater, sondern auch einen Job, und Katja verschafft ihr eine Wohnung.
Trotzdem bleiben Unruhe, Trauer und Einsamkeit. Sie verstrickt sich immer mehr in die Suche nach ihren Eltern, prostituiert sich und wird schließlich fast getötet. Doch sie gibt nicht auf, findet am Ende zwar die gesuchten Menschen, aber auch eine Wahrheit, die schlimmer schmerzt, als November es geahnt hat. Auch hier überrascht Michaelis erneut mit der schonungslosen Darstellung von Gewalt und Vergewaltigung. Das Mädchen November selbst bleibt trotz der internen Fokalisierung den Leserinnen und Lesern fern, denn sie entzieht sich immer wieder, nimmt unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Namen ein und spielt nicht nur mit den Figuren in der narrativen Welt, sondern auch mit den Leserinnen und Lesern. Sie schlüpft aus ihrem Körper, um den Schmerz zu ertragen. Mit den Namen, die sie mit ihren Rollen aufnimmt, verkörpert sie auch unterschiedliche Charakterzüge. November verkauft ihren Körper bspw. unter dem Namen Lucy, um Informationen zu bekommen, aber auch, um Wärme zu spüren. Lucy ist anders: Sie lächelt, flirtet und schminkt sich. November ist dagegen wortkarg und erinnert an den Monat.
Immer wieder reflektiert Michaelis die Rolle der Kleinfamilie in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Kennzeichnend für ihre Geschichten ist das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern, denn Michaelis entwirft zerrüttete, aber auch heile Familien und zeigt an den kindlichen sowie jugendlichen Figuren exemplarisch die unterschiedlichen Lebensläufe. Sie blickt in das Innere der Figuren, deutet ihre Schmerzen an und gehört zu den wenigen deutschsprachigen Autorinnen, die kindlichen sowie jugendlichen Akteure aus unterschiedlichen Milieus eine Stimme gibt. Sie konzipiert Figuren, die ein liebevolles Zuhause haben, und damit auch gestärkt ins Erwachsenenleben gehen können. Sie zeigt aber auch anhand von zerrütteten Lebensverhältnissen, wie schwierig das Leben sein kann. Das offenbart sich bspw. an Figuren wie Cliff aus Die Attentäter, aber auch an Abel aus Der Märchenerzähler oder an November aus Niemand liebt November.
Ein immer wiederkehrendes Thema ist Gewalt inner- und außerhalb der Familien. Liberale, offene und bildungsinteressierte Eltern gehören zum festen Topos ihrer Romane, sowohl im Kinder- als auch im Jugendbuch. Diese Elternfiguren zeichnen sich durch einen hohen Bildungsgrad sowie offene Erziehungskonzepte aus. Sie entsprechen dem bildungsbürgerlichen Ideal und leben nach bestimmten ökologischen Standards.
Der Laden befand sich in einem Teil einer alten Scheune, und es war genau die Art Laden, in der Ellas Eltern zu Hause einkauften, wenn sie etwas Nettes kochten wollten. Das Gemüse glänzte bunt in seinen Körben, vor dem Laden standen einladende Stühle und Tische, und auf einer Tafel stand mit Kreide, dass man heute Kürbissuppe mit Kartoffelauflauf essen konnte. (Michaelis: Ella Fuchs 2013, S. 161)
Ella ist solche Läden gewohnt, was nicht nur ihre Herkunft verrät, sondern oft auch zu Streitigkeiten in der Gruppe führt. Ähnlich strukturiert sind auch die Eltern von Anna aus dem Märchenerzähler, aber auch Jules Eltern (grenzlandtage) entsprechen diesem Typ.
Kontrastierend dazu zeichnet Michaelis überforderte Elternfiguren, in der Regel sind es Ein-Eltern-Familien, die mit der Erziehung und auch dem Arbeitsleben überfordert sind. Sie übertragen die Sorgen auf ihre Kinder, die sich, wie etwa Abel im Märchenerzähler, um jüngere Geschwister kümmern müssen oder sich sorgen, ob sie ihr Zuhause behalten, wie Jonas aus Ella Fuchs. Häusliche Gewalt fließt in die Handlung ein und die Darstellung zeigt, wie sie sich auf die Psyche der Kinder auswirken kann. Diese gegensätzlichen Welten, die parallel nebeneinander existieren, begegnen sich im Laufe der Handlung und die Kinder bzw. Jugendlichen unterstützen sich gegenseitig. Ähnlich wie in Ella kümmert sich auch im Märchenerzähler Annas Familie um die Schwester und gibt ihr ein Zuhause.
Aber in grenzlandtage, das Michaelis gemeinsam mit Peer Martin verfasst hat, erfährt das Bild der offenen und liberalen Familie Brüche, denn Jules Eltern helfen nur zögerlich. Immer wieder verlangt Jules Vater, dass sie aufwachen solle
"Es gibt Millionen von Flüchtlingen. Was wir brauchen ist eine politische Lösung. Nicht Geld für Einzelne. Eines Tages wirst du es verstehen. Es ist nicht deine Aufgabe, diesen Leuten zu helfen, es ist die Aufgabe Europas. Deine Aufgabe ist es, dein Abi zu machen und zu studieren, […] Wir … wir brauchen auch nicht mehr Flüchtlingslager in Deutschland. Die Stimmung kippt irgendwann, es gibt jetzt schon Leute, die herumrennen und Heime anzünden. Wir brauchen ein Ende des Krieges in Syrien.“ (Michaelis/Martin: grenzlandtage 2016, S. 320)
Jule macht ihrem Vater klar, dass sie nicht "über Weltpolitik“ (S. 320) diskutieren, sondern jetzt helfen will und dafür Geld benötigt. Zugleich offenbart der Dialog auch das Dilemma von Jules liberalen Eltern: Sie erkennen die Situation, fordern aber andere auf, zu helfen. Im Roman selbst schafft es Jule durch drastische Aktionen Assmann zu unterstützen. Aus dem zunächst naiven Mädchen wird ein politisch handelndes Subjekt, das sich von der passiven Anna aus Der Märchenerzähler unterscheidet.
Michaelis zeigt in ihren Romanen abwesende Mütter, aber auch gewalttätige und abwesende Väter. In Niemand liebt November erfährt das Mädchen erst spät, dass beide Elternteile sie unabhängig voneinander als Kleinkind verlassen und allein in der Wohnung zurückgelassen haben.
Ein wichtiges Thema im Werk von Antonia Michaelis ist der Aspekt der Interkulturalität, der sich insbesondere in der Serie Kreuzberg 007, aber auch in ihren aktuellen Romanen zeigt. Hinzu kommt, dass sie Figuren aus unterschiedlichen Milieus entwirft und von deren Begegnungen erzählt. Es ist das Aufeinandertreffen verschiedener Welten bzw. der Kontakt mit "dem Fremden“. Das Fremde in Kinder- und Jugendliteratur kann man als das "tragende Motiv der Jugendlektüre schlechthin“ (vgl. Büker/Kammler 2003, S. 12) betrachten. Dabei wird das Fremde personifiziert durch literarische Figuren, die oftmals als Klassenkameraden bzw. Freunde in die Handlung integriert werden können. Heidi Rösch stellt in diesem Kontext fest, dass sich
"die Verständigungsliteratur zu einer Kinderliteratur der Vielfalt weiterentwickelt, in der nicht mehr nur die Figurenkonstellationen ethnisch, kulturell, sprachlich, manchmal auch religiös vielfältig erscheinen, sondern auch einzelne Figuren multiple Identitäten bzw. Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen.“(zit. nach Hoppe 2011, S. 53)
Die Darstellung des Fremden hat sich im Laufe der Geschichte der interkulturellen Kinder- und Jugendliteratur gewandelt und muss nicht mehr im Vordergrund eines Romans stehen: Interkulturalität kann als ein Thema neben anderen behandelt werden (Hoppe 2011, S. 53), quasi im Hintergrund mitlaufen. Unter interkultureller Kinder- und Jugendliteratur versteht man in jene Literatur, "die im Einflussbereich verschiedener Kulturen und Literaturen entstanden und auf diese durch Übernahmen, Austausch, Mischung usw. bezogen ist“ (Esselborn 2007, S. 10). Interkulturalität entsteht also, so Astrid Erll und Marion Gymnich, "durch die Kommunikation und Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen“ (Erll/Gymnich, S. 34).
In Michaelis’ Romanen agieren kindliche, jugendliche und erwachsene Akteure unterschiedlicher Kulturen und/oder Milieus miteinander. Karl Esselborn unterscheidet sechs Arten der Interkulturalität, die auch bei der Analyse der Kinder- und Jugendliteratur berücksichtigt werden sollten:
"(1) sprachliche, literarische Interkulturalität (Sprach- und Literaturtransfer) nach sprachlichen Mitteln wie Mehrsprachigkeit, Sprachmischung, Sprachwechsel und damit verbundenen Gattungen […]; (2) thematische Interkulturalität (auch ohne Sprachwechsel oder Sprachmischung, aber mit Perspektiven- und Registerwechsel usw.) nach Themen wie Migrations-, Exil- und Fremdheitserfahrungen […]; (3) unterschiedliche Ausgangssituationen/interkulturelle Biographien der Autoren […]; (4) verschiedene Typen der Kulturkontakte/Distanzen […]; (5) individuelle, interkulturelle Erfahrungen einzelner Migranten, Exilanten usw. vs. kollektive Erfahrungen fremder Kultur und eines Minderheitenstatus […]; (6) Interkulturalität vs. Interkollektivität […].“ (Esselborn 2007, S. 10f.)
Für Michaelis’ Texte sind vor allem die erste, zweite und dritte Art der Interkulturalität ausschlaggebend. In ihren Büchern dominiert nicht die Mehrsprachigkeit, sondern es geht vor allem um eine thematische Interkulturalität, d. h. um die Begegnung von kindlichen und jugendlichen Akteuren aus unterschiedlichen Kulturen. Ein besonderes Beispiel hierfür ist der Jugendroman Tankstellenchips (2018). Protagonist und Ich-Erzähler dieser Road Novel ist der 18jährige aus dem Iran stammende Flüchtling Shayan, der auf einer rasanten Reise durch Deutschland die Kulturgüter wie die Loreley und Schloss Neuschwanstein und die deutsche Lebensweise äußerst humorvoll karikiert: Deutschland wirkt auf ihn wie Disneyland, die Deutschen erscheinen ihm wegen der Mülltrennung als Volk von Jägern und Sammlern (S. 167) und der Berliner Bahnhof ist "eine moderne Orientierungskatastrophe auf fünf Stockwerken“ (Michaelis: Tankstellenchips 2018, S. 89). So werden ernste Themen wie drohende Abschiebung und Fluchterfahrungen eingebettet in eine leichte, humorvolle Erzählweise, die frei ist von jeder Bitterkeit.
In Rezensionen und der bislang geringen Forschungsliteratur wird immer wieder auf die sprachliche Qualität in Michaelis Romanen hingewiesen. Sie nutzt Metaphern, Vergleiche, Personifikationen, Alliterationen und andere rhetorische Mittel, die den Sound ihres Werkes charakterisieren. Sie unterscheidet nicht zwischen den Adressatenkreisen, denn Sätze wie "eine Sorte Luft voll ungedachter Gedanken“ (Michaelis: Friedhofskind, 2014, S. 20), "[d]er nächste Tag begann hellblau und windig“ (Michaelis: Ella Fuchs, 2014, S. 25) oder "[w]nn der Nachmittag auf dem Blaubeerhaus lag, war es ein blau-grüner Juwel im Wald“ (Michaelis: Blaubeerhaus 2015, S. 29) sind charakteristisch für ihr Schreiben. Hypotaxe und Parataxe wechseln sich ab. In ihren Romanen beschreibt Michaelis vielfach die Landschaften und die Umgebung. Mit der Ich-Perspektive gibt sie den Figuren ihre eigene Sprache und ihren individuellen Stil. Aber auch die anderen Figuren bekommen in den Dialogen eine spezifische Stimme.
Mit ihrer Erzählweise unterscheidet sich Antonia Michaelis von anderen Autorinnen und Autoren der Kinder- und Jugendliteratur seit 2000. Anders als bspw. Andreas Steinhöfel oder Finn-Ole Heinrich, die beide schonungslos von kindlichen Problemen erzählen, diese jedoch auch mit heiteren Episoden füllen, verzichtet Antonia Michaelis weitestgehend auf humorvolle Passagen oder Untertöne (der neue Roman Tankstellenchips bildet hier eine Ausnahme). Es sind Romane, die mitunter eigenwillige Figuren hervorbringen, aber auch Sätze wie: "Wer zu genau weiß, was er will, bewegt sich ständig nur in eine Richtung.“ (Michaelis: Nashville, 2013, S. 26) Sätze also, über die man während der Lektüre stolpert und über die man lange nachdenkt. Und tatsächlich charakterisiert dieser Satz auch die Figuren des Romans Nashville oder Das Wolfsspiel sehr genau. Auch sie wissen nicht immer, was sie möchten und bewegen sich daher in unterschiedliche Richtungen.
In vielen Büchern finden sich intradiegetische Binnengeschichten, die paratextuell meistens durch Kursivdruck hervorgehoben sind, welche auf die extradiegetische Geschichte vorausweisen und diese deuten: Das gilt für das Märchen, das Abel im Märchenerzähler erzählt oder für die Binnengeschichte von den drei kleinen Mädchen in Solange die Nachtigall singt. Am Ende jedes Kapitels in Niemand liebt November wechselt die Erzählperspektive hin zu einem ominösen Mann, den die Leserinnen und Leser zunächst nicht einordnen können und der sich schließlich als der Kneipier Katja entpuppt, der November hilft. Ähnlich verhält es sich in Die Attentäter, wo die interne Fokalisierung am Kapitelende immer auf die Freundin der Protagonisten, Margarethe, übergeht. Es sind nicht zuletzt diese Binnengeschichten und Fokalisierungswechsel, die die Rätselhaftigkeit, das Geheimnisvolle und auch die Spannungsstruktur von Michaelis’ Büchern ausmachen. Das gilt ebenso für die Tagebucheinträge der alten Lene im Blaubeerhaus, die ebenfalls eine intradiegetische Geschichte erzählen und in diesem Fall eine historische Komponente in die Handlung einbringen. In den Tagebucheinträgen erzählt Lene, Vorbesitzerin des Blaubeerhauses von den Vorkommnissen im Dritten Reich und während des Zweiten Weltkrieges.
Als Besonderheit in Bezug auf die Erzählweise ist der Kinderroman Die Nacht der gefangenen Träume (2008) hervorzuheben. In Kästnerscher Tradition bedient sich Michaelis hier einer Form von Autorfiktion, indem sie den jeweiligen Kapiteln fiktive Gespräche zwischen Erzähler und dem Protagonisten Frederic vorschaltet. Ähnlich wie die ‚Nachdenkereien’ in Kästners Klassiker Pünktchen und Anton reflektieren und kommentieren diese Gespräche die Handlung, fokussieren sich aber auch auf Sprache und Erzählweise, indem sie überlegen, wie Geschichten beginnen sollten und welche Wörter schön klingen. Diese Art der textuellen Selbstreferenz ist an einigen Stellen auch auf die extradiegetische Handlungsebene übertragen, etwa, wenn dort eingeworfen wird, "dass man in Kinderbüchern keine nicht jugendfreien Flüche verwenden darf“ (Michaelis: Nacht 2008, S. 29) und der Jemand im Dunkeln, der gerade „Shit“ und „Fuck“ gesagt hat, dies offenbar nicht wusste.
Die poetische Sprache in den kinder- und jugendliterarischen Texten von Antonia Michaelis zeigt sich vor allem in den Landschafts- und Naturbeschreibungen, denen die Naturverbundenheit der Autorin stark eingeschrieben ist. Ein besonders starkes Beispiel ist der 2015 erschienene Kinderroman Das Blaubeerhaus, der auch mit Blick auf die Erzählweise hervorzuheben ist, weil er variabel fokalisiert ist, was in der Kinderliteratur immer noch eine Seltenheit darstellt.
Antonia Michaelis: Das Blaubeerhaus (2015)
Erzählt wird die Geschichte von dem mysteriösen Blaubeerhaus, abwechselnd aus zwei kindlichen Perspektiven, jener von Leo und jener von Imke. Zudem spielt Michaelis hier mit narrativen Strukturen, was schon der erste Satz offenbart: "Eine Menge Geschichten beginnen damit, dass jemand mit dem Auto irgendwohin fährt. Diese Geschichte beginnt damit, dass jemand mit dem Auto nirgendwohin fährt“ (Michaelis: Blaubeerhaus 2015, S. 11).
Auch die variable Fokalisierung markiert sie in diesem Kinderroman explizit, indem sie beim ersten Perspektivwechsel die zweite kindliche Ich-Erzählerin Imke auf diesen hinweisen lässt: "Okay, ich bin Imke – falls jemand nicht gemerkt hat, dass ich jetzt erzähle. Es kommt nicht infrage, dass Leo die ganze Geschichte erzählt, schließlich ist es auch meine. Es ist die Geschichte von uns allen.“ (ebd., S. 22). Diese Geschichte handelt vom Blaubeerhaus, ein verwunschenes, blaues Häuschen, „überwuchert von Kletterpflanzen mit blauvioletten Blüten“ (ebd., S. 15), fernab der Zivilisation, inmitten der Natur – das nächste Dorf weit entfernt.
Das Blaubeerhaus wurde von einer entfernt verwandten Tante an zwei Familien vererbt: Da ist einmal die Familie von Leo aus Berlin mit seinem älteren Bruder Luke und dem einjährigen Bruder Mattis. Der Vater wird aufgrund seiner Körpergröße von seinen Söhnen "der Riese“ genannt, die Mutter Betti ist die Schwester von Ben, der wiederum mit seinen drei Töchtern in Hamburg lebt. Dies ist die Familie von Imke und den vierjährigen Zwillingsmädchen Juni und Juli. Und dann ist da noch die esoterische Tante Fee, Bettis und Bens Schwester, die keine Kinder hat, sondern "irgendwo zwischen Heilsteinen und energetisiertem Wasser pendelt“. Leo und Imke sind beide 10 Jahre alt, aber sonst scheinen sie kaum etwas gemeinsam zu haben, außer, dass sie zunächst alles andere als begeistert vom Urlaub im Blaubeerhaus sind, zumal es dort noch nicht einmal Strom gibt.
Die Familien haben sich in den letzten Jahren entfremdet, wollen in diesen Ferien zueinander finden, indem sie das geerbte Waldhäuschen gemeinsam renovieren. Derweil stromern die Kinder, erst skeptisch, dann zunehmend eingenommener von den Naturerlebnissen, durch den Wald und kommen einander schnell näher – auch hier scheint wieder das Motiv des freien, wilden Kindes in der Natur auf, das auf das Kindheitsbild der Romantik rekurriert (vgl. zum Kindheitsbild der Romantik im einzelnen Weinkauff/von Glasenapp 2010, S. 44-53). Allein die Abenteuerlust verbindet sie, denn schon nach kurzer Zeit haben Leo und Imke den Eindruck, es spuke im Blaubeerhaus. Mit vereinter Kraft machen sie sich auf die Suche, finden letztlich keinen Geist, dafür aber das Tagebuch der verstorbenen Tante Lene, die im Dorf als schrullig und seltsam galt. Die Tagebucheinträge verweisen auf ein zentrales Kapitel deutscher Geschichte: Hier enthüllt sich die Vergangenheit, als zu NS-Zeiten Juden im Blaubeerhaus versteckt waren.
Die schon angesprochenen Anleihen an die Romantik zeigen sich auch in der Sprach- und Wortwahl von Michaelis’ Texten. Romantisierende Naturbeschreibungen folgender Art unterbrechen immer wieder die Handlung:
"Dann sah ich zwischen den Bäumen etwas funkeln.
Und ich sagte mir, dass es nur ein blödes unwichtiges Funkeln war, vielleicht ein Tautropfen oder so, aber etwas brachte mich doch dazu, den Pfad zu verlassen und langsam darauf zuzugehen. Das Funkeln war geheimnisvoll und blau, als lägen tausend Edelsteine im grünen Moos, ein Elfenschatz. Ich dachte an Juni und Juli.
Doch als ich bei dem Schatz ankam, war er nichts als ein kleiner Bach voll funkelnder Lichtreflexe. Flache Felsen säumten den Bach, und ich beugte mich darüber, um sein Wasser aus der hohlen Hand zu trinken, eiskaltes, gutes Wasser. Dann setzte ich mich auf den größten und flachsten Felsen, und da merkte ich, dass ich nicht mehr fror. Ich zog die Fleecejacke aus und saß eine Weile einfach so da. Und ich dachte, dass es eigentlich ganz okay hier war.
Am Ufer des kleinen Bachs wuchsen gelbe Lilien. Ich entdeckte die goldenen Augen eines Frosches zwischen ihren Stielen und dann einen Fisch, der in dem klaren Wasser still stand und nur ab und zu mit der Schwanzflosse wedelte. Ich entdeckte auch winzige Wasserläufer, die am Rand des Bachs über die Wasseroberfläche staksten. Ganz oben in einem der Bäume sah ich einen Specht. Er war wie ein Suchbild, je länger man hinsah, desto mehr Dinge fand man, und fast war es ein bisschen unheimlich, weil ich wusste, dass noch viel mehr Lebewesen da waren, die ich nicht sah.“ (Michaelis: Blaubeerhaus 2015, S. 39).
Poetischer Sprachgebrauch findet sich aber auch, jenseits von Naturbeschreibungen, in ihren Jugendbüchern. Schon den Kapitelnamen in Solange die Nachtigall singt (2012) haftet ein zauberhafter Klang an: Sie heißen "Dämmergrün“, "Flammseide“, "Nebelmilch“, "Regenschwarz“, "Rosentau“ oder "Spiegeleis“, um nur einige Beispiele zu nennen. Überhaupt kann dieser Jugendroman als herausragendes Beispiel für die poetische Sprache von Antonia Michaelis gelten.
Erzählt wird hier die Geschichte des 18jährigen Tischlers Jari, der zum Wandern ins Zittauer Gebirge fährt, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hat, und dort Jascha kennenlernt und sich in sie verliebt. Dass er in Wirklichkeit drei Schwestern (Jascha, Joana und Jolanda) getroffen hat, wird ihm erst nach und nach klar, denn die drei Mädchen treiben ein verwirrendes Versteckspiel mit ihm, das in dem mit zauberhaft-poetischen Worten beschriebenen Wald angesiedelt ist, der "Nebeltann, Schattenwald, Dunkelforst“ (Michaelis: Nachtigall: 2012, S. 55) genannt wird, getragen ist dies von Farbsymbolik: Da leuchtet "das Rot wilder Hagebutten“, das "dunkle Violett reifer Holunderdolden, "das Pink und Orange der Pfaffenhütchen“ (ebd.). Zentral ist dabei das titelgebende Motiv der Nachtigall, "Symbol der Klage und des Todes, der Liebe, Sehnsucht und Melancholie sowie der Dichtkunst“ (Butzer/Jacob 2008, S. 246):
"Und da erhob ein anderer Vogel seine Stimme, ganz nah. Seine Melodie war süß und zugleich voller Trauer, und Jari kannte seinen Gesang. Zu Hause, in den Sommerzweigen des weißen Jasmins, hatte dieser Vogel jede Nacht vor dem Küchenfenster gesungen, klein und unscheinbar und grau: eine Nachtigall. Sie standen und lauschten, dicht nebeneinander, und Jari fühlte, dass Jascha wieder begonnen hatte zu zittern.“ (Michaelis: Nachtigall: 2012, S. 29).
Und Jari reflektiert bewusst die Wortwahl und deren Bedeutung in Bezug auf die Menschen, die ihn umgeben: Er hatte nie viel gelesen, "und dennoch hatte er alte und geheimnisvolle Wörter schon immer gemocht. Er dachte auch an seinen Vater, der die Augen genauso verdreht hatte. Sein Vater mochte lieber handfeste, greifbare Wörter wie Abriebkante und Kreuzschlitzschraubenzieher, Wasserwaage und Monatslohn. Jari hatte sich stets bemüht, zu Hause die handfesten Wörter zu gebrauchen, die von ihm erwartet wurden. Jetzt fragte er sich, warum.“ (S. 49).
Durch solche figuralen Reflexionen gewinnt die Sprache im Werk von Michaelis eine ganz besondere Bedeutung, ebenso durch die lyrischen Gedicht-Passagen, welche die immer unheimlicher werdende Handlung pausieren lassen, und die fast alle das Grundmotiv des Textes betreffen, den Gesang der Nachtigall:
"Kein Ton soll klingen mehr, kein Ton.
Und wenn die Nacht sinkt
und die Kälte bringt
warte ich schon.
Ich seh die Wolken ziehn
Und alte Schatten fliehn
Kein Ton.
Still, still, meine Nachtigall,
still, still.
Und wenn der Tag geht
und wenn der Wind weht
und wenn die Nacht kommen will,
sitz ich am alten Ort,
doch du bist lange fort,
still, still.“( S. 52)
Am Ende entwickelt sich Jari vom einfachen Tischlergesellen zum Jäger, der in der düster-magischen Atmosphäre des poetisch beschriebenen Waldes einen Menschen erschießt. Auch diesem Buch kann ein Oszillieren zwischen Fantastik und Realistik zugesprochen werden, wie es hier schon für andere Romane von Antonia Michaelis konstatiert wurde. Das gelingt nicht zuletzt durch die sprachliche Gestaltung der Werke, die einerseits eine romantisch-märchenhafte Stimmung erzeugt, andererseits aber auch zur düsteren Atmosphäre des Textes beiträgt, die durch die schonungslosen Gewaltdarstellungen unterstützt wird: In der Binnengeschichte über die drei kleinen Mädchen steht die (sexuelle) Gewalt, die ihnen durch Entführer angetan wird, im Fokus.
3. Populäre Rezeption
Bereits 2003 hieß es in der Literaturkritik, Antonia Michaelis habe die "Schreibe“, "nach der sich Lektoren die Finger lecken: witzig, unverfälscht, spannend, intelligent.“ (Hinze 2003, S. 5). Sie selber sagt in Interviews, sie schreibe bereits seit ihrem fünften Lebensjahr. Bekannt wurde sie vor allem mit dem Jugendroman Der Märchenerzähler (2011), der von der deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur als Buch des Monats prämiert wurde, 2012 erhielt der Roman eine Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis durch die Jugendjury.
In der Jurybegründung heißt es:
Nicht zu jeder Frage gibt es eine Antwort und nicht hinter jedem Märchen steckt nur Phantasie. Nichts ist wie es scheint und nichts ist sicher. Die Welt ist nicht schwarz und weiß und niemand ist nur gut oder böse.
Das sind Dinge, die Anna Lehmann lernen muss, als sie Abel Tannatek kennen lernt. Nach außen hin gibt dieser den unnahbaren, verschlossenen Jungen – doch was passiert daheim, in der trostlosen Wohnung, wo er seiner kleinen Schwester ein Märchen erzählt, von dem viel zu viel der traurigen Wahrheit entspricht? Als Personen umkommen, die Abel und seiner Schwester im Weg stehen, ist Anna verunsichert: Hat der polnische Kurzwarenhändler, wie Abel in der Schule genannt wird, etwas mit den Morden zu tun?
Das Buch überzeugt vor allem durch seine außergewöhnliche, schon fast poetische Sprache und seine ungewöhnliche Erzählweise, in der sich die Grenzen von Realität und Fiktion verschieben. (https://www.jugendliteratur.org/buch/der-maerchenerzaehler-3762-9783789142895/?page_id=1)
Die Jury hebt insbesondere die sprachliche Qualität des Buches sowie die Erzählweise hervor. Neben diesen positiven Zuschreibungen existieren auch negative, die dem Roman "fragwürdige[…] Figuren und ebenso fragwürdige[…] Handlungselemente“ (Kumschlies 2012) attestieren. Allerdings betont Kumschlies in ihrer Rezension die poetische Sprache Michaelis’. Beide Beispiele sind charakteristisch für die Rezeption jugendliterarischer Werke von Antonia Michaelis.
Christine Hagemann hat Unterrichtsmaterialien für den Märchenerzähler im Oetinger-Verlag herausgegeben. Dabei liegt der didaktische Schwerpunkt auf Aspekten wie:
Erweitern des Textverständnisses, emotionales Verstehen, Entwickeln von Ich-Stärke, Erweitern der sozialen Kompetenz, problem- und handlungsorientierter Umgang mit dem Text. (Hagemann 2013, o.S.)
Hagemann erläutert, dass der Roman neben dem Fach Deutsch auch in Sozialwissenschaften oder Philosophie eingesetzt werden könne. Burkard plädiert in ihren Ausführungen zu Jenseits der Finsterbachbrücke, mit der Lektüre Schülerinnen und Schüler "für eine intertextuelle Lektüre“ (Burkard 2016, S. 258) zu sensibilisieren. In Anlehnung an Kaspar H. Spinners Aspekte des literarischen Lernens sieht sie neben der intertextuellen Lektüre auch das Nachvollziehen "der Perspektiven literarischer Figuren“ (Burkard 2016, S. 258) Möglichkeiten für den Unterricht. Auch Manz (2013) verfolgt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Märchenerzähler die Intention das literarische Lernen der Schülerinnen und Schüler zu befördern, wobei sie sich eng an den 11 Aspekten nach Spinner (2006) orientiert.
Trotz der Vielzahl an unterschiedlichen Texten gehört Michaelis zu den bislang vernachlässigten Autorinnen der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Auch in schulischen Kontexten fehlen Unterrichtsmaterialien – Ausnahme ist Der Märchenerzähler –, was möglicherweise an den ‚sperrigen’ Themen und dem Umfang der Texte liegen mag. Dennoch lohnt, auch mit Blick auf Intertextualität, Cross-Writing und Figurengestaltung, die Auseinandersetzung mit Michaelis’ Werk.
4. Bibliographie
4.1 Vorlese- und Erstlesebücher
Leselöwen Internatsgeschichten. Bindlach: Loewe 2002.
Dschungelgeschichten. Ill. Sigrid Leberer. Bindlach: Loewe 2002
Drei kleine Eisbären im Glitzerschnee. Kurze Tiergeschichten zum Vorlesen. Ill. Sigrid Leberer. Bindlach: Loewe 2003.
Der kleine Quengel-Engel: So bekommst du gute Laune. Ill. Bettina Gotzen-Beek. Bindlach: Loewe 2004.
Lesetiger-Nikolausgeschichten. Ill. Bettina Gotzen-Beek. Bindlach: Loewe 2007.
Leselöwen-Lampenfiebergeschichten. Ill. Alexander Bux. Bindlach: Loewe 2007.
Nele und der Eiskristall. Ill. Miriam Cordes. Freiburg: KeRLE 2007.
Lesepiraten-Freundinnengeschichten. Ill. Katharina Wieker. Bindlach: Loewe 2008.
Lesepiraten-Zauberschlossgeschichten. Ill. Heike Wiechmann. Bindlach: Loewe 2008.
Die wilden Prinzessinnen: Vorlesegeschichten. Ill. Eva Czerwenka. Freiburg: Herder 2008.
Lesetiger-Drachengeschichten. Ill. Bettina Gotzen-Beek. Bindlach: Loewe 2009.
Kleine Weihnachtsmann-Geschichten zum Vorlesen. Ill. Eva Czerwenka. Hamburg: Ellermann 2009.
Schokolade am Meer: Vorlesegeschichten. Ill. Eva Czerwenka. Freiburg: Herder 2009.
Schiffbruch auf der Pirateninsel. Ill. Catharina Westphal. Hamburg: Oetinger 2010.
Kleine Lachgeschichten zum Vorlesen. Ill. Annette Fienieg. Hamburg: Ellermann 2010.
Max und das Murks. Ill. Bettina Gotzen-Beek. Hamburg: Oetinger 2010.
Julius und die Sache mit der Liebe. Ill. Barbara Korthues. Freiburg: KeRLE 2010.
Papa, ich und die Piraten-Bande. Ill. Catharina Westphal. Hamburg: Oetinger 2011.
Papa, ich und die Dinosaurier. Ill. Catharina Westphal. Hamburg: Oetinger 2012.
Papa, ich und der faltbare Parkplatz. Ill. Elisabeth Bruder. Freiburg: KeRLE 2012.
Mama im Gepäck. Ill. Bettina Gotzen-Beek. Hamburg: Oetinger 2013.
Lesepiraten Detektivgeschichten. Ill. Cornelia Haas. Bindlach: Loewe 2013.
Die wunderliche Reise von Oliver und Twist. Bindlach: Loewe 2003.
Das Adoptivzimmer. Bindlach: Loewe 2004.
Morgenstern. Bindlach: Loewe 2004.
Ein Fall für die Katz: Pizzakrise. Bindlach: Loewe 2003.
Ein Fall für die Katz: Mäusejagd. Bindlach: Loewe 2003.
Hundeliebe. Ein Fall für die Katz. Bindlach: Loewe 2004.
Katzenfaxen. Ein Fall für die Katz. Bindlach: Loewe 2004.
Hier bei uns in Ammerlo. Bindlach: Loewe 2005.
Viel los bei uns in Ammerlo! Bindlach: Loewe 2005.
Bora oder das Geheimnis der Klosterruine. Boddin: Kunsthaus Verlag 2005.
Advent bei uns in Ammerlo. Bindlach: Loewe 2006.
Das Geheimnis des 12. Kontinents. Bindlach: Loewe 2007.
Laura und der Silberwolf. Freiburg: KeRLE 2007.
Die Nacht der gefangenen Träume. Hamburg: Oetinger 2008.
Jenseits der Finsterbach-Brücke. Hamburg: Oetinger 2008.
Wenn der Windmann kommt. Freiburg: Herder 2009.
Kreuzberg 007 – Mission grünes Monster. Ill. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2009.
Kreuzberg 007 – Geheimnisvolle Graffiti. Ill. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2010.
Codewort 007 – Heimliches im Hinterhof. Ill. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2011.
Codewort 007 – Alarm im Advent. Ill. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2012.
Wolfsgarten Kerle. Frankfurt/M.: Fischer KJB 2013. [EA 2011]
Sturm bei uns in Ammerlo! Hamburg: Tredition 2013.
Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus. Ill. Imke Sönnichsen. Hamburg: Oetinger 2013.
Ella Fuchs und das Rätsel des fahrenden Inseltheaters. Ill. Imke Sönnichsen. Hamburg: Oetinger 2014.
Das Blaubeerhaus. Ill. Claudia Carls. Hamburg: Oetinger 2015.
Wind und der geheime Sommer. Ill. Claudia Carls Hamburg: Oetinger 2018
Mike und ich und Max Ernst. Bindlach: Loewe 2003.
Tigermond. Bindlach: Loewe 2005.
Drachen der Finsternis. Bindlach: Loewe 2008.
Der Märchenerzähler. Hamburg: Oetinger 2011.
Die Worte der weißen Königin. Hamburg: Oetinger 2011.
Solange die Nachtigall singt. Hamburg: Oetinger 2012.
Nashville oder Das Wolfsspiel. Hamburg: Oetinger 2013.
Niemand liebt November. Hamburg: Oetinger 2014.
Die Attentäter. Hamburg: Oetinger 2016.
Grenzlandtage (Antonia Michaelis und Peer Martin). Hamburg: Oetinger 2016.
Tankstellenchips. Hamburg: Oetinger 2018.
Wie Wladimir ostern ging. Weissach i.T.: Alkyon 2003.
Der letzte Regen. Augsburg: Wißner 2009.
Paradies für alle. München: Droemer-Knaur 2013.
Friedhofskind. Köln: Emons 2014.
Das Institut der letzten Wünsche. München: Droemer-Knaur 2015.
Im Auge des Leuchtturms. Köln: Emons 2015.
Die Allee der verbotenen Fragen. München: Droemer-Knaur 2016.
Mr. Widows Katzenverleih. München: Knaur 2017.
4.5 Theaterstücke [1]
Als Download auf der Internetseite der Autorin
Finnland oder: Noras Tag (Uraufführung 2009, Stadttheater Greifswald)
Bruno oder das Bärenproblem
Bora (Musical in 8 Songs)
Mord auf Schloss Montessori
Der Hexenspiegel
Krippenspiel
Letzter Auftritt: Mitternacht (Uraufführung 2012, Greifswald)
Schirmherrschaften (Uraufführung 2013)
East Side Story (Uraufführung 2013, Wolgast)
Rauswählen (Uraufführung 2014, Wolgast)
Grenzenlos (Uraufführung 2016, Wolgast)
Interview mit Antonia Michaelis. URL: http://www.oetinger.de/buecher/specials/antonia-michaelis/interview-antonia-michaelis.html
Eckmann-Schmechta, Stefanie: Interview mit Antonia Michaelis. URL: https://www.kinderbuch-couch.de/magazin/interview/archiv-2010-2004/05-2007-antonia-michaelis/
Büker, Petra /Kammler, Clemens: Das Fremde und das Andere in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Büker, Petra /Kammler, Clemens (Hg.): Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Weinheim: Juventa 2003, S. 7-27.
Büker, Petra: Hier kommt Lola! Die unkonventionelle bikulturelle Familie in Isabel Abedis neuer Kinderbuchreihe. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien 2, 2006, S. 104-111.
Burkard Mirjam: Antonia Michaelis: Jenseits der Finsterbach-Brücke (2009). In: Spinner, Kaspar H./Standke, Jan (Hg.): Erzählende Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht. Textvorschläge – Didaktik – Methodik. Ferdinand Schöningh: Paderborn 2016, S. 256-259
Butzer, Günter/ Jacob, Joachim (Hrsg.): Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/ Weimar 2008: Metzler.
Esselborn, Karl: Interkulturelle Literatur. Entwicklungen und Tendenzen. In: Honnef-Becker, Irmgard (Hg.): Dialoge zwischen den Kulturen. Interkulturelle Literatur und ihre Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider 2007, S. 9-28
Freudenberg Ricarda: "Und es war alles, alles gut“?: Gewalt in den Jugendromanen von Antonia Michaelis. In: Kjl & m, Jg. 66, H. 4, 2014, S. 13-23.
Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.
Hinze, Adrienne: Von Indien nach Großbritannien: Antonia Michaelis und ihr Romandebüt. In: Bulletin Jugend + Literatur, Jg. 34, H. 2, 2003, S. 5-6.
Hoppe, Henriette: Das Individuum im Interkulturellen. Eigennamen als Thema von Reflexionen der Protagonisten in der interkulturellen Kinder- und Jugendliteratur. In: interjuli 2, 2011, S. 53-69.
Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Band 1: A-G. Stuttgart: J.B. Metzler 2004.
Kurwinkel, Tobias: Intertextualität: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/200-intertextualitaet
Lindgren, Astrid: Klingt meine Linde. Hamburg: Oetinger 1990.
Manz Katrin: "Der Märchenerzähler“: problemorientierte Fantastik., In: Deutschunterricht, Jg. 67, H. 4, 2014, S. 24-29.
Mikota, Jana; Pecher, Claudia Maria: „Wie die meisten Schriftsteller bin ich ein leidenschaftlicher Leser“. Intertextualität in Werken Paul Maars. In: Wicke, Andreas; Roßbach, Nikola (Hg.): Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Würzburg 2017: Königshausen & Neumann, S. 49–68.
Mikota, Jana (2017): Antonia Michaelis. In: Franz, Kurt/ Lange, Günter (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Corian 2017.
O’Sullivan, Emer: Kulturelle Hybridität und Transfer. Black Britain in der (ins Deutsche übersetzten) Kinder- und Jugendliteratur. In: Nassen, Ulrich/Weinkauff, Gina (Hg.): Konfigurationen des Fremden in der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. München: Iudicium 2000, S. 75-93.
Ratajczak, Marta: "Geschichten sind ausgezeichnete Fluchtwege“: zu räumlichen Vorstellungen von nichträumlicher Wirklichkeit in Antonia Michaelis' Roman "Tigermond". In: Gansel, Carsten: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung?: zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Winter Verlag: Heidelberg 2011, S. 365-382.
Schmerheim, Philipp (2012): Intermedialität: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/198-intermedialitaet.
Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 200, 2006. S. 6-16.
Schweikart, Ralf: Übergänge: junge Erwachsene fühlen sich oft zu alt für Antonia Michaelis und zu jung für den neuen Walser ; Verlage entdecken diese Lesegeneration gerade als potenzielle Zielgruppe (wieder). In: Börsenblatt, Jg. 184, Spezial H. 6, 2017, S. 32-33.
Weinkauff, Gina/von Glasenapp, Gabriele: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn: Schöningh 2010.
Wicke, Andreas (2014): Intertextualität. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber. 52. Meitingen: Erg.-Lfg. Corian, S. 1–24 (bzw. http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/begriffe-und-termini/1840-intertextualitaet-in-der-kinder-und-jugendliteratur, 2016).
Zöhrer, Marlene: Zwischentitel. Oder: warum man selten nackte Texte trifft. In: 1000 und 1 Buch. 3, 2009, S. 38.
5. Internetquellen (zuletzt geöffnet am 3.09.2018)
Kumschlies, Kirsten: Rezension zu „Der Märchenerzähler“. URL: http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/literaturkritiken/362-michaelis-antonia-der-maerchenerzaehler, 2012.
Hagemann, Christine: Unterrichtsmaterialien zu: Antonia Michaelis. Der Märchenerzähler. Hamburg: Oetinger 2013. URL: http://www.oetinger.de/fileadmin/verlagsgruppe-oetinger.de/vsg_images/unterrichtsmaterial/9783841502476.pdf
http://www.antonia-michaelis.de/theater/
https://www.antonia-michaelis.de/startseite/
Endnoten
[1] Als Download auf der Homepage der Autorin unter: https://www.antonia-michaelis.de/theater/