2 Explikat

Die Forschungen zur literarischen Sozialisation stellen die Frage, welche äußeren Einflüsse sich unter Einbezug individueller Dispositionen positiv oder negativ auf die lesebezogene Entwicklung eines Menschen auswirken, kurz: was im "Überschneidungsbereich von Literatur- und Erziehungssystem geschieht" (Hurrelmann 1998, S. 48). Da beide Systeme sich stetig verändern, ist auch die literarische Sozialisation einem Wandlungsprozess unterworfen. So sind gegenwärtig nicht mehr allein Printtexte, sondern alle literaturbezogenen Medien für die literarische Sozialisation zu berücksichtigen.

Die Sozialisationstheorie geht nicht davon aus, dass ein Individuum in herrschende soziokulturelle Handlungspraxen oder Normensysteme gleichsam statisch hineinwächst, diese also unverändert übernimmt, sondern dass dabei Prozesse sozialer Ko-Konstruktion ablaufen. Dieser Gedanke der Wechselwirkung zwischen Individuum und seiner sozialen Umwelt ist auch für die literarische Sozialisation das "zentrale Modell" (Groeben/Schroeder 2004, S. 306). Erwerb und Aushandlung ko-konstruktiver Aneignungsprozesse vollzieht sich in den Sozialisationsagenturen bzw. -instanzen, die auch für die literarische Sozialisation relevant sind. Diese sind die Familie (primäre Instanz), das Bildungssystem mit Vorschule und Schule (sekundäre Instanz) sowie das soziokulturelles Umfeld, v. a. die  peer-group (tertiäre Instanz). Die Sozialisationstheorie nennt noch die quartäre Instanz (Medien), die jedoch für die literarische Sozialisation vernachlässigt werden kann, da die Mediennutzung in den anderen Instanzen mitberücksichtigt wird.

Sozialisationsagentur Familie: Literarische Sozialisation findet zunächst im familialen Umfeld statt. Für die literarische Sozialisation ist die Familie doppelt bedeutsam: Zum einen ist die Gestaltung der Phase der "prä- und paraliterarischen Kommunikation" (Hurrelmann 2006, 29) zu nennen. Hierzu zählen sowohl die materielle Ebene (z. B. verfügbarer Umfang von Texten und Medien), als auch die Art und Weise der Bezugspersonen, als Vorbilder damit umzugehen und mit Kindern hierüber zu kommunizieren (z. B. vorlesen, erzählen, TV-Sendungen ansehen und darüber sprechen). Zum anderen vermittelt die Familie eine (positive oder negative) Werthaltung literarischen Texten und Medien gegenüber und stellt so eine Positionierung gegenüber der literarischen und der Lesekultur bereit, die zur Teilhabe anregt – oder eben nicht.

Sozialisationsagentur Bildungssystem: Kinder bringen heterogene Erfahrungen mit in Bildungseinrichtungen, da Sozialisationsverläufe höchst different verlaufen. Sowohl elementarpädagogische Einrichtungen (z.B. Kita) wie nachfolgend die Schulen richten ihre Bildungsaktivitäten und damit ihren Anteil an der literarischen Sozialisation nach Bildungs- bzw. Lehrplänen aus. Schon für das vorschulische Lernen wird zunehmend auf die Förderung der literarischen Sozialisation in einer Medienumgebung geachtet. Insofern hat nicht erst die Schule die Aufgabe, angesichts wachsender Heterogenität der lese- und literaturbezogenen Lernvoraussetzungen von Kindern in kompensatorischer Funktion zu agieren. Dies meint, dass die Rezeption eines umfangreichen Angebots an literarischen Texten und Medien sowie unterschiedliche Leseerfahrungen und -fähigkeiten gefördert werden sollen. "Leseförderung meint einen möglichst unverschulten Umgang mit Texten, eine stärker didaktische Orientierung an den Mustern, Zielen und Gratifikationen der Alltagspraxis des Lesens, die vorrangige Berücksichtigung entwicklungsspezifischer Interessen und Rezeptionsmodi, die Akzeptanz auch von Lesematerialien, die der Schulkultur eher fremd, der durch den Medienverbund geprägten Kinder- und Jugendkultur aber vertraut sind." (Hurrelmann/Elias 1998, S. 4) Daher sind auch solche Texte und Medien gemeint, die in einem eher traditionellen Verständnis nicht in der Schule verhandelt werden. Hierbei ist z.B. an Comics bzw. Graphic Novels zu denken, zudem sind auch digitale Medien (etwa Fanfiction in einschlägigen Foren) zu berücksichtigen. Die Grund- und die weiterführenden Schulen wirken hinsichtlich der literarischen Sozialisation hauptsächlich im Fachunterricht Deutsch. Neben der Textauswahl sind unterrichtliche Arrangements, Differenzierungsmaßnahmen, methodische Vielfalt und das Schaffen vielfältiger Zugänge zu Texten und Medien im Sinne einer reichhaltigen Lesekultur mögliche Stellschrauben, um literarische Sozialisation auf unterschiedlichen Ebenen anzuregen und zu fördern.

Sozialisationsagentur soziokulturelles Umfeld: Mit zunehmendem Alter und der Ablösung von der Herkunftsfamilie wird die peer-group auch für Aspekte der literarischen Sozialisation wichtig; sie wirkt sich auch auf Einstellungen zur Rezeption literarischer Medien aus und beeinflusst Intensität und Umfang von Lesehandlungen und Folgekommunikationen. Die Wichtigkeit der peer groups hat Philipp (2008) herausgestellt, offen ist jedoch die Frage, ob Kinder ihre peer group aufgrund eigener Rezeptionsneigungen auswählen, oder ob ihr Leseverhalten bzw. ihr lesebezogene Selbstbild sich an dem ausrichtet, das in einer peer-group vorherrscht.

Forschungsgeschichte

Die Frage, welche Prozesse Menschen beim Erwerb literarischer Texte durchlaufen, hat im 20. Jahrhundert einen grundlegenden Paradigmenwechsel durchlaufen; dabei ist auch die Ausrichtung an Bezugswissenschaften revidiert worden. Im Kern hat sich der Diskurs entwickelt von normierenden Vorstellungen auf der Basis einer kohortenbezogenen, endogenen Entwicklung in Richtung auf ein individualisierendes Verständnis, das exogene Faktoren der literarischen Sozialisation in den Blick nimmt (vgl. ausführlich Wrobel 2019, S. 136-142).

Zunächst ist das Modell der Lesealtersstufen der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühler von 1918 zu nennen, das ein Phasenschema ist. Darin werden Entwicklungsphasen der Literarisierung bzw. der Rezeption literarischer Texte an Lebensaltersspannen gebunden. Dies geht davon aus, dass ein kausaler und temporärer Zusammenhang zwischen kindlichen Entwicklungsstufen und Leseverhalten existiert (vgl. Bühler 1918). Nach Bühler durchlaufen alle Kinder zunächst die "literarische Vorperiode [der] Struwwelpeterzeit" (ebd., S. 22), dem folgt das Märchenalter, das sich durch die Rezeption fantastischer Texte und veränderte Rezeptionshaltungen (z. B. Mitsprechen von Texten) auszeichnet. Im Robinsonzeitalter, das etwa mit dem 12. Lebensjahr abgeschlossen ist, werden dann vorzugsweise Texte der Abenteuerliteratur gelesen. Dieses Modell ist 1926 von Susanne Engelmann um die späteren Lebens- und Entwicklungsspannen des Dramen- und Balladenalters (12. bis 15. Lebensjahr) sowie des lyrischen und Romanalters (15. bis 20. Lebensjahr) ergänzt worden (vgl. Engelmann 1926). Dem Modell der Lesealtersstufen liegt die Vorstellung einer entwicklungspsychologisch motivierten Abfolge von Lektürepräferenzen zugrunde. Dabei wird angenommen, dass literarisches Lesen und Verstehen als Ergebnis der endogenen Entwicklung eines Individuums zu verstehen ist; exogene Faktoren werden nicht einbezogen.

Eine Scharnierfunktion nehmen die Arbeiten von Elisabeth (Schliebe-)Lippert, 1934 erstveröffentlicht und 1950 weiterentwickelt, ein. Sie berücksichtigt mit der Lesemotivation einen individuellen Parameter (vgl. Lippert 1934). Indem Schliebe-Lippert die Wirksamkeit von Leseantrieben postuliert, die sowohl auf die Innen- wie auch auf die Außenwelt des Lesers bezogen sind, erweitert sie Bühlers Modell erheblich und gewichtet neben entwicklungspsychologischen Einflüssen erstmals auch exogene, soziokulturelle Einflussfaktoren für Modellbildung.

In den 1970er Jahren wird das entwicklungspsychologische Paradigma durch das heute gültige Modell in Anbindung an die Sozialisationstheorie abgelöst, mit dem vor allem die exogenen Einflussfaktoren in den Blick geraten.

Besonderheiten im Kontext der Kinder-und Jugendliteratur

Dieser Paradigmenwechsel hat Auswirkungen auch auf schulische Anteile zur literarischen Sozialisation, die zum einen mit dem Stichwort Leseförderung und zum anderen mit der Textauswahl und der Berücksichtigung von Kinder- und Jugendliteratur zu umreißen sind. Aktuelle Ansätze zur Unterstützung und Förderung des literarischen Lernens gehen hauptsächlich von der Stabilisierung des Selbstkonzeptes als Leser aus und nutzen Verfahren zur Steigerung der Lesemotivation, zur Etablierung einer schulischen Lesekultur sowie zum Erwerb literarischer und ästhetischer Bildung (vgl. Spinner 2006 und Spinner 2007).

Gerade Texte der Kinder- und Jugendliteratur – aktuelle wie Klassiker – kommen im Rahmen schulischer Förderung der literarischen Sozialisation zum Zuge. Dabei werden verschiedene didaktische Anschlussstellen genutzt; einige Beispiele zeigen dies: Ein prototypisches, in der Durchführungspragmatik vielfach variiertes Modell, das an die Förderung der Lesemotivation anknüpft, geht auf Richard Bamberger zurück. Sein "Leseolympiade"-Modell will die Ausbildung von (habituellen) Lesehaltungen und Leseinteressen fördern und stabilisieren (vgl. Bamberger 2000). Lernende wählen hierzu selbsttätig die Texte aus, die sie lesen wollen. Eine Fortentwicklung ist im Unterrichtsarrangement der freien Lesestunden (vgl. Bertschi-Kaufmann 1998) zu sehen. Auch Maiwald setzt bei Texten der Kinder- und Jugendliteratur bzw. der Freizeitlektüre an, um literarisches Lesen und Lernen zu forcieren. Sein Vorschlag zum literarischen Lernen soll "literarische Diskrepanzerfahrungen" und "Aneignungen literarischer Alterität" ermöglichen (Maiwald 2001, S. 38). Dieses Konzept schaltet zwei themenähnliche Texte unterschiedlicher literarischer Niveaustufen zu Tandems zusammen (z. B. Charlotte Kerner, Geboren 1999 und Aldous Huxley, Schöne neue Welt). An der Schnittstelle von Leseförderung und literarischem Lernen ist z. B. das "Hattinger Modell" zur Individualisierung der Leseförderung (vgl. Wrobel 2009) situiert; hierbei laufen Leseförderung und das Ermöglichen von Leseerfahrungen jenseits der schulisch etablierten Klassenlektüre im Sinne der Förderung literarischer Sozialisation zusammen. So unterschiedlich diese Ansätze auch sind, gemeinsam sind ihnen der Bezug zum Prozess der literarischen Sozialisation und der prominente Platz, den Kinder- und Jugendliteratur darin einnimmt.

Literaturverzeichnis

  • Abraham, Ulf: Übergänge. Literatur, Sozialisation und literarisches Lernen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998.
  • Bamberger, Richard: Erfolgreiche Leseerziehung in Theorie und Praxis. Mit besonderer Berücksichtigung des Projekts "Leistungs- und Motivationssteigerung im Lesen und Lernen unter dem Motto Lese- und Lernolympiade". Wien: öbv & hpt, 2000.
  • Bertschi-Kaufmann, Andrea: Kinderliteratur und literarisches Lernen. Lese- und Schreibentwicklung im offenen Unterricht. In: Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur Kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext. Hrsg. von Karin Richter und Bettina Hurrelmann. Weinheim: Beltz, 1998. S. 199-214.
  • Bühler, Charlotte: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Leipzig: Barth, 1918.
  • Eggert, Hartmut und Christine Garbe: Literarische Sozialisation. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003 (= Sammlung Metzler; 287).
  • Engelmann, Susanne: Methodik des deutschen Unterrichts. Eine Darstellung ihrer Ziele, Grenzen und Möglichkeiten auf jugendpsychologischer Grundlage. Leipzig: Quelle & Meyer, 1926.
  • Groeben, Norbert und Sascha Schroeder: Versuch einer Synopse: Sozialisationsinstanzen – Ko-Konstruktion. In: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Hrsg. von Norbert Groeben und Bettina Hurrelmann. Weinheim: Juventa, 2004. S. 306-348.
  • Hurrelmann, Bettina: Kinderliteratur – Sozialisationsliteratur. In: Kinderliteratur im Unterricht. Theorien und Modelle zur Kinder- und Jugendliteratur im pädagogisch-didaktischen Kontext. Hrsg. von Karin Richter und Bettina Hurrelmann. Weinheim: Juventa, 1998. S. 45-60.
  • Hurrelmann, Bettina und Sabine Elias: Leseförderung in einer Medienkultur. In: Leseförderung in einer Medienkultur. Hrsg. von Bettina Hurrelmann und Sabine Elias. Sonderheft Praxis Deutsch. Seelze: Friedrich, 1989. S. 3-7.
  • Hurrelmann, Bettina: Ko-Konstruktion als Theorierahmen historischer Lesesozialisationsforschung: sozialisationstheoretische Prämissen. In: Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel. Hrsg. von Bettina Hurrelmann, Susanne Becker und Irmgard Nickel-Bacon. Weinheim: Juventa, 2006, S. 15-30.
  • Lippert, Elisabeth: Der Entwicklungsverlauf der literarästhetischen Erlebnisfähigkeit. In: Bericht über den XIII. Kongreß der Gesellschaft für Psychologie in Leipzig 1933. Hrsg. von Otto Klemm. Jena: Fischer, 1934. S. 151-153.
  • Maiwald, Klaus: Literatur lesen lernen. Begründung und Dokumentation eines literaturdidaktischen Experiments. Baltmannsweiler: Schneider, 2001.
    Philipp, Maik: Lesen, wenn anderes und andere wichtiger werden. Empirische Erkundungen zur Leseorientierung in der peer group bei Kindern aus fünften Klassen. Hamburg: Lit, 2008.
  • Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006), H. 200. S. 6-16.
  • Spinner, Kaspar H.: Lesen als ästhetische Bildung. In: Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Hrsg. von Andrea Bertschi-Kaufmann. Seelze/Zug: Klett-Kallmeyer, 2007, S. 83-95.
  • Wrobel, Dieter: Individualisiertes Lesen. Leseförderung in heterogenen Lerngruppen. Theorie – Modell – Evaluation. 2. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider, 2009.
  • Wrobel, Dieter: Literarische Sozialisation und literarisches Lernen. In: Literaturdidaktik. Hrsg. von Christiane Lütge. Berlin/Boston: de Gruyter, 2019. S. 135-160. (= Grundthemen der Literaturwissenschaft; 14).