Explikat

Sehr lange, bis weit in die 1980er Jahre hinein, verstand man unter Literacy vor allem den Erwerb des Lesens und Schreibens (Functional Literacy), erst mit dem Aufkommen der Literacy Studies in den englischsprachigen Ländern wurde der Begriff erweitert und auf weitere Fähigkeiten, wie etwa Text- und Sinnverständnis und Kompetenz im Umgang mit verschiedenen medialen Formen, ausgedehnt (Cultural Literacy). Diese Kompetenzen umfassen nicht nur das rezeptive Verständnis, sondern beziehen auch produktive Fähigkeiten ein, d. h. die Kompetenz, selbst entsprechende mediale Formen eigenständig zu kreieren.

Hinsichtlich des Sammelbegriffs Literacy unterscheidet man noch weitere spezifische Formen:  

a. Literary Literacy, d. i. die Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren; in der deutschen Forschung oft als "Literaturerwerb" bezeichnet, 

b. Visual Literacy als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb), 

c. Verbal Literacy als die Fähigkeit, Sprache und mündlich produzierte Texte zu dekodieren und zu verstehen, und

d. Media Literacy als die Kompetenz, mit verschiedenen Medien (Printmedien, AV-Medien, interaktive Medien) umgehen zu können.

Hinsichtlich des Umgangs mit verschiedenen Medien wird noch zwischen Computer Literacy, Film Literacy, Manga Literacy, Digital Media Literacy (e-book, iPad) usw. unterschieden (vgl. Coiro u. a. 2009; Ingulsrud 2010; Robinson 2009; Stafford 2011).

Des Weiteren haben sich die Literacy Studies über die Einbindung in die literatur- und sprachwissenschaftlichen Fächer sowie die Pädagogik hinaus auch in anderen Disziplinen etabliert. So gibt es eine eigenständige Forschung im Bereich der Geographic Literacy (wozu u .a. das Verstehen von Karten und Atlanten gehört, (siehe Rogers 1997)) oder der Math Literacy (Kompetenz im Umgang mit mathematischen Symbolen und mathematischer Fachsprache (siehe Fogelberg 2008; Jetton 2012)). Die damit verbundenen Fähigkeiten werden in einem offenen Erwerbsprozess erworben,  der nicht nur die Kindheits- und Jugendphase, sondern auch das Erwachsenenalter einschließt. 

Die Literacy Studies weisen zwar einige Gemeinsamkeiten mit der literarischen Sozialisationsforschung auf, sind aber im Gegensatz zu diesem theoretischen Ansatz weitaus breiter angelegt. Die literarische Sozialisationsforschung geht der Frage nach, wie jemand zu einem Leser bzw. einer Leserin wird, wobei sie das Augenmerk ausschließlich auf literarische Texte richtet und folglich nicht-fiktionale Texte wie etwa Sachliteratur oder Zeitungen ausschließt. Im Gegensatz zur Leseforschung bezieht diese dagegen literarische Sozialisationsformen ein, die nicht auf der Lektüre beruhen, d. h. sie untersucht die frühkindliche literarische Sozialisation (z. B. Vorlesesituationen) ebenso wie den Einfluss anderer Medien auf die literarische Rezeptions- und Produktionsfähigkeit (Eggert/Garbe 1995). 

In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die basalen kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fähigkeiten, die für das Verstehen von Literatur relevant sind, bereits im Vorschulalter erworben werden, wenn Kinder ab dem Alter von 10 bis 12 Monaten mit Kleinkindbilderbüchern – zumindest in westlichen Kulturen – in Kontakt kommen. Die Literacy-Konzepte und -kenntnisse, die Kinder in der Vorschulzeit erwerben, werden als Early Literacy oder zuweilen auch als Emergent Literacy bezeichnet.

Um diesen Erwerbsprozess detaillierter zu beschreiben, sind zahlreiche empirische Studien durchgeführt worden, die sich vor allem auf die Vorlesesituation im Vorschulalter und den kindlichen Erzählerwerb fokussierten (Braun 1995; Boueke u. a. 1994; Jones 1996; Wieler 1997). Im Rahmen dieses Erwerbsprozesses spielt Kinderliteratur (später kommen noch andere Kindermedien hinzu) eine wichtige Rolle. Denn die frühkindlichen Erfahrungen mit Literatur sind einerseits bestimmt durch den mündlichen Vortrag von Kinderliedern, Kinderversen und Geschichten, andererseits durch das gemeinsame Betrachten und Vorlesen von Bilderbüchern und Kinderbüchern. Kleine Kinder werden zunächst an das Konzept "Buch" herangeführt, erfassen durch das Betrachten der Bilder visuelle Codes (Bilderwerb) und werden durch das Zeigen und Benennen der abgebildeten Gegenstände bei ihrem Wortschatzerwerb unterstützt (Kiefer 1995; Kümmerling-Meibauer 2012; Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011; Nikolajeva 2003). Diese Korrelation macht schon deutlich, dass Bilderwerb, Spracherwerb und Literaturerwerb eng miteinander verzahnt sind. Später werden Kinder mithilfe komplexerer Bilderbücher und Kinderbüchern mit einfachen Geschichten mit dem Konzept "Narration" vertraut gemacht.

Darüber hinaus werden die kindlichen Rezipienten allmählich an literarische Phänomene herangeführt. So wurde im Rahmen der Early Literacy-Forschung nachgewiesen, dass Kinder im Vorschulalter schon erste Kenntnisse bestimmter literarischer Funktionen und Formen erwerben, z. B. Genrebewusstsein, Fiktionsbewusstsein, Verstehen von Komik und indirektem Sprachgebrauch (Metapher, Ironie) sowie rudimentäres Wissen über Intertextualität und die Bedeutung der Erzählerperspektive. Diese Kenntnisse unterstützen die zunehmende Fähigkeit, über Sprache und Literatur zu reflektieren. Man bezeichnet diese Fähigkeit als metalinguistische bzw. metaliterarische Aufmerksamkeit (Gombert 1992). Diese Kenntnisse werden nicht nur passiv erworben, sondern im spielerischen Umgang von den Kindern selbst angewendet. Kinder erwerben die Fähigkeit, selbst Geschichten zu erzählen und dies geht Hand in Hand mit dem Verstehen komplexer Strukturen in literarischen Texten.

Die Bedeutung der frühen Begegnung mit Kinderliteratur und Kindermedien für den Erwerb von Literacy ist durch das "Bookstart"-Projekt, das 1993 an der Universität Birmingham initiiert und später auf ganz Großbritannien ausgeweitet wurde, herausgestellt worden. Seitdem gibt es weltweit ähnliche Projekte, die sich darum bemühen, Eltern dazu anzuregen, ihren Kindern ab dem Alter von 12 Monaten (teilweise sogar schon früher), Bilderbücher vorzulesen, ihnen Geschichten zu erzählen und mit ihnen gemeinsam Kinderlieder einzuüben. Seit November 2011 gibt es ein entsprechendes Projekt mit dem Titel "Lesestart" auch in Deutschland, gefördert vom BMBF und organisiert von der Stiftung Lesen (www.lesestart.de).    

Mit dem Eintritt in die Schule beherrschen die Kinder weitgehend ihre Muttersprache, doch der Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben (Literacy im engeren Sinne) beginnt erst. Das Kind wird nun mehr und mehr fähig, Literatur selbständig zu rezipieren und zu produzieren.

Diese ganzen Erwerbsprozesse sind äußerst komplex, zumal dann, wenn verschiedene Literacy-Formen interagieren wie etwa beim Bilderbuch, Kinderfilm, Comic oder Computerspiel. Der potenzielle Nutzer muss dann Kenntnisse über visuelle und sprachliche Symbole besitzen, um die auf der Text- und Bildebene (beim Film und Computerspiel noch ergänzt um eine auditive Ebene) vermittelten Inhalte angemessen zu verstehen.

Die Interaktion verschiedener Symbolsysteme in einem Medium wird als "Multimodalität" bezeichnet, einem Ansatz, der von Gunter Kress und Theo van Leeuwen entwickelt wurde und darauf aufmerksam macht, dass diese Symbolsysteme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen. Darüber hinaus besitze jedes Symbolsystem eine eigene "Grammatik", die nicht angeboren, sondern durch einen langwierigen Prozess erworben werde (Jewitt/Kress 2003; Kress 1997; Kress/van Leeuwen 1996). In Anlehnung an die Untersuchungen von Kress und van Leeuwen verwendet man zuweilen auch den Begriff Multiple Literacy, um auf den Umstand hinzuweisen, dass bei der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen und Medien in der Regel mindestens zwei verschiedene Literacy-Ebenen involviert sind.

Diese grundlegenden Aspekte, die sowohl für die allgemeine Literaturwissenschaft als auch für die Literaturdidaktik von großem Interesse sein dürften, können nur durch einen interdisziplinären Zugang, der Ergebnisse der Kinderliteraturforschung, kognitiven Psychologie, Bildwissenschaft, Narrationsforschung, Spracherwerbsforschung und Literacy Studies berücksichtigt, erforscht werden. Es hat schon einige fruchtbare Versuche gegeben, das Zusammenspiel von Kinderliteratur und Literacy, auch unter Berücksichtigung des kindlichen Spracherwerbs, zu analysieren, (u. a. Hall u. a. 2003; Klein/Meibauer 2011; Kümmerling-Meibauer 2011; Rau 2007), die Forschung steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen. 


Bibliografie

  • Boueke, Dietrich u. a.: Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink, 1995.
  • Braun, Barbara: Vorläufer der literarischen Sozialisation in der frühen Kindheit – eine entwicklungspsychologische Fallstudie. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1995.
  • Children Reading Pictures. Interpreting Visual Texts. Hrsg. von Evelyn Arizpe und Morag Styles. London: Routledge, 2003.
  • Early Childhood Literacy. Hrsg. von Jennifer Rowsell. 4 Bde. London: Sage, 2012.
  • Eggert, Hartmut und Christine Garbe: Literarische Sozialisation. Stuttgart: Metzler, 1995.
  • Emergent Literacy. Children’s books from 0 to 3. Hrsg. von Bettina Kümmerling-Meibauer. Amsterdam: John Benjamins, 2011.
  • Fogelberg, Ellen: Integrating Literacy and Math. New York: Guilford Press, 2008.
  • Gombert, Jean: Metalinguistic Development. New York: Harvester Wheatsheaf, 1992.
  • Goswami, Usha: Cognition in Children. London: Psychology Press, 1998.
  • Hall, Nigel: The Emergence of Literacy. London: Hodder & Stoughton, 1997.
  • Handbook of Early Childhood Literacy. Hrsg. von Nigel Hall, Joanne Larsson und Jackie Marsh. Thousand Oaks: Sage, 2003.
  • Handbook of Research on New Literacies. Hrsg. von Julie Coiro, Michele Knobel, Colin Lanksheart, Donald Leu. New York: Routledge, 2009.
  • Ingulsrud, John E.: Reading Japan Cool. Patterns of manga literacy and discourse. Lanham: Lexington Books, 2010.
  • Jetton, Tamara: Adolescent literacy in the academic disciplines. New York: Guilford Press, 2012.
  • Jones, Rhian: Emerging Patterns of Literacy: A Multidisciplinary Perspective. London/New York: Routledge, 1996.
  • Kiefer, Barbara: The Potential of Picturebooks: From Visual Literacy to Aesthetic Understanding. Englewood Cliffs: Merrill, 1995.
  • Press, Gunther: Before Writing: Rethinking the Paths to Literacy. London/New York: Routledge, 1997.
  • Kress, Gunther und Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design. London: Routledge, 1996.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Literacy. In: The Oxford Encylopedia of Children’s Literature. Hrsg. von Jack Zipes. Oxford: Oxford University Press, 2006. Bd. 2. S. 452-453.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Bilder intermedial. Visuelle Codes erfassen. In: Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Hrsg. von Anja Pompe. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2012.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina und Jörg Meibauer: Early-concept books: Acquiring nominal and verbal concepts. In: Emergent Literacy. Children’s books from 0 to 3. Hrsg. von Bettina Kümmerling-Meibauer. Amsterdam: John Benjamins, 2011. S. 91-114.
  • Literatur im Laufstall. Bilderbücher für die ganz Kleinen. Hrsg. von Bettina Kümmerling-Meibauer und Maria Linsmann. Troisdorf: Bilderbuchmuseum Burg Wissem, 2009.
  • Lowe, Virginia: Stories, Pictures and Reality. Two Children Tell. London: Routledge, 2007.
  • Moerk, Ellen: Picture-book reading by mothers and young children and its impact upon language development. Journal of Pragmatics 9 (1985). S. 547-566.
  • Multimodal Literacy. Hrsg. von Carey Jewitt und Gunther Kress. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2003.
  • Nikolajeva, Maria: Verbal and visual literacy: The role of picturebooks in the reading experience of young children. In: Handbook of Early Childhood Literacy. Hrsg. von Nigel Hall, Joanne Larson und Jackie Marsh. Thousand Oaks: Sage, 2003. S. 235-248.
  • Ninio, Anait und Jerome Bruner: The achievement and antecedents of labelling. Journal of Child Language 5 (1978). S. 1-15.
  • Paul, Peter V. und Ye Wang: Literate Thoughts. Understanding Comprehension and Literacy. London: Jones & Bartlett, 2012.
  • Rau, Marieluise: Literacy. Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. Bern: Haupt, 2007.
  • Robinson, Helen Mele: Emergent Computer Literacy. A Developmental Perspective. London: Routledge, 2009.
  • Rogers, Linda: Geographic Literacy through Children’s Literature. Englewood: Teacher Idea Press, 1997.
  • Snow, Catherine: What counts as literacy in early childhood? In: Blackwell Handbook of Early Childhood Development. Hrsg. von Kathleen McCartney und Deborah Philips. Oxford: Blackwell, 2006. S. 274-294.
  • Spracherwerb und Kinderliteratur. Hrsg. von Wolfgang Klein und Jörg Meibauer. Sonderheft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 162 (2011).
  • Stafford, Tim: Teaching Visual Literacy in the Primary Classroom. Comic Bboks, Fflm, television, and picture narratives. New York: Routledge, 2011.
  • Whitehead, Marian: Language and Literacy in the Early Years. 3. Auflage. Thousand Oaks: Sage, 2004.
  • Wieler, Petra: Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-ästhetischen Sozialisation von Vierjährigen. Weinheim: Juventa, 1997.