"Vor nicht allzu langer Zeit kam ich der Bitte nach, eine Einführung in die Lyrikanalyse zu schreiben  […]" (Bode 2011, S. XVI) Dieser Satz oder vielmehr Halbsatz findet sich im Vorwort zu Christoph Bodes Einführung – allerdings nicht die Lyrik, sondern – in den Roman. Wenngleich er die Lyrik somit nur als kleinen Umweg für seine Einführung in die Romananalyse nutzt, verdeutlichen seine Ausführungen verschiedene Aspekte des Umgangs mit der Lyrik. So führt er weiter aus:

Vor nicht allzu langer Zeit kam ich der Bitte nach, eine Einführung in die Lyrikanalyse zu schreiben, und in diesem Zusammenhang dachte ich darüber nach, warum – was ein offenes Geheimnis ist – Schüler und Studenten einen so großen Bogen um die Lyrik schlagen, wo immer sie können. (ebd.)

Das genannte Geheimnis kann durchaus als mehr als offen verstanden werden; es wird zumindest von den meisten AutorInnen von Einführungsbänden zur Lyrik geteilt. So überschreibt Hans-Dieter Gelfert das erste Kapitel seiner Einführung in die Verslehre pointiert mit "Wozu überhaupt Verse?" (Gelfert 1998, S. 6) und das erste Kapitel in seinem Band Wie interpretiert man ein Gedicht mit "Wozu überhaupt Interpretationen?" (Gelfert 1994, S. 6).

Er stellt damit zwei Fragen, die sich möglicherweise durchaus dem einen oder anderen mitten in einer Stunde zur Gedichtanalyse durchaus auch gestellt haben – und dies gilt, so Gelfert, sogar für Studierende der Literaturwissenschaften, "bei denen man doch wohl am ehesten ein überdurchschnittliches Interesse an Literatur vermuten darf […]."(ebd.)

(Er darf.) 

Einen mehr oder minder Schuldigen für die geringe Begeisterung vieler Studierender und Lyriklesender identifiziert Gelfert relativ problemlos: den Schulunterricht (vgl. ebd.). Auch für diesen Befund lassen sich zahlreiche Gewährsmenschen finden. So beschreibt Stephen Fry in seinem Band The Ode Less Travelled: Unlocking the Poet Within seine Klassenzimmererfahrungen mit der Lyrik und ihrer Analyse sehr bildhaft: "Behind it all, the dread memory of classrooms swollen into resentful silence while the English teacher invites us to 'respond' to a poem." (Fry 2010, Pos. 100-101) Diese Bildhaftigkeit gilt zudem für die Beschreibung der nahezu körperlichen Qualen, die sich aus der gemeinsamen Gedichtanalyse im Schulunterricht ergeben: "It brings it all back, doesn’t it? All the red-faced, blood-pounding humiliation and embarrassment of being singled out for comment." (ebd. Pos. 164-165)

Die Lösung für all dieses Unbehagen kann jedoch nicht der Verzicht auf Gedichte und den Umgang mit ihnen sein. Vielmehr soll im Folgenden und ganz ohne rotgesichtige Peinlichkeiten versucht werden, eine Auseinandersetzung mit den Elementen und wichtigen theoretischen Konzepten der Lyrikanalyse anhand von Beispielen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendlyrik vorzustellen. Dieses Vorhaben entspringt nicht einem genuin normativen Verständnis, welches aus Gelferts eher unglücklichem Vergleich zu sprechen scheint:

Ein Student der Germanistik, der vorgibt, sich für Literatur zu interessieren, aber bekennt daß [sic] er für Lyrik keinen Nerv habe, ist wie ein Farbenblinder, der Malerei studiert. (Gelfert 1994, S. 6) 

Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, sich der Lyrik über ein Interesse zu nähern, welches ihre Bedeutung auch über das Literaturstudium hinaus unterstreicht: "I believe poetry is a primal impulse within us all. I believe we are all capable of it and furthermore that a small, often ignored corner of us positively yearns to try it." (Fry 2010, Pos. 96-98)

Dieses Interesse an der Lyrik und die Auseinandersetzung mit dieser soll zudem mit körperlichen Empfindungen weit jenseits von Scham und Unbehagen assoziiert werden: "Among the pleasures of poetry is the sheer physical, sensual, textural, tactile pleasure of feeling the words on your lips, tongue, teeth and vocal cords." (ebd. Pos. 266-267) 

Die beschriebene körperliche Empfindung lässt sich jedoch nicht nur als ein Spiel mit Sprache verstehen, sondern schreibt sich bspw. auch in die Analyse von strukturellen – und möglicherweise wenig beliebten – Elementen wie dem Metrum ein: "THE LIFE OF A POEM IS MEASURED IN REGULAR HEARTBEATS. THE NAME FOR THOSE HEARTBEATS IS METRE." (ebd. Pos. 400-401)

Wer dieser Aussage in Großbuchstaben nicht vertrauen möchte, der sei abschließend bzw. die einleitenden Worte an dieser Stelle abschließend noch auf das folgende Video verwiesen, das die skizzierte Beziehung einmal mehr illustriert und ausstellt: 

Quelle: Freemann, David T.; Taylor, Gregory: Why Shakespeare loved iambic pentameter, 2015. 

 


Bibliografie

Sekundärliteratur

  • Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage. Tübingen; Basel: Francke, 2011.
  • Gelfert, Hans-Dieter: Einführung in die Verslehre. Stuttgart: Reclam, 1998. 
  • Gelfert, Hans-Dieter: Wie interpretiert man ein Gedicht. Stuttgart: Reclam, 1994.
  • Fry, Stephen: The Ode Less Travelled: Unlocking the Poet Within. Calgary: Cornerstone Digital, 2010.

Video