Nach einer inhaltlichen Beschreibung des Buches, einer Würdigung und knappen Darstellung der kritischen Rezeption beschäftigt sich dieser Artikel in einem ersten Teil zunächst mit der komplexen Werkgeschichte des Buches von 1844 bis heute, wobei auch seine internationale Aufnahme beleuchtet wird. Der zweite Teil des Artikels beschäftigt sich mit den so genannten Struwwelpetriaden und ihren vielfältigen Ausprägungen.
Inhaltsverzeichnis
1 Der Struwwelpeter
1.1 Inhalt – 1.2 Würdigung – 1.3 Kritische Rezeption – 1.4 Entstehung – 1.5 Die Urhandschrift – 1.6 Die 1. Struwwelpeter-Fassung (1845 bis 1858) – 1.7 Die 2. Struwwelpeter-Fassung (1859ff.) – 1.8 Die 3. Struwwelpeter-Fassung (1881 und 1889) – 1.9 Deutsche Struwwelpeterausgaben nach 1894 – 1.10 Fremdsprachige Struwwelpeterversionen – 1.11 Deutsche Mundartübersetzungen
2 Struwwelpetriaden
2.1 Begriffsklärung – 2.2 Kinderbuch-Struwwelpetriaden – 2.3 Struwwelpeter-Parodien
3 Bibliographie
1 Der Struwwelpeter
Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder ist das erste und erfolgreichste Bilderbuch Heinrich Hoffmanns. In seiner endgültigen Textfassung (ab der 5. Auflage von 1847) besteht es aus zehn illustrierten Versgeschichten unterschiedlicher Länge, die – mit einer Ausnahme – alle der Gattung der 'Warngeschichten' zuzurechnen sind und die bösen Folgen kindlichen Ungehorsams oder der Unachtsamkeit thematisieren. Sie begegnen in ihrer 'klassischen Form' in der Reihenfolge der hier folgenden knappen Inhaltsangaben.
Eingeleitet wird das Buch durch einen illustrierten Vorspruch, der es als Weihnachtsbuch ausweist und den Kindern, die "ihre Suppe essen und das Brot auch nicht vergessen", still mit ihren "sieben Sachen" spielen und "beim Spaziergehn auf den Gassen von Mama sich führen lassen", neben Weihnachtsgebäck ("Gut’s") ein Bilderbuch als Geschenk des Christkinds in Aussicht stellt. Als Struwwelpeterwird uns sodann ein ungekämmter Junge mit mächtigem Haarschopf und überlangen Fingernägeln vorgestellt, der sich sowohl dem Kamm als auch der Nagelschere verweigert und, auf einem Podest postiert, wegen seines Aussehens dem Spott des kindlichen Betrachters ausgeliefert wird: "Pfui, ruft da ein jeder, garstger Struwwelpeter!" Sinnfälligerweise fehlt hier die sonst benutzte Titelbezeichnung "Die Geschichte vom …", handelt es sich dabei doch um ein rein statisch-deskriptives Blatt ohne eigentliche Handlung. In der Geschichte vom bösen Friedrich treffen wir einen "argen Wüterich", der Möbel, Tiere und sein Kindermädchen ("seine Gretchen") malträtiert und durch den Biss eines von ihm gequälten Hundes seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Der Hund kann sich dagegen an Friedrichs Tisch an einer Mahlzeit aus Kuchen, Wein und Leberwurst gütlich tun. Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug ist die einzige, in der ein unfolgsames Mädchen als Protagonistin auftritt. In einer höchst dramatischen Sequenz beobachten wir, wie das mit Schwefelhölzern spielende Paulinchen in Flammen aufgeht und – mit Ausnahme ihrer beiden Schuhe! – restlos zu Asche verbrennt, während zwei Katzen, "Minz und Maunz", sozusagen als moralische Instanz, eindringlich das elterliche Zündelverbot in Erinnerung rufen, um Hilfe schreien und schließlich das "mit Haut und Haar verbrannte" Kind tränenvoll beweinen. Die Geschichte von den schwarzen Buben hat eindeutig das Thema Rassismus zum Gegenstand. Kaspar, Ludwig und Wilhelm verlachen einen "kohlpechrabenschwarzen Mohr[en]" wegen seiner Hautfarbe und werden trotz erheblicher Gegenwehr ob ihrer mangelnden Einsicht zur Strafe von Nikolas in dessen großes Tintenfaß getunkt, dem sie "viel schwärzer als das Mohrenkind" entsteigen. In der Geschichte vom Wilden Jäger überlistet ein schlaues Häschen einen müden "Jägersmann", indem es ihm im Schlaf das Gewehr stiehlt. Dieser ergreift die Flucht und rettet sich vor dem Schuss des Hasen durch einen Sprung in den Brunnen vor seinem Haus. Ein Daumen lutschender Konrad ist der kleine Held der Geschichte vom Daumenlutscher. Er missachtet die eindrückliche Warnung seiner Mutter "lutsche nicht am Daumen mehr!" und erfährt die prophezeite Strafe: Ein Schneider schneidet ihm mit seiner überdimensionalen Schere beide Daumen ab – "sie sind alle beide fort". Die Geschichte vom Suppen-Kaspar berichtet von der traurigen Karriere eines Suppenverweigerers, der innerhalb von nur vier Tagen vom "kerngesund[en]" und "kugelrund[en]" Knaben zum "Fädchen" abmagert, weil er die ihm vorgesetzte Suppe verschmäht. Am fünften Tage ist er verhungert, sein Grab ziert eine Suppenschüssel. Die Geschichte vom Zappel-Philipp führt uns an den Tisch einer bürgerlichen Familie, deren Idylle durch das fortgesetzte Herumzappeln des hyperaktiven Sohnes Philipp gestört wird. Beim Schaukeln zieht er schließlich das Tischtuch vom Tisch und landet mitsamt den Speisen unter dem Tischtuch auf dem Boden, während seine Eltern ohne Essen auskommen müssen. Der kleine Hans in der Geschichte vom Hans Guck-in-die-Luft ist der notorische Tagträumer, der sich mehr für die Vögel und Wolken am Himmel interessiert als für seinen Schulweg. Er entgeht nur knapp dem Tod durch Ertrinken, nicht aber dem schallenden Gelächter dreier kleiner Fische, die die ganze Sache beobachten. Das Buch endet mit der Geschichte vom fliegenden Robert, dessen kleiner, unternehmungslustiger Held Regen und Wind nicht scheut und mit seinem Regenschirm zu einem Spaziergang im Sturm aufbricht. Dabei unterschätzt er die Gefahr. Mitsamt seinem Schirm wird er vom Wind in die Lüfte erhoben und fliegt davon. So wird sein Spaziergang zu einem Ausflug ohne Wiederkehr: "Wo der Wind sie hingetragen – Ja! das weiß kein Mensch zu sagen."
Mit Ausnahme des Vorspruchs und der Geschichte vom wilden Jäger thematisieren alle Episoden des Buches bestimmte kindliche 'Laster' wie Zerstörungswut, Tierquälerei, Spielen mit Streichhölzern, Frechheit, insbesondere Menschen anderer Hautfarbe gegenüber, Daumenlutschen, Essensverweigerung, mangelnde Tischsitten, Unachtsamkeit und sträflichen Leicht oder Eigensinn. Insgesamt stellt das Buch damit eine Sammlung von 'Warngeschichten' dar, einer im 19. Jahrhundert sehr beliebten Gattung der Kinderliteratur mit eindeutig pädagogischer Intention. Diese erzieherische Absicht liegt zweifellos auch Hoffmanns Geschichten zugrunde, wozu sich der Autor auch wiederholt bekannt hat. Genauso außer Zweifel steht, dass Hoffmann – im Gegensatz zu seinen Vorgängern in der Gattung und den meisten seiner Nachahmer – in den Versen und Zeichnungen seines Struwwelpeter die Didaxe ganz bewusst im Hintergrund lässt und sie durch märchenhafte, durchaus komische und phantastische, zum Teil sogar surreale Elemente konterkariert. Durch diese karikaturistische Verfremdung wird das Geschehen geradezu aus der Welt des Realen herausgenommen. Der überzeichnenden Drastik mancher Geschichten wird durch diese 'Verpackung' wesentlich die Spitze genommen. Weiter betont wird dieser Zug, der bereits im (Unter-)Titel "Lustige Geschichten und drollige Bilder" als Programm formuliert ist, auch durch die Aufnahme der Geschichte vom Wilden Jäger, die ausschließlich von der Freude am Motiv der verkehrten Welt 'lebt'. Ebenso bemerkenswert ist es, dass sich der Verfasser – wieder im Gegensatz zum sonst Gewohnten – überhaupt jeglicher expliziter moralischer Schlussfolgerungen, Drohungen und Ratschläge enthält und die Geschichten völlig für sich selbst sprechen lässt. Es dürften gerade diese Momente sein, die dem Buch von Anfang an einen für ein Kinderbuch des 19. Jahrhunderts ganz unvergleichlichen und anhaltenden Erfolg beschieden haben. Außerdem lässt Hoffmann in keinem Falle die aus dem dargestellten Fehlverhalten resultierenden Strafen von Eltern oder anderen Erwachsenen verabreichen, sondern naturgesetzmäßig aus den Taten selbst folgen. Im Falle der "schwarzen Buben" und des Daumen lutschenden Konrad treten mit dem großen Nikolas und dem Schneider samt überdimensionierter Schere märchenhafte Figuren als 'Rächer' auf. Hinzu kommen weitere von Hoffmann glücklich gewählte und in ihrer Zeit neuartige Zugänge, Kindern über das Medium Bilderbuch den Weg zur Vermeidung von Unfällen und zu gesellschaftskonformem Verhalten zu weisen. Bemerkenswert ist dabei besonders die fast genüssliche Fixierung des Handlungsablaufes und ihrer Charaktere auf die Darstellung der 'Untaten', ohne auch nur die Möglichkeit der Besserung der Bösewichter in Aussicht zu stellen. Dass Kinder gerade von diesen Aspekten des Buches angezogen werden, sich so mit dem Geschehen identifizieren und im Buch quasi kathartisch miterleben können, wie die Protagonisten für Vergehen, die ihnen in ihrer kleinen Welt durchaus bekannt sind, sozusagen stellvertretend fiktional abgestraft werden, beweist sich auch heute noch vielfach. Geradezu genial ist es darüber hinaus dem Dilettanten Hoffmann gelungen, in seinen Bildergeschichten Texte und Bilderfolgen organisch miteinander zu verbinden und damit einen neuen Typus des Bilderbuches, das kindgerechte, erzählende Bilderbuch mit gereimten Geschichten zu schaffen. Ganz bewusst wählt er, der zuvor seine ernsthafte dichterische Kompetenz vielfach unter Beweis gestellt hatte, dabei eingängige, einfache – und manchmal auch bewusst holprige –, von Kindern leicht zu merkende Knittelverse, und schmilzt sie mit seinen naiven Zeichnungen, die sich – wieder mit Bedacht – von den Postulaten einer realistisch-idealistischen Ästhetik seiner Zeit lösen, zu einer künstlerischen Einheit zusammen.
Die kontroverse Rezeption des Buches beginnt früh und hält bis heute an. Zunächst sprechen die für ein Kinderbuch des 19. Jahrhunderts ganz außergewöhnlich hohen Auflagen- und Verkaufszahlen und die zahlreichen, alsbald folgenden Nachahmungen eine deutliche Sprache und belegen die generell positive zeitgenössische Aufnahme des Buches bei Kindern und Eltern. Dazu kommen die geradezu euphorischen Besprechungen bereits kurz nach seinem ersten Erscheinen – wobei freilich nicht immer abzuschätzen ist, ob man es mit unabhängigen Urteilen oder solchen im Interesse des Verlages zu tun hat. Dennoch melden sich bald kritische Stimmen, die das Buch aus pädagogischer Sicht in einem negativen Licht erscheinen lassen. Im Mittelpunkt dieser Kritik stehen einmal die Bedenken, Kinder könnten durch die lustvolle Darstellung des Verbotenen erst zu Ungehorsam und zur Nachahmung der Untaten angestiftet werden, zum anderen die Meinung, Hoffmanns einfache Bildersprache verderbe, wie der Verfasser selbst berichtet, "mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes". Möglicherweise sind die verschiedenen ikonographischen Veränderungen, die das Buch im Laufe seiner Editionsgeschichte erfahren hat, eine Antwort auf diesen Vorwurf. Die Tatsache, dass sich das Buch über Jahrzehnte hin als Bestseller durchsetzte und zum festen Inventar – nicht nur – deutscher Kinderzimmer gehörte, ließ solche Kritik lange Zeit weitgehend verstummen. Die bisher größte Herausforderung erlebte Der Struwwelpeter allerdings ab Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als sich die Ideologiekritik an dem Buch geradezu 'austobte', man seinen Inhalt einseitig und humorlos pauschal als autoritär und repressiv abstempelte, ihm besserwisserisch eine geradezu 'hanebüchene' schwarze Pädagogik unterstellte und vor dem Schaden, den es in der kindlichen Seele anrichten könne, warnte. Auch diese eindeutig dem ideologischen Zeitgeist verpflichteten Diskreditierung, die alsbald von der veröffentlichten und öffentlichen Meinung übernommen wurde, hat das Buch unbeschadet überstanden. Allerdings führte dies zunächst dazu, dass Eltern, Psychologen, Pädagogen und Erzieherinnen, die sich als gebildet und 'aufgeklärt' gaben, ihm mit großer Zurückhaltung, oft sogar mit Ablehnung begegneten. Obwohl diese Haltung auch heute noch nachwirkt und von Hütern der 'political correctness' unter völliger Verkennung der historischen Zusammenhänge neue Argumente der Ablehnung ins Feld geführt werden, wird dem Buch seit Ende des 20. Jahrhunderts allgemein wieder eine gesteigerte Wertschätzung entgegengebracht: In der Kinder- und Jugendliteraturforschung wird es als ein bedeutender Meilenstein in der Geschichte des Kinderbuches anerkannt. Illustratoren wie Maurice Sendak und Tomi Ungerer bekennen sich zu dem Buch als einem großen Vorbild, und für fortschrittliche Pädagogen und Kinderpsychologen besteht kein Zweifel, dass die Geschichten, wenn von Eltern und Erzieherinnen 'im Sinne des Erfinders' eingesetzt, der Distanzierung und Angstabwehr dienen und wegen ihrer bleibenden Aktualität einen wertvollen Beitrag zur Sozialisation von Kindern leisten können. Auch die psychoanalytische Deutung, die bereits mit Sigmund Freud einsetzt und mit unterschiedlicher Gewichtung und Stringenz bis heute anhält, bescheinigt dem Buch eine bleibende Aktualität. Unbestreitbar ist schließlich, dass das Buch mit seinen altmodischen Bildern auf Kinder nach wie vor eine gewisse Faszination ausübt.
Über die Entstehung seines berühmten Kinderbuchs hat sich Hoffmann mehrfach öffentlich geäußert. Die bekannteste dieser Stellungnahmen ist ein Interview, das Hoffmann vorgeblich einem Studienfreund aus der Heidelberger Zeit (1829–31) gab und das erstmals 1871 mit dem Titel "Wie der Struwwelpeter entstand" in der Zeitschrift Die Gartenlaube erschien. Als Autor zeichnet ein F. S., welcher, um die Wahrheit seiner Geschichte zu unterstreichen, versichert, er wolle sie "soweit [s]ein Gedächtnis [ihm] treu ist, mit Dr. Hoffmann’s eigenen Worten mittheilen". Es ist dieser Bericht, der in Auszügen ab der 100. Auflage den Rütten-&-Loening-Ausgaben beigegeben ist.
Sodann können wir auf Hoffmanns Lebenserinnerungen zurückgreifen, die in den Jahren 1889-92 niedergeschrieben und erstmals postum 1926 veröffentlicht wurden. Sie sind wesentlich ausführlicher. Ein ganzes Kapitel widmet Hoffmann dem Thema "Struwwelpeter". Bei der Abfassung scheint Hoffmann den Artikel von 1871 verwendet zu haben, denn manches auf diesen Seiten stimmt in der Formulierung wörtlich überein, so dass sich sogar die Frage aufdrängt, ob Hoffmann vielleicht sogar unter dem Pseudonym F. S. der Verfasser jenes Gartenlaubenartikels gewesen sein könnte – zumal die Heidelberger Matrikelbücher keinen in Frage kommenden Kommilitonen Hoffmanns mit den Initialen F. S. aufweisen.
Schließlich steht uns ein von Heinrich Hoffmann verfasster so genannter "Brief an die Redaktion der Gartenlaube" zur Verfügung, der im November 1892 geschrieben und im ersten Gartenlaube-Heft 1893 abgedruckt wurde. Mit Ausnahme der Einleitung handelt es sich dabei um eine an manchen Stellen gekürzte Fassung des Kapitels aus den Lebenserinnerungen.
Allen drei Quellen ist eine gewisser Entstehungsmythos gemeinsam: Danach suchte Hoffmann in der Adventszeit des Jahres 1844 in den Buchläden seiner Vaterstadt ein passendes Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn Carl Philipp, fand keines, das ihm gefiel, kaufte ein leeres Schreibheft, machte sich selbst ans Zeichnen und Dichten und legte dem kleinen Carl schließlich ein Eigenprodukt von Bildergeschichten unter den Weihnachtsbaum. Von den dort geschilderten und ganz im Stil der Gartenlaube mit mancherlei schönem Beiwerk ausgeschmückten Umständen bleibt allerdings als einzig gesicherter Befund, dass das von Hoffman im Jahre 1844 hergestellte Büchlein tatsächlich als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen erstgeborenen Sohn diente. Die meisten anderen Details der Darstellung, einschließlich mancher Einlassungen zur frühen Editionsgeschichte des Buches, erweisen sich als zweifelhaft oder offensichtlich falsch und von Hoffmann bei der Niederschrift nach mehreren Jahrzehnten entweder schlecht erinnert oder gut erfunden. Zu dieser Einsicht führt uns die Heranziehung anderer, bald nach der Entstehung des Buches datierter Quellen, u.a. unter Eid gemachte Zeugenaussagen aus einem 1851 von Hoffmanns Verleger gegen den Mainzer Verleger Scholz angestrengten Nachdruck-Prozess, die erhaltenen Verlagsverträge, Protokolle der Frankfurter Gelehrten-Gesellschaft "Tutti Frutti" und die Autopsie des Manuskripts selbst. Danach dürfen wir wohl grundsätzlich von einer komplexeren Genese des Werkchens über das häuslich-vorweihnachtliche Umfeld der Familie Hoffmann hinaus ausgehen.
Die erste, handschriftliche Version des Buches in der Form, wie sie Hoffmann 1844 seinem Sohn zum Geschenk machte, bestand aus sechs gereimten Bildergeschichten. Noch nicht darin vertreten waren die Geschichten von Paulinchen, Zappelphilipp, Hans Guck-in-die-Luft und dem fliegenden Robert. Als Einleitung steht der weihnachtliche Vorspruch, das Struwwelpeter-Blatt beschließt das handgefertigte Buch. Durch eine Serie glücklicher Umstände ist diese Urhandschrift erhalten geblieben. Sie befindet sich im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Signatur 1000921), hat 14 originale Blätter, wobei zwei Blätter aus der Geschichte von den schwarzen Buben fehlen, und ist mit dem Titel Drollige Geschichten und lustige Bilder versehen. Bislang wurde diese Handschrift zweimal faksimiliert. Zwei darin zu findende Korrekturen von Hoffmanns eigener Hand sind erwähnenswert: Sie betreffen einmal die Umbenennung des zunächst so genannten "Struwwel- und Nagelkind[es]" in "Der Struwwel-Peter" und die daraus folgende Änderung des ursprünglichen Namens des Daumenlutschers von "Peter" ("Peter! sprach die Frau Mama …") zu "Konrad".
Hoffmann berichtet uns – durchaus glaubwürdig –, dass die originelle Weihnachtsgabe nicht nur bei seinem kleinen Sohn, sondern auch im Familien- und Freundeskreis begeisterte Aufnahme gefunden habe. Schließlich bot ihm sein Freund und ehemaliger Heidelberger Kommilitone, der Verleger Zacharias Löwenthal, der sich ab 1857 Loening nannte, an, das Manuskript bei der 1844 in Frankfurt am Main gegründeten Verlagsbuchhandlung seines Kompagnons Joseph Rütten, der "Literarischen Anstalt (J. Rütten)", drucken zu lassen.
1.6 Die 1. Struwwelpeter-Fassung (1845 bis 1858)
Als Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorirten Tafeln für Kinder von 3-6 Jahren erschien im Oktober 1845 die erste gedruckte Ausgabe des Buches in der Literarischen Anstalt in Frankfurt am Main. Den Einband des im Lithographieverfahren und treu nach der handschriftlichen Vorlage hergestellten Büchleins zierte eine Inhaltsangabe in Versen, an deren Ende sich der Autor als "Reimerich Kinderlieb" hinter einem Pseudonym verbarg. Diese Erstauflage mit ihren 15 einseitig bedruckten und handkolorierten Blättern enthielt nur die sechs Episoden der Handschrift, "sechs Mährlein mit schöner Bilderzier", in der dort vorgegebenen Reihenfolge. Der Struwwelpeter war, wie im Manuskript, am Ende des Buches zu finden. Die genaue Übereinstimmung der Illustrationen mit der Handschrift geht nach Hoffmann darauf zurück, dass er den Lithographen persönlich überwachte, "dass er [seine] Dilettantengestalten nicht etwa künstlerisch verbesserte". Von dieser Erstauflage lassen sich heute noch acht Exemplare nachweisen. Zur Freude der Verleger verkauften sich die gedruckten 3000 Exemplare so gut, dass bereits im Jahr darauf drei neue Auflagen, jetzt im Holzstich gearbeitet, erscheinen konnten. In der 2. Auflage, in der sich Hoffmann als "Heinrich Kinderlieb" vorstellt, gesellten sich Zappel-Philipp und Paulinchen zu den "bösen Buben". Die ursprünglichen Bilder, auch das Struwwelpeterbild, hat der Xylograph an mehreren Stellen deutlich sichtbar verändert. Der Struwwelpeter selbst erschien ab der 3. Auflage im Titel (Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder). Erst mit der 5. Auflage von 1847, in der der Struwwelpeter erstmals an den Anfang des Buches hinter das Vorspruchsblatt gerückt wurde, finden wir alle Geschichten einschließlich der von Hans Guck-in-die-Luft und dem fliegenden Robert in der endgültigen Abfolge auf 24 Blättern und unter vollem Namen ihres Verfassers. Für die nächsten 10 Jahre, bis zur 26. Auflage, behielt das Struwwelpeterbuch dieselbe Gestalt. Die Forschung bezeichnet sie als die 1. Struwwelpeter-Fassung. In welcher Höhe die einzelnen Auflagen erschienen, ist nur teilweise überliefert. Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass das Buch innerhalb weniger Jahre in vielen zehntausend Exemplaren nationale Verbreitung gefunden hatte.
1.7 Die 2. Struwwelpeter-Fassung (1859ff.)
Mit der 27. Auflage von 1859, die der Verlag als "gänzlich umgearbeitete Auflage" ankündigte, erschien das Buch in völlig neuem Gewand. Die Vorlage für diese zweite Struwwelpeter-Fassung bildet ein eigens von Hoffmann dafür angefertigtes neues Manuskript. In ihm sind die alten, in den Jahren 1844-46 entstandenen, naiv-dilettantischen Zeichnungen weitgehend durch ausgefeilte, künstlerisch anspruchsvollere Kompositionen ersetzt. Die Darstellung ist realistischer und detailreicher geworden. Mit Ausnahme der Illustrationen zur Geschichte vom Wilden Jäger, sind alle Bilder umgezeichnet, durch zahlreiche Zutaten "vermehrt" und ansprechender koloriert worden. Ob Hoffmann diese Neuzeichnung aus eigenem Antrieb oder auf Verlangen seiner Verleger unternahm, ist nicht bekannt. Äußerer Anlass dafür mag die gegen Ende der fünfziger Jahre erfolgte Umstellung der Verlagsproduktion auf ein neues Buchdruckverfahren, die Galvanographie, gewesen sein. Diese neue Fassung steht in starker Abhängigkeit von den Bildern einer erstmals 1849 erschienenen russischen Struwwelpeter-Übertragung (Stepka-Rastrepka), von der Hoffmann nachweislich ein Exemplar besaß, das ihm vom St. Petersburger Verleger Boles∏aw Maurycy Wolff am 18. April 1857 persönlich gewidmet worden war. Hoffmann fand offenbar an den Illustrationen dieser russischen Ausgabe solchen Gefallen, dass er vieles daraus in seine Neufassung einarbeitete, indem er manche Bilder einfach abmalte und andere als freie Anregung für seine zeichnerische Phantasie nutzte. Die Handschrift dieser zweiten Fassung, von der auch ein Faksimile herausgegeben wurde, befindet sich, mit Ausnahme des Blattes mit der Geschichte vom fliegenden Robert, heute in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Ms. Ff. H. Hoffmann). Dem nur geringfügig veränderten Text und den Illustrationen dieser neuen, sog. 2. Struwwelpeter-Fassung folgen in der Regel die heute gängigen Ausgaben. Nur die Figur des Struwwelpeter selbst, die Hoffmann bei der Neuzeichnung mit finsterem Gesichtsausdruck und bis unter die Kniekehlen reichendem Haar dargestellt hatte, wurde in den Ausgaben ab 1861 erneut verändert. Sie soll nicht von Hoffmann, sondern einem Mitglied der Frankfurter Künstlerfamilie Klimsch stammen. Eine Originalzeichnung davon ist nicht erhalten.
Die kommenden Jahrzehnte brachten Struwwelpeter-Auflagen in rascher Folge. Schon 1876 erschien die hundertste Auflage, und bis zum Tode des Verfassers im Jahre 1894 hatte man fast 200 im Verlag Rütten & Loening hergestellte Editionen gezählt. Für die Jubiläums-Ausgabe von 1876zeichnete Hoffmann, inzwischen wohlbestallter Leiter der unter seiner Regie neu erbauten Frankfurter "Irrenanstalt", ein "Jubiläums-Blatt", das dem Buch künftig als Blatt 1b beigegeben wurde. Auf ihm lassen Gestalten aus Hoffmanns Kinderbüchern einen bekränzten und mit einer Geburtstagsschärpe geschmückten Struwwelpeter im Strahlenkranz mit "Struwwel Hoch" und "Vivat Struwwel" hochleben.
1.8 Die 3. Struwwelpeter-Fassung (1881 und 1889)
Noch zu Lebzeiten Hoffmanns brachte der Struwwelpeter-Verlag Rütten & Loening eine "3. Struwwelpeter-Fassung" auf den Markt, die erstmals 1881 als chromolitho-graphierte, sog. "Prachtausgabe" und, in Holz gestochen und handkoloriert, 1889 unter der Bezeichnung "Neue feine Ausgabe" erschien. Hierzu ist keine Originalhandschrift erhalten. Angesichts von Hoffmanns damals bereits vorgerücktem Alter ist es so gut wie ausgeschlossen, dass er selbst an der künstlerischen Gestaltung dieser Fassung Anteil hatte.
Was die Bildkompositionen angeht, so halten sie sich im großen Ganzen an die Vorgaben der 2. Fassung. Allerdings sind alle Blätter, das sog. Jubiläumsblatt zur 100. Auflage eingeschlossen, neu gezeichnet. Auf ihnen erkennt man durchgehend das Bemühen nach größerer Detailtreue, realistischerer Darstellung, zeichnerischer Komplexität und Farbenvielfalt. Beide Ausgaben waren offensichtlich für einen anspruchsvolleren bürgerlichen Markt bestimmt und folgten dem veränderten Geschmack des ausgehenden Jahrhunderts. Obwohl sie viele Auflagen erlebte – von der "Neuen feinen Ausgabe" ist das 41.–45. Tausend bekannt –, hat sich diese 3. Struwwelpeter-Fassung, die mit ihrer weiteren Abkehr von den einfachen Formen der Urfassung zugleich eine dritte Stufe der Struwwelpeter-Ikonographie darstellt, in der Verlagsgeschichte des Struwwelpeter nicht durchgesetzt. Aufs Ganze gesehen, blieb sie nur ein kurzes Intermezzo in der Editionsgeschichte des Buches.
1.9 Deutsche Struwwelpeterausgaben nach 1894
Für die Jahre nach Hoffmanns Tod blieb das Buch im Struwwelpeter-Original-Verlag Rütten & Loening weiter auf Erfolgskurs: Die 200. Auflage erschien 1896, die 300. im Jahre 1908, die 400. im Kriegsjahr 1917, jeweils mit neu gestalteten Einbänden. Auch nach dem Ablauf des Urheberschutzes Ende 1924 (30 Jahre nach dem Tod des Verfassers) zählte der Verlag die Auflagen weiter und kam damit fast bis auf 600. Bis Anfang der 40er Jahre finden wir dann in den Ausgaben des Stuttgarter Loewes Verlags Ferdinand Carl eine noch darüber hinaus gehende Zählung, die, soweit bekannt, mit der 641.-647. Auflage endet.
Freilich warteten 1925 schon diverse Verlage darauf, endlich legal eigene Struwwelpeterausgaben vorlegen zu können. Bereits 1912 war es dem Leipziger Pallas-Verlag, ohne wirksam daran gehindert zu werden, gelungen, eine so genannte "Nebenluftausgabe" der 1. Fassung (nach der nicht geschützten 1.–4. Auflage des Buches) zu vertreiben. Unter den zahlreichen nach 1925 erschienen deutschen Ausgaben verdienen mehrere Erwähnung. So eine erstmals 1933 vorgelegte Ausgabe des Insel-Verlags Leipzig mit dem Titel "Der Struwwelpeter in seiner ersten Gestalt". Sie gibt die Bilder der 1. Fassung verkleinert wieder und rühmt sich, "das Werk in seiner ganzen genialen Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit wieder[zu]geben". Zu diesem Zeitpunkt war nicht allgemein bekannt, dass die 2. Fassung ebenfalls aus der Hand Hoffmanns stammte. Auf demselben Hintergrund ist auch die besonders gut gelungene und bis heute nachgedruckte Neuillustration von Fritz Kredel (1900–1973) zu sehen – "nach der Urfassung neu gezeichnet" (Potsdam: Rütten und Loening, 1938; eine frühere Version Kredels, ebenfalls "adapted from the rare first edition", erschien bereits 1935 in New York). Des Weiteren haben seit den zwanziger Jahren zahlreiche, z. T. bedeutende Buchillustratoren den Originaltext mit völlig neuen, meist dem Zeitgeschmack folgenden Bildern versehen. Als Beispiele seien erwähnt: Fritz Baumgarten (1926), Ferdinand Barlog (1941), Otto Schmitz (1943), Ignatius Karl Schiele (1945), Kurt Poltiniak (1947), Mary Kother (1948), Hans von Oettingen (1948), Werner Theiss (1948), Dorchen Becken (1948), Otto Braun (1949), Theo Wahl (1949), Wolfgang Felten (1954), Anton Marek (1963), Manfred Bofinger (1994), Hans Witte (1996) sowie 10 Comic-Zeichner einer 2005 in München unter der Leitung von Gerhard Schlegel erschienenen Ausgabe. Mit Ausnahme der Kredelschen Neuillustration hat sich keine dieser Bildfassungen über längere Zeit halten können. Stattdessen ist die verbreitetste Version die 2. Fassung von 1859 mit der Struwwelpeterfigur von 1861 geblieben. Da sie gemeinfrei ist, kann sie heute von zahlreichen Verlagen für ihre Ausgaben verwendet werden.
1.10 Fremdsprachige Struwwelpeterversionen
Schon bald nach seinem Erscheinen blieb der Erfolg des Struwwelpeterbilderbuchs nicht nur auf deutschsprachige Länder beschränkt. Hoffmann selbst bemerkte in seinen Lebenserinnerungen zufrieden: "Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Welt herumgekommen als ich; in ganz Europa sind sie heimisch geworden, ich habe gehört, daß man ihnen in Nord- und Südamerika, am Kap der guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist. Sie haben allerlei Sprachen gelernt, die ich selbst nicht verstehe …"
Bereits im Jahre 1847 erschien eine erste Übertragung ins Dänische; je zwei englische und russische Fassungen, vier schwedische und eine niederländische folgten in den beiden nächsten Jahren. Interessanterweise führte die Herausgabe der ersten schwedischen, niederländischen und amerikanisch-englischen Übersetzung zwischen 1848 und 1850 durch den Mainzer Verleger Christian Scholz zu einem gut dokumentierten Urheberrechtsprozess, den Scholz so eindeutig verlor, dass die in seinem Lager noch vorhandenen Exemplare eingezogen, die lithographischen Steine und Holzstöcke zerstört und auch sämtliche Vorarbeiten für die noch nicht fertiggestellte amerikanische Ausgabe vernichtet werden mussten. Noch zu Lebzeiten des Autors wurden weitere Fassungen auf Norwegisch (1858), Französisch (1860), Finnisch (1869), Spanisch, Portugiesisch (beide vor 1871) und Italienisch (1882) veröffentlicht. Manchen internationalen Ausgaben des 19. Jahrhunderts, vor allem solchen russischer, englischer, amerikanischer, französischer und niederländischer Herkunft, verdanken wir eine Reihe besonders schöner, dem jeweiligen nationalen Geschmack angepasster Neuillustrationen des Buches, mittels derer die ausländischen Verlage das auf den Bildern, nicht aber den Texten liegende Urheberrecht umgehen, so das Monopol des Verlages Rütten & Loening brechen und am Erfolg des Buches partizipieren konnten. In der Tat wäre die Geschichte der Struwwelpeterillustration des 19. Jahrhunderts – wenigstens nach 1859 – recht langweilig ohne diese interessanten ausländischen Struwwelpeterbücher, die der sprachlichen Variation eine ikonographische hinzufügen. Während die meisten Übersetzungen, darunter besonders die frühen, anonym erschienen oder von sonst nicht weiter bekannt gewordenen Übersetzern stammen, haben sich auch berühmte Literaten des Buches angenommen und es in ihre Muttersprache übersetzt, so Louis Gustave Fortuné Ratisbonne, der 1860 unter dem Pseudonym Trim eine französischen Übersetzung – und danach eine ganze Reihe Struwwelpetriaden – veröffentlichte, und Samuel Clemens (Mark Twain) mit einer 1891 entstandenen, jedoch erst postum (1935) erschienenen amerikanischen Version. Bis heute wurde das Buch in über 40 Fremdsprachen übersetzt, darunter in solch "ausgefallene" wie die Kreolsprachen von Mauritius und La Réunion, Afrikaans, Chinesisch, Japanisch, Hebräisch, Jiddisch, Nieder- und Obersorbisch, Friesisch, Lettisch, Litauisch, Estnisch, Ukrainisch, Esperanto, Türkisch und sogar Altgriechisch und Mittelhochdeutsch. In manchen Sprachen gibt es mehrere unterschiedlichen Fassungen, so z. B. 20 englische, mindestens zehn russische Übertragungen und ebenso viele französische, sechs lateinische und schwedische und je fünf auf Rätoromanisch, Finnisch und Spanisch. Wenige Kinderbücher des 19. Jahrhunderts dürften es hinsichtlich der weltweiten Verbreitung mit dem Struwwelpeter aufnehmen können. Allerdings kann man, was den Bekanntheitsgrad der einzelnen fremdsprachigen Fassungen angeht, davon ausgehen, dass der Struwwelpeter in keinem anderen Land auch nur annähernd so bekannt geworden ist wie im deutschsprachigen Raum. Heute wird man außerhalb des deutschen Kulturkreises eine Vertrautheit mit den hierzulande so bekannten Geschichten und Bildern nicht – bzw. nicht mehr – ohne weiteres voraussetzen können; in vielen Ländern – auch innerhalb Europas – ist sie sogar die Ausnahme.
1.11 Deutsche Mundartübersetzungen
Zu der unvermindert anhaltenden Konjunktur der deutschen Originalausgabe des Struwwelpeter und den zahlreichen fremdsprachigen Übertragungen sind in letzter Zeit vermehrt Struwwelpeterfassungen in deutschen Dialekten gekommen. Die ersten Übertragungen des Buches in einen deutschen Dialekt verdanken wir bezeichnenderweise der deutschsprachigen Schweiz. Erst im Gefolge der 'Mundartwelle' der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts nahmen sich in größerem Stil Dialektautoren des Buches an und legten in den verschiedensten deutschsprachigen Regionen eine beachtliche Anzahl mundartlicher Übertragungen vor. Dieser Trend hält bis heute an, so dass inzwischen über 70 verschiedene Mundartversionen entstanden sind. Die Palette der mundartlichen Struwwelpeterfassungen reicht von Südtirol bis nach Schleswig-Holstein und vom Niederrhein bis in die Elchniederung Ostpreußens. Auch deutsche Mundartsprecher in vier Nachbarländern haben sich des Themas angenommen, so in Österreich (Wien, Kärnten, Tirol, Oberösterreich), Italien (Südtirol), Frankreich (Elsass, Lothringen) und der Schweiz (Zürich, Bern, Winterthur). Schließlich dokumentieren fünf Übersetzungen aus Vertreibungs- und Aussiedlungsgebieten (Niederschlesien, Ostpreußen, Ostsudeten, Mähren, Siebenbürgen) diese mit ihren letzten Sprechern aussterbenden Sprachformen.
Solche mundartlich verkleideten Struwwelpeter sind freilich zum großen Teil der Gattung 'Kinderbuch' entwachsen und wenden sich eher an den erwachsenen Mundartfreund. Mit ihren parodistischen Elementen können sie darüber hinaus auch den Liebhaber literarischer Parodien interessieren, denn manche einfallsreichen Übersetzer erlauben sich bei der Regionalisierung durchaus Freiheiten, die in die Richtung einer Parodisierung des Originals gehen.
2 Struwwelpetriaden
In der Literatur und der wissenschaftlichen Diskussion besteht keine Einigkeit über die Verwendung des Begriffes 'Struwwelpetriade' (seltener: 'Struwwelpeteriade'). Das Wort selbst ist wohl 'Robinsonade' und 'Buschiade' nachgebildet.
Eine engere Bedeutung hat 'Struwwelpetriade' meist in der Kinderliteraturforschung. Es bezeichnet dann Kinderbücher (einschließlich Bilderbogen), die in der direkten Nachfolge von Hoffmanns Struwwelpeter stehen, ihn nachahmen und abwandeln und sich dabei meistens auch in Stil, Duktus, Illustrationen und Intention an ihn anlehnen.
Eine andere, weitergehende Bedeutung des Begriffs schließt alle Druckwerke – und gelegentlich sogar andere Medien – mit ein, die zwar in direktem inhaltlichem Zusammenhang mit dem Struwwelpeterbuch stehen, aber aus der Gattung Kinderbuch heraustreten. Darunter werden dann neben den verschiedensten Struwwelpeter-Parodien für Erwachsene auch Vertonungen, Theaterstücke, Tonträger, Spiele, Grafik usw. verstanden.
Hauptschwerpunkt dieses Artikelteils über 'Struwwelpetriaden' sind zunächst Werke der Kinderliteratur, hier Kinderbuch-Struwwelpetriaden genannt. Erst in zweiter Linie wird dann auf Struwwelpeter-Parodien eingegangen, vornehmlich um die interessante und vielfältige Verwendung des Buches für humoristische Zwecke oder solche der gesellschaftlichen und politischen Satire aufzuzeigen. Anderes Struwwelpeter-Material, das gleichfalls in großer Zahl vorliegt, findet hier keine Beachtung.
2.2 Kinderbuch-Struwwelpetriaden
Der Erfolg der Hoffmannschen Bildergeschichten rief fast umgehend zahlreiche Nachahmer auf den Plan. Mit einer Fülle von Kinderbüchern ähnlichen Inhalts schufen sie eine eigene, heute nach Hoffmanns Bestseller benannte Gattung der Kinderliteratur. Diese Struwwelpetriaden übernehmen bestimmte Stilelemente aus dem Struwwelpeter – vor allem das Schema 'Untat führt zur Bestrafung' – und bieten Warngeschichten, dem Struwwelpeter ähnlich und meistens ebenfalls gereimt, mit immer neuen Variationen kindlichen Fehlverhaltens und den unausweichlichen Folgen. In vielen dieser Struwwelpeterimitationen gehen die fälligen Strafen weit über das Hoffmannsche Maß hinaus. Häufig sind auch die Titel direkt in Anlehnung an das Vorbild modelliert: Struwwelfritze, Struwwelliese, Struwwelsuse, Struwwelhannes, Struwwelhanne, Struwwellene, Struwwelpaula, Struwwelpetra, Struwwelpeters Reu und Bekehrung, Struwwelpeter auf Reisen, Struwwelpeters Kameraden, Struwwelpeters Geschwister, Struwwelpeters Urenkel, Super-Struwwelpeter u.v.m. Daneben finden sich aber auch ganz unabhängig formulierte Titel, z. B. solche, die einen anderen Vornamen oder eine andere schlechte Eigenschaft eines Kindes zum Inhalt haben (Tölpel-Peter; Hemdenmatz, Hans Taps, Kohlenmunk-Peter, Lutschfriede, Sammelsuse, Peter Stehauf, Dreckpatscheler); andere deuten die pädagogische Intention des Buches programmatisch an, indem sie bösen Kindern einen Spiegel vorhalten: Spiegel-Bilder, Bilder-Spiegel, Jugendspiegel, Kinder-Spiegel, Tugendspiegel, Warnungsspiegel (alle zwischen 1846 und 1849). Die Zahl dieser dem Struwwelpeter inhaltlich, stilistisch und ikonographisch verwandten Druckerzeugnisse ist gewaltig. Der Höhepunkt ihres Erscheinens liegt im 19. Jahrhundert, jedoch finden sich Beispiele bis in neuere Zeit.
Der schwierigen Aufgabe einer Systematik innerhalb der Gattung hat sich Reiner Rühle in seiner kommentierten Bibliographie Böse Kinder (1999) gewidmet. Hier können nur wenige Titel ausgewählter Kategorien erwähnt werden, wobei wir uns auf Bücher deutscher Provenienz beschränken. Die erste solche Struwwelpeter-Nachahmung erschien bereits ein Jahr nach der Erstauflage der Lustigen Geschichten und drolligen Bilder, im Jahre 1846. Zu den frühesten Nachahmungen innerhalb der Rubrik "Voll-Struwwelpetriaden", zu denen nach Art des Struwwelpeter gestaltete Bilderbücher mit mehreren Einzelgeschichten über unartige Kinder zählen, gehört das 1847 anonym in Nürnberg erschienene Neue Struwwelpeterbuch oder Zucker und Ruthe für artige und unartige Kinder, in dem "Struwwelpeter" zum ersten Mal nach Hoffmanns Verwendung im Titel auftaucht. Ebenfalls aus der Frühzeit der Struwwelpeterimitate stammen Julius Bährs Die unartigen Kinder (illustriert von Theodor Hosemann; 1848), Jakob Julius Adés Jugendspiegel für Kinder von 4–8 Jahren (1848), Der Grüne Bub (anonym, 1849) und Glaßbrenners Lachende Kinder (1850), die in ihrer Zeit alle auch über Deutschland hinaus äußerst erfolgreich waren. In jüngerer Zeit sind das zuerst 1970 in der DDR veröffentlichte Buch So ein Struwwelpeter (Verf.: Hansgeorg Stengel; Ill.: Karl Schrader) und der SuperStruwwelpeter (1993) desselben Autors (ill. von Hans-Eberhard Ernst), beide mit einer eindeutigen thematischen Modernisierung, sehr populär geworden.
Unter "Einzelstruwwelpetriaden" sind Bücher zu verstehen, die nacheinander verschiedene Unarten ein und desselben Kindes thematisieren, was i.d.R. nicht im Titel sichtbar ist, z.B. Der schwarze Salomo (1851), Hoffmanns eigener Bastian der Faulpelz (1854), Der böse Hans (1910), Hans Tunichtgut (1907) u.v.m.
Als Beispiele so genannter "Gegenüberstellungs-Struwwelpetriaden", in denen einem bösen ein braves Kind gegenübergestellt wird, seien angeführt: Der kleine Stapelmatz (1850), Der brave Hans und der böse Peter (1881), Die ungleichen Brüder (1910). Selbstverständlich sind einzelne Warngeschichten mit 'struwweligem' Inhalt in zahlreichen Kinderbüchern zu finden – und bibliographisch kaum umfassend zu dokumentieren. Rühle erwähnt einige davon in der Rubrik "Enthaltene Struwwelpetriaden".
Während die ersten Bilderbogen mit dem Original-Struwwelpeter, jedoch neu illustriert, bereits 1847 in Nürnberg (Gebrüder Schmitt) erschienen waren, was prompt den ersten von Rütten & Loening angestrengten Struwwelpeter-Prozess nach sich zog, finden wir ab Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Bilderbogen-Struwwelpetriaden verschiedener Verlage, u.a. in den Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt (Weise, Stuttgart), den Münchner Bilderbogen (Braun und Schneider, München), den Neuruppiner Bilderbogen (Kühn, Neuruppin) sowie in der Imagerie d’Épinal (Épinal) und der Imagerie Wentzel (Wissembourg).
In Hoffmanns Struwwelpeter findet sich nur eine Geschichte mit einem Mädchen als kleiner Heldin. Demgegenüber widmen sich sog. "Mädchen-Struwwelpetriaden" ausschließlich unfolgsamen Mädchen. Eine erste Struwwelsuse erschien bereits 1849, gefolgt von solchen Titeln wie Die Schreiliesel (1864), Fräulein Nimmermag (1887), Plapperhanne (ca. 1935), Loddermarie (1948) und Struwwelpaula (1994). Die größte Verbreitung dürften die beiden unterschiedlichen Titel Die Struwwelliese – von Julius Lütje, ill. von Franz Maddalena (1896), bzw. von Cilly Schmitt-Teichmann, ill. von Charly Greifoner (1950) – gefunden haben und immer noch finden.
In sog. "Tierstruwwelpetriaden" werden die Untaten der kleinen Bösewichter in das Tierreich verlegt, als Helden treten meist anthropomorphe Tierkinder auf. Erste Beispiele waren Glaßbrenners Sprechende Thiere (1854) sowie die Neuen sprechenden Thiere von Heinrich Horwitz (1858), beide von Carl Reinhard illustriert, während Der Thier-Struwwelpeter von Julius Lohmeyer mit Bildern von Fedor Flinzer (1887) als Prototyp der Gattung anzusehen ist. In dieser Nachfolge stehen neuere Veröffentlichungen wie Der tierische Struwwelpeter (2007) und Der Katzen-Struwwelpeter (2008).
Besonders reizvolle Ausgaben von Struwwelpetriaden, z.T. auch mit originalen Struwwelpeter-Geschichten, stellen bewegliche Bilderbücher dar, so z. B. Gustav Weises lebendiger Struwwelpeter: ein Ziehbilderbuch von Lothar Meggendorfer (der auch andere Struwwelpeteriaden illustrierte), von dem auch eine englische und eine italienische Fassung existieren. Die internationale Verbreitung mancher Struwwelpetriaden wird auch anhand des schönen, ursprünglich in England und Amerika erschienenen Drehbild-Bilderbuches The Magic Lantern Struwwelpeter (ca. 1890) deutlich, von dem es auch Ausgaben für den schwedischen, russischen, holländischen und dänischen Markt gab.
Eine relativ junge, zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallende, jedoch ideologisch interessante und bedeutsame Untergattung stellen "Anti-Struwwelpetriaden" dar. In Fried Sterns Struwwelpeter von heute. Ein Bilderbuch für die Großen (1914) werden die kleinen Helden als selbstbewusste Modelle für eine freie Erziehung nach den Idealen der Jugendbewegung dargestellt. Ganz im Geiste der antiautoritäten Bewegung der späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts steht dagegen Friedrich Karl Waechters künstlerisch hervorragend gestalteter Anti-Struwwelpeter (1970), dessen pädagogisch-subversive Botschaft mit seiner Aufforderung zu kindlichem Ungehorsam und Widerstand gegen die Erwachsenenwelt inzwischen – und wohl bereits in der Zeit seiner Entstehung – eher als originelle Parodie des Original-Struwwelpeter denn als ernst zu nehmendes Kinderbuch einzuschätzen ist.
Außerhalb Deutschlands finden wir Struwwelpetriaden besonders häufig in Holland, England und Amerika, wobei viele dieser in jenen Ländern erschienenen Bücher oder Hefte sich als Übernahmen deutscher Titel erweisen. In Amerika geschah dies meist auf dem 'Umweg' über britische Vorlagen. Ihrer bediente sich besonders der New Yorker Verlag McLoughlin Brothers, welcher in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit annähernd 200 verschiedenen, in zahlreichen Serien veröffentlichten Struwwelpetriaden aufwartete. In England selbst wurde 'Struwwelpeter' sogar als Lehnwort übernommen, als solches zum Über- und Gattungsbegriff für Warngeschichten in der Art des populären deutschen Vorbilds und in dieser Bedeutung u.a. vom Londoner Verlag Dean verwendet.
Der Terminus 'Parodie' soll hier nicht im engeren literaturwissenschaftlichen Sinne als Burleske eines ernsten Werkes mit der Absicht, es lächerlich zu machen – deren gibt es im Zusammenhang mit dem Struwwelpeter wenige – verstanden werden, sondern eher als generischer Begriff für lustige Abwandlungen und Travestien des Struwwelpeterbuches überhaupt, in denen Elemente des Inhalts, des Stils und der Bilder des Buches aufgegriffen und – häufig mit satirischer Absicht – auf die verschiedenartigsten sozialen und politischen Umstände, Personen und Ereignisse übertragen werden. Diese zahlreich vertretenen Struwwelpeterparodien lösen den Struwwelpeter aus dem Kinderbuchkontext heraus und kommen durchaus nicht mehr zu den "artigen Kindern". Anders als die Struwwelpetriaden der Kinderliteratur setzen diese Parodien in der Regel beim Adressaten eine enge Vertrautheit mit dem Original voraus, damit die Anspielungen und lustigen Abwandlungen auch verstanden werden können. Diese Bekanntheit hatte der Struwwelpeter in Deutschland innerhalb weniger Jahre nach dem Erscheinen erreicht. Aber auch in England gehörte The English Struwwelpeter im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den am weitesten verbreiteten Kinderbüchern, weshalb Parodien auch in England an die Popularität des Buches anknüpfen konnten. Manche dieser Bücher halten sich sehr eng an die Vorlage, andere wiederum erinnern nur vage an das Werk, das ihnen als Anregung diente. Insofern können "struwwelpeternahe" und "struwwelpeterferne" Parodien unterschieden werden.
2.3.1 Gesellschaftliche Struwwelpeter-Parodien
In gesellschaftlichen Struwwelpeter-Parodien werden mit Hilfe des Hoffmannschen Bilderbuchs bestimmte Personengruppen oder Zeiterscheinungen kritisch-parodistisch unter die Lupe genommen. Sie waren besonders um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland und England beliebt. In der Regel, jedoch nicht ausschließlich, tragen sie den Namen "Struwwelpeter" im Titel. Nur einige seien aufgeführt: Der Militärstruwwelpeter (1877) und der Marinestruwwelpeter (1901) nehmen zu kritisierende Zustände unter Soldaten und Matrosen aufs Korn. Im deutschen Studentenmilieu spielen der Heidelberger Studenten-Struwwelpeter (1887) und Der Rauhbeinfuchs (1903), während typisches Fehlverhalten an einem englischen College im Marlborough Struwwelpeter (1908) bloßgestellt wird. Ein photographischer Struwwelpeter (1893) und ein Schach-Struwwelpeter (1883) beschäftigen sich mit vermeidbaren Fehlern beim Photographieren bzw. beim Schachspiel. Waidmanns-Struwwelpeter (1884) präsentiert uns verschiedene unter Jägern übliche Unarten, ein Kegel-Struwwelpeter (1910) nimmt sich verschiedene Typen von Kegelbrüdern vor, und eine Festschrift mit dem Titel Der Entomologische Struwwelpeter (1886) hat es satirisch auf Mitglieder eines Königsberger entomologischen Kränzchens abgesehen. Der britische Petrol Peter (1906; 1909 in Amerika als Motor-car Peter) führt uns bereits früh auftretende Unsitten beim Autofahren vor. Aus der Frühzeit des Rundfunks stammt der Rundfunk-Struwwelpeter (1926), ein witziger Spiegel der herrschenden Rundfunkeuphorie. Der in einer Wiener Familie entstandene Aegyptische Struwwelpeter (1895; auch zeitgenössische englische und amerikanische Ausgaben sowie eine jüngere finnische von 1993) macht sich eine gewissen Ägyptomanie des ausgehenden 19. Jahrhunderts parodistisch zu Nutze und versetzt die Handlung der meisten Struwwelpetergeschichten mit neuen, originellen Illustrationen ins alte Ägypten – mit Thot als Struwwelpeter, dem bösen Psammetich, Osiris als Nikolas usw. – und präsentiert das Buch äußerlich als alten angebrannten Papyrus. Zu den Beispielen solcher Parodien in jüngerer Zeit zählt etwa der von der AOK Frankfurt 1977 herausgegebene Struwwelpeter für größere Kinder und Erwachsene, bei dem die Hoffmannschen Geschichten witzig abgewandelt werden, um vor gesundheitlichen Schäden zu warnen, oder ein Touristen-Peter (1997), welcher sich über typische Unarten des modernen Urlaubstourismus lustig macht.
2.3.2 Politische Struwwelpeter-Parodien
Eine besonders fruchtbare und deswegen hier etwas breiter dargestellte Untergattung der Struwwelpeter-Parodien stellen die politischen Parodien dar, die sich Analogien, Ähnlichkeiten und Vergleiche zwischen den Personen und Geschichten des originalen Struwwelpeter und der Welt der Politik zum Zwecke der Polit-Satire zu Nutze machen. Die politischen Verfremdungen des Buches sind so zahl- und variantenreich, dass sich anhand ihrer fast die gesamte europäische Geschichte seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts verfolgen ließe.
Der Struwwelpeter war kaum drei Jahre alt, als ihn politische Satiriker für ihre Zwecke entdeckten. Ein erstes Forum boten ihnen ab 1848 satirische Zeitschriften wie Fliegende Blätter, Eulenspiegel und der langlebige Kladderadatsch, der über Jahrzehnte hin zahlreiche originelle Struwwelpeterkarikaturen zu Politikern und politischen Ereignissen veröffentlichte. Der 1849 erschienene Politische Struwwelpeter – Ein Versuch zu Deutschlands Einigung von Henry Ritter, ein satirischer Kommentar auf die gescheiterte demokratische Revolution, war die erste Struwwelpeter-Parodie in Buchform.
Nach mehreren karikaturistischen Erwähnungen des Struwwelpeterthemas in der satirischen Zeitschrift Punch or The London Charivari, erschien 1899 in England die erste volle Struwwelpeter-Parodie: Harold Begbies und F. Carruthers Goulds Political Struwwelpeter, eine Satire über die britische Innen- und Außenpolitik um die Jahrhundertwende. Ein Jahr später nutzen dieselben Autoren den Erfolg ihres Buches zu einer weiteren auf dem Struwwelpeter basierenden, diesmal gegen Deutschland gerichteten politischen Parodie, The Struwwelpeter Alphabet.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird der Struwwelpeter erstmals von England in der internationalen Kriegspropaganda eingesetzt. In ihrem Swollenheaded William. Painful Stories after the German setzen sich im Jahre 1914 der englische Karikaturist George Morrow und der Essayist E.V. Lucas mit Wilhelm II. auseinander. Die deutsche Antwort auf dieses außerordentlich erfolgreiche Propagandawerk, das auch in Amerika verlegt wurde, war Der Kriegs-Struwwelpeter von Karl Ewald Olszewski (1915), in dem es dem Kriegsgegner nicht weniger scharf heimgezahlt wurde.
Im Gegensatz zu Deutschland finden sich in England, bzw. dem britischen Weltreich, auch in den dreißiger und vierziger Jahren einige Struwwelpeter-Parodien, mit denen der politische Gegner sozusagen mit eigenen Waffen geschlagen wird. Bereits 1933 bedienten sich Humbert Wolfe und Archie Savory (beider Pseudonym: Oistros) unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Diktatur des deutschen literarischen Imports, um in ihrem Buch Truffle-Eater mit erstaunlicher Kenntnis und Weitsicht die politischen Missstände im noch jungen 'Dritten Reich' aufzudecken und anzuprangern. Auch während des Zweiten Weltkriegs wird der Struwwelpeter propagandistisch eingesetzt. In diesem Zusammenhang ist zunächst das Büchlein Struwwelhitler. A Nazi Book by Dr. Schrecklichkeit von Robert und Philip Spence zu nennen, in dem neben verschiedenen Nazigrößen besonders Hitler als blutrünstiger Struwwelpeter und "Cruel Adolf" (alias böser Friederich) ins Visier genommen wird. Die höchst originellen Einfälle und gekonnten Verse und Illustrationen von Robert Colling-Pyper und Margaret Stavridi qualifizieren das ebenfalls als antideutsche Kriegspropaganda 1943 in Kalkutta erschienene Heft Schicklgrüber. Some Cautionary Tales of Modern Times als einen gewissen Höhepunkt der politischen Struwwelpeter-Parodierung. In den satirisch verfremdeten Struwwelpetergeschichten begegnen auf Seiten der Achsenmächte die wichtigsten Nazigrößen (Hitler, Göring, Goebbels, von Ribbentrop, von Keitel, Hess) in Gesellschaft des italienischen Duce und je eines Vertreters Rumäniens und Finnlands, auf Seiten der Alliierten Churchill, Stalin, Roosevelt, de Gaule und der Kaiser von Äthiopien. Reihenfolge und Aufbau der Geschichten folgen genau dem Hoffmannschen Modell.
Erst in der Nachkriegszeit wagte sich der deutsche politische Humor wieder an das Thema Struwwelpeter. Zu den bekannteren Titeln gehören hier Der Struwwelpeter neu frisiert von Eckart und Rainer Hachfeld (München, 1969), Der F.D.Peter von Ulrich Eicke (Bad Oldeslohe, 1971), Der Struwwelpeter von Frankfurt am Main (Frankfurt, 1977) und Der Struwwelpeter zur Wahl von Lämmchen Kralle (pseud.; 1998). Amerika hat nur eine einzige Struwwelpeter-Parodie hervorgebracht: Joseph Wortis’ Tricky Dick and his Pals (1974), eine beißende Satire auf Richard Nixon und die Watergate Affäre.
In Heinrich Hoffmanns Heimatstadt Frankfurt am Main widmet sich das "Struwwelpeter-Museum" (www.struwwelpeter-museum.de) dem Struwwelpeter, seinen zahlreichen Varianten und dem übrigen Werk und Wirken seines Verfassers.
3 Bibliographie
3.0 Vorbemerkung
Angesichts der großen Fülle von Ausgaben des Struwwelpeter und von Struwwelpetriaden beschränkt sich die Bibliographie unter 3.1 auf die wichtigsten frühen Ausgaben des Original-Struwwelpeter. Ausführliche bibliographische Angaben zu den meisten hier erwähnten Struwwelpeterausgaben und Struwwelpetriaden finden sich in Rühle 1999. 3.2 bietet eine Liste ausgewählter Werke der Sekundärliteratur. Verwiesen sei hier – was Veröffentlichungen bis 2003 angeht – auf Sauer 2003, danach auf die jährlich in der Struwwelpost erscheinende Bibliographie der Neuerscheinungen.
3.1 Werke
- Kinderlieb, Reimerich (pseud.): Lustige Geschichten und drollige Bilder. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1845.
- Kinderlieb, Heinrich (pseud.): Lustige Geschichten und drollige Bilder. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1846.
- Kinderlieb, Heinrich (pseud.): Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1846.
- Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt (J. Rütten) 1847 (erste vollständige Ausgabe).
- Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. 27. Auflage. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt, Rütten & Löning) 1859 (erste Ausgabe der sog. 2. Fassung).
- Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt, Rütten & Loening 1881 (sog. Prachtausgabe).
- Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Neue feine Ausgabe. Frankfurt a.M.: Literarische Anstalt, Rütten & Loening 1889.
3.2 Sekundärliteratur
- Arntz, Wilhelm F.: Der Struwwelpeter und andere Original-Manuskripte des Struwwelpeter-Hoffmann. Stuttgart: Beilage zum Katalog der 19. Kunstauktion des Stuttgarter Kunstkabinett 1954.
- Baumgartner, Johannes (in Zusammenarbeit mit Walter Sauer und Hasso Böhme): Der Struwwelpeter. Ein Kinderbuch macht Karriere. Teil 1. Freiburg: Selbstverlag 1996; Baumgartner, Johannes (in Zusammenarbeit mit Walter Sauer, Hasso Böhme und Karin Mayer): Der Struwwelpeter. Ein Kinderbuch macht Karriere. Teil 2. Freiburg: Selbstverlag 1998.
- Bode, Andreas: Zur Geschichte des Buches. In: Der Struwwelpeter. Ungekürzte farbige Ausgabe von Dr. Heinrich Hoffmann. München: arsEdition 1994, [S. 25–30]; Böhme, Hasso (Hrsg.): 150 Jahre Struwwelpeter. Das ewig junge Kinderbuch. Stäfa: Rothenhäusler 1994.
- Bogeng, G.A.E (Hrsg.): Das Struwwelpeter-Manuskript des Dr. Heinrich Hoffmann. Originalgetreue Nachbildung der Urhandschrift. Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1925.
- Bogeng, G.A.E.: Der Struwwelpeter und sein Vater. Geschichte eines Bilderbuchs. Potsdam: Rütten & Loening 1939.
- Doderer, Klaus: Der Struwwelpeter. In: Klassische Kinder- und Jugendbücher. Kritische Betrachtungen. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 1969, S. 55–97.
- Doderer, Klaus: Hommage an Heinrich Hoffmann. Struwwelpost Nr. 13, 2007, S. 9–13.
- Evers, Gerhard: Entstand der 'Struwwelpeter' im Kreis der 'Tutti Frutti'? In Heinrich-Hoffmann-Museum 1983, S. 38-40.
- Freundeskreis des Heinrich-Hoffmann-MuseumsFrankfurt am Main (Hrsg.): Struwwelpost. Nr. 1–13, 1996-2007. (Hrsg. ab Nr. 14, 2008: Freundeskreis Struwwelpeter-Museum Frankfurt am Main).
- Gielen, Theo: Ziet hier Piet de Smeerpoets staan. Een illustratiegeschiedenis van een klassiek kinderboek in de negentiende eeuw. In: Berry Dongelmans [u.a.] (Hrsg.): Tot volle waschdom. Bijdragen aan de geschiedenis van de kinder- en jeugdliteratuur. Den Haag: Biblion 2000, S. 151–164.
- Heinrich-Hoffmann-Museum der frankfurter werkgemeinschaft e.V. (Hrsg.): Der Struwwelpeter – Entstehung eines berühmten deutschen Kinderbuchs. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 1983.
- Heinrich-Hoffmann-Museum der frankfurter werkgemeinschaft e.V.: Die Kinder des Struwwelpeter. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 1984.
- Heinrich-Hoffmann. Museum der frankfurter werkgemeinschaft e.V. (Hrsg.): Das Urmanuskript des Struwwelpeter von Dr. Heinrich Hoffmann. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum; Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 1987.
- Heinrich-Hoffmann-Museum der frankfurter werkgemeinschaft e.V.: Von Peter Struwwel bis Kriegsstruwwelpeter. Struwwelpeter-Parodien von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 1985.
- Herzog, G.H./Siefert, Helmut (Hrsg.): Struwwelpeter-Hoffmann. Texte, Bilder, Dokumentation. Katalog. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 1978.
- Herzog, G.H./Herzog-Hoinkis, Marion/Siefert, Helmut (Hrsg.): Heinrich Hoffmann. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt a.M.: Insel 1995.
- Jacobs, Heiner: Struwwelpeter und Struwwelpeteriaden. In: Schug, Albert (Hrsg.): Die Bilderwelt im Kinderbuch. Kinder- und Jugendbücher aus fünf Jahrhunderten. Katalog zur Ausstellung der Kunst- und Museumsbibliothek und des Rheinischen Bildarchivs der Stadt Köln. Köln: Stadt Köln 1988, S. 84–89, 428–431.
- Jahn, Jürgen: Struwwelpeter und sein Autor. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur 74, 1985, S. 21–33.
- Liebert, Ute: Wie der Struwwelpeter 1845 seinen Verleger fand und was im Struwwelpeter Originalverlag aus dem berühmtesten deutschen Bilderbuch wurde. In: Böhme 1994, S. 54–59.
- Liebert, Ute: Der Struwwelpeter. Bibliographie und Buchgeschichte des Kinderbuchklassikers 'Der Struwwelpeter' und aller späteren Bilderbücher des Frankfurter Arztes Dr. Heinrich Hoffmann. Osnabrück: Wenner (angekündigt); Müller, Helmut: "Struwwelpeter" und Struwwelpetriaden. In: Doderer, Klaus/Müller, Helmut (Hrsg.): Das Bilderbuch. Geschichte und Entwicklung des Bilderbuchs in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Auflage. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 1973, S. 141–182.
- Müller, Helmut: Der "Struwwelpeter". Der langanhaltende Erfolg und das wandlungsreiche Leben eines deutschen Bilderbuches. In: Doderer, Klaus (Hrsg.): Klassische Kinder- und Jugendbücher. 3. Auflage. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 1975, S. 55–97.
- Müller, Helmut: Struwwelpeter, Struwwelpetriade. In: Doderer, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 3. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 1984, S. 483–488.
- Niedhammer, Ortrun (Hrsg.): "Wenn die Kinder artig sind …" Zur Aktualität des Kinderbuchklassikers Struwwelpeter. Münster: Daedalus 2006; Ries, Hans: Der Struwwelpeter – ein Bilderbuch gegen das deutsche Biedermeier. Struwwelpost Nr. 5, 1999, S. 29–36.
- Ries, Hans: Zur Drucktechnik der ersten Struwwelpeter-Ausgaben. In: Freundeskreis des Heinrich-Hoffmann-Museums (Hrsg.): Struwwelpost Nr. 13, 2007, S. 17–20
- Rühle, Reiner: "Böse Kinder". Kommentierte Bibliographie von Struwwelpetriaden und Max-und-Moritziaden mit biographischen Daten zu Verfassern und Illustratoren. Osnabrück: Wenner 1999.
- Rütten & Loening (Hrsg.): Der Struwwelpeter in seiner zweiten Gestalt von Dr. Heinrich Hoffmann. Erstmalige Ausgabe des Originals von 1858. Berlin: Rütten & Loening 1994.
- Sauer, Walter: A Classic is Born: The "Childhood" of Struwwelpeter. In: Publications of the Bibliographical Society of America 97, 2003, H. 2, S. 215–263.
- Sauer, Walter: Der Struwwelpeter und sein Schöpfer Dr. Heinrich Hoffmann. Bibliographie der Sekundärliteratur. Neckarsteinach: Edition Tintenfaß 2003.
- Sauer, Walter: Struwwelpeter regional: Mundartliche Verkleidungen eines deutschen Kinderbuchs. In: Niedhammer 2006, S. 71–76.
- Sauer, Walter: Heinrich Hoffmann. Der Vater des Struwwelpeter. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur - Ein Lexikon. Meitingen: Corian 1995ff. (32. Erg.-Lfg. 2007, S. 1–20).
- Wiedmann, Ulrich (Hrsg.): "Was? Walter! Sechzig!?" Neues vom Struwwelpeter. Festschrift für Walter Sauer. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 2002.
- Wiedmann, Ulrich/Zekorn-von Bebenburg, Beate: Struwwelpeter wird Revolutionär. Begleitheft zur Ausstellung des Heinrich-Hoffmann-Museums zum 150jährigen Jubiläum der deutschen Revolution. Frankfurt a.M.: Heinrich-Hoffmann-Museum 1998.
- Zekorn, Beate. Nachwort. In: Rütten & Loening 1994, S. 55-61.
- Zekorn-von Bebenburg, Beate. Nachwort. In: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Jubiläumsausgabe des Heinrich-Hoffmann-Museums Frankfurt a.M.: Heinrich Hoffmann-Museum 2002, [S. 56f.].
- Zekorn-von Bebenburg, Beate: Struwwelpeter. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 12, Lieferung 3. Berlin: de Gruyter 2007, S. 1416–1421.
Überarbeitete Fassung des Artikels: Struwwelpeter und Struwwelpetriaden. aus: Kinder- und Jugendliteratur – ein Lexikon, hrsg. von Kurt Franz, Günter Lange u. Franz-Josef Payrhuber im Auftrag der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V., Volkach, Corian-Verlag, Meitingen, Teil 5, 35. Ergänzungslieferung, 2009.