Explikat

Der zeitliche und fiktive Abstand zwischen dem Erzählen und dem Erzählten ergibt sich aus der Standortbestimmung des Erzählens: So kann dieses entweder vor dem Erzählten, nach diesem oder auch gleichzeitig zu diesem positioniert sein. Erkennbar ist der Zeitpunkt des Erzählens zumeist anhand der entsprechenden Tempusverwendung von Futur, Präteritum oder Präsens (vgl. Jannidis, Spörl und Fischer 2005a). Schon generell kann für Erzählzeitpunkte festgehalten werden, dass der zeitliche Abstand nicht immer deutlich bestimmbar ist oder eher vage als ein in Zukunft, irgendwann oder damals bleibt (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 72). Verkompliziert werden kann dieses zeitliche Verhältnis noch durch die Form des eingeschobenen Erzählens, sodass eine Bestimmung der Zeitabstände zwischen Erzählen und Erzähltem nicht mehr möglich ist (vgl. ebd.).

Der Fall des früheren Erzählens, also eines Erzählens, welches vor dem zu Erzählenden liegt, lässt sich relativ selten finden und wird von Matías Martínez und Michael Scheffel für den Bereich der prophezeienden Binnenerzählungen ausgewiesen (vgl. ebd. S. 72-73). Eben eine solche liegt in Harry Potter und der Orden des Phönix in Form von Sibyll Trelawneys Prophezeiung vor: "[D]er Eine, mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, wird geboren werden, wenn der siebte Monat stirbt [...]" (Rowling 2003, S. 906) Markiert wird die Prophezeiung als Form des früheren Erzählens zum einen über die enthaltenen Futur-Konstruktionen und zum anderen auf typographischer Ebene durch die Kursivierung.

Über die Tatsache, dass Albus Dumbledore den Zeitpunkt des Gesprächs von ihm und Sibyll Trelawney mit "einer kalten, regnerischen Nacht vor sechzehn Jahren" (ebd.) relativ klar benennt und dieser somit im Jahr vor Harry Potters Geburt fixiert werden kann, lässt sich ein zeitlicher Abstand von weniger als einem Jahr zwischen prophezeiender Erzählung und prophezeiter Geburt bestimmen, vielleicht sogar weniger, denn immerhin verweist Sibyll Trelawney darauf, dass "der Eine, mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen" (ebd.) bereits herannaht (vgl. ebd.).

Das gleichzeitige Erzählen zeichnet sich auf Tempus-Ebene zunächst über den Gebrauch des Präsens aus. Da das sogenannte historische Präsens jedoch auch das Präteritum ersetzen kann, reicht der Gebrauch des Präsens allein nicht aus, um das gleichzeitige Erzählen zu bestimmen (vgl. Jannidis, Spörl und Fischer 2005b). Ein weiteres wichtiges Kriterium, das zur Markierung von Gleichzeitigkeit beiträgt, ist die Verwendung von zeitdeckendem Erzählen. So wird über das zeitdeckende Erzählen von den Bewegungen der Scheibenwischer in Clare Furniss’ Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb ein gleichzeitiges Erzählen markiert: 

Die Ampel strahlt rot durch die verregnete Windschutscheibe, verschwommen, klar, wieder verschwommen, im Takt der Scheibenwischer. Direkt vor uns steht der Leichenwagen. Ich sehe nicht hin. (Furniss 2014, S. 11)

Auch Kalle Blomquists intradiegetisches Erzählen zeugt davon, dass es sich bei diesem um ein gleichzeitiges und zeitdeckendes Erzählen handelt: 

"Onkel Björk und der, der am Steuer saß, zielen auf das Auto", berichtete er Anders und Eva-Lotta. "Und der dicke Kommissar reißt die Autotür auf – Junge, wie die aufeinander losgehen! Jetzt kommt Redig, er hat auch einen Revolver – peng – jetzt bekommt er einen Schlag von Onkel Björk, sodass er den Revolver verliert, hört bloß – Mensch, ist das gut – und da ist Onkel Einar, aber er hat keinen Revolver, er haut bloß um sich, aber jetzt, jetzt legen sie dem Kerl tatsächlich Handschellen an und auch dem Redig." (Lindgren 2004, S. 130)

Die zahlreichen temporalen Marker unterstützen diesen Eindruck zudem noch; auch Martínez und Scheffel markieren diese Art der Mauerschau als Indiz für das gleichzeitige Erzählen (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 73).

Als Normalfall des Erzählens kann das spätere Erzählen benannt werden. Bei diesem handelt es sich um ein Erzählen, welches dem Erzählten nachgeordnet ist und in erster Linie durch die Verwendung des epischen Präteritums markiert wird (vgl. ebd. S. 74). Auch wenn der genaue zeitliche Abstand zwischen Erzählen und Erzählten nicht immer eindeutig bestimmbar ist bzw. nicht immer relevant ist, verwenden sich Martínez und Scheffel dagegen, der Vergangenheitsform jeglichen temporalen Bezug abzusprechen (vgl. ebd. S. 75). Dies gilt auch, selbst wenn es sich bei dieser Vergangenheitsdarstellung nur um eine zeitlose bzw. zeitlich unbestimmbare Vergangenheit handelt, wie die meisten Märchen und auch Otfried Preußler in Die kleine Hexe über die für das Grimm’sche Märchen typische Anfangsformel suggerieren: "Es war einmal eine kleine Hexe […]." (Preußler 1957, S. 3).

Meister Hora in Michael Endes Momo scheint sich für ein solches eher zeitloses Erzähltes zu entscheiden, wenn er ausführt:

"Ich habe Ihnen das alles erzählt", sagte er nämlich, "als sei es bereits geschehen. Ich hätte es auch so erzählen können, als geschehe es erst in der Zukunft. Für mich ist das kein so großer Unterschied." (Ende 2013, S. 268)

Nichtsdestotrotz verweisen Martínez und Scheffel darauf, dass "im Rahmen des imaginären Kontextes […] nach wie vor [gilt], dass der Akt des Erzählens den Ereignissen der erzählten Geschichte zeitlich nachgeordnet ist." (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 75). Über den Verweis auf das spätere Erzählen wird also weniger das Erzählte in einer klar bestimmbaren Vergangenheit verordnet, sondern das zeitliche Verhältnis von Erzählen und Erzähltem als ein nachträgliches bestimmt und darüber gerade bei homodiegetischen Erzählern ihr Verhältnis zum Erzählten und die mögliche Distanz, die sie zu diesem haben, dargelegt. So wird über die Bestimmung des Abstandes von Max' Erzählung zu den ersten Abenteuern mit Herrn Bello, die um seinen 12. Geburtstag herum geschahen (vgl. Maar 2012, S. 14) deutlich, dass er selbst zu den Geschehnissen einen zeitlichen Abstand hat und sie im Nachhinein erzählt: "Wenn damals nicht diese alte Frau in Papas Apotheke gekommen wäre, dann wäre uns viel Aufregung erspart geblieben." (ebd. S. 13) 

Es ist diese Unterscheidung, die für die Bestimmung des Zeitpunktes des Erzählens von Bedeutung ist und nicht etwa die genaue Verortung des Erzählten oder etwa die sekundengenaue Bestimmung des zeitlichen Abstandes. 

Das eingeschobene Erzählen zeichnet sich dadurch aus, dass das erzählte Geschehen zu Beginn oder zum Zeitpunkt des Erzählens noch nicht abgeschlossen ist und sich so Momente gleichzeitigen und späteren Erzählens abwechseln, da "der Zeitabstand zwischen dem Erzählten und dem Erzählen […] in diesem Fall soweit verringert [ist], dass passagenweise von einem gleichzeitigen Erzählen gesprochen werden kann." (vgl. Martínez und Scheffel 2012, S. 77)

Die Idealform des eingeschobenen Erzählens ist der Tagebuch- oder der (elektronische) Briefroman, bei dem der oder die Schreibenden sowohl Erzählende als auch handelnde Figuren sind und zudem über zeitlich – und damit auch emotional – geringe Distanz zum Erzählten verfügen (vgl. ebd.).

Der Schreib- als Erzählprozess ist jedoch zeitlich gebunden und so entsteht bisweilen eine "Zeitdifferenz zwischen Schreiben und Erleben" (ebd.), die ein tatsächlich späteres Erzählen ermöglicht und bedingt. 

So ist Peter Härtlings E-Mail-Roman Hallo Opa – Liebe Mirjam geprägt durch Momente gleichzeitigen Erzählens, so schreibt der Opa bspw.: "Jetzt sitze ich noch da und tippe einen Brief in den Computer." (Härtling 2013, S. 6)

Gleichzeitig finden sich auch Passagen, die ein späteres Erzählen markieren: "Liebste Mirjam, du bist also nicht zum Wochenende erschienen." (ebd. S. 9) 

Und schließlich auch Textstellen, die eine Verschränkung der beiden zeigen und gleichzeitig auch die emotionale Nähe, die Mirjam zum Erzählten bzw. zum Tod ihres Opas hat, verdeutlichen: 

Wir müssen aufhören zu mailen. Mama, die zufällig in meine E-Mails geguckt hat, verbietet mir, weiter Mails zu schreiben. Und das an deiner Stelle. Ich soll mich in meine Trauer nicht reinsteigern. Jetzt könnte ich ein paar Sätze von dir brauchen. Ich weine mal wieder. (ebd. S. 67)


Bibliografie

Primärliteratur

  • Ende, Michael: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Stuttgart/Wien: Thienemann-Verlag, 2013. 
  • Härtling, Peter: Hallo Opa – Liebe Mirjam. Eine Geschichte in E-Mails. Weinheim/Basel: Beltz, 2013.
  • Furniss, Clare: Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb. München: Hanser, 2014.
  • Lindgren, Astrid: Kalle Blomquist Meisterdetektiv. In: Dies.: Kalle Blomquist. München: Omnibus, 2004. S. 7-136.
  • Maar, Paul: Herr Bello und das blaue Wunder. In: Ders.: Alles von Herrn Bello. Hamburg: Oetinger, 2012. S. 13-227.
  • Preußler, Otfried: Die kleine Hexe. Stuttgart/Wien: Thienemann, 1957. 
  • Rowling, J. K.: Harry Potter und der Orden des Phönix. Hamburg: Carlsen, 2003.

Sekundärliteratur