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Das Bilderbuch des amerikanischen Grafikdesigners John Hare erscheint im Jahr 2019, das Jahr, in dem Nordamerika das 50-jährige Jubiläum seiner Mondlandung feiert: Ein gutes Jahr für die Veröffentlichung einer Geschichte über eine Mond-Exkursion.

Der Originaltitel Field Trip to the Moon, im Deutschen Ausflug zum Mond, wäre aber besser mit "Klassenausflug" (wie in der französischen Edition: Classe de Lune) oder mit "Wandertag" zum Mond übersetzt worden: Denn es geht nicht um reines Vergnügen und ein Entfliehen des Alltags, sondern um eine Exkursion, bei der ein Erwachsener einer Kindergruppe vor Ort den Mond zeigt. Ein Kind zieht sich dabei zum Zeichnen zurück, schläft ein – und wird auf dem Mond vergessen! Während es darauf wartet, wieder abgeholt zu werden, schließt es Bekanntschaft mit grauen, humanoiden Wesen, die den Mond bewohnen, und macht sie mit Farbstiften bekannt.

Analyse der Illustrationen und Buchgestaltung

Der Mond, grau und rundlich, bekommt Besuch

Schon das Cover macht gespannt auf den Ausflug: Die Acrylmalerei Hares zeigt hier eine Gruppe von Kindern, die mit einem Erwachsenen in ein gelbes Raumschiff steigt. Daneben schwebt im All das Verkehrsschild "Achtung Schule" (bzw. "SLOW SCHOOL ZONE" im amerikanischen Original, so auch im Französischen mit "RALENTIR ÉCOLE" übersetzt). Das stellt den Ausflug in einen schulischen Kontext: Der erwachsene Exkursionsleiter ist als Lehrer einer Schulklasse zu identifizieren, dadurch wird die abstrakte Science-Fiction-Vorstellung eines Ausflugs zum Mond leichter in die Lebenswelt der Lesenden übertragbar.

Das Raumschiff lässt sich als "Schulbus im All" deuten, es erinnert nämlich in Form und vor allem Farbe an die US-amerikanischen Schulbusse in "National School Bus Glossy Yellow" (NHTSA 2009:1). Folgende Abbildung zeigt die Illustration der Doppelseite 6/7, auf der die Schulklasse mit der Monderkundung beginnt:

Abb. 1: Das Kind mit der Stifteschachtel im Abstand zur Gruppe (Quelle: Hares Portfolio, Illustration im Buch, S. 6 f.)Abb. 1: Das Kind mit der Stifteschachtel im Abstand zur Gruppe (Quelle: Hares Portfolio, Illustration im Buch, S. 6 f.)

Das leuchtende Gelb nimmt konsequent eine zentrale Rolle in Hares Bilderbuch ein: Während es zuerst in Form des Raumschiffes auf dem Cover und dann als Vorsatzpapier ins Auge fällt, wird es anschließend als Farbe einer Stifteschachtel zum Erkennungsmerkmal der Hauptfigur.

Auf dem Mond alle gleich?

Alle Personen tragen nach ihrer Mondlandung Astronautenanzüge, weshalb sie sich dann nur in ihrer Größe, ihrer Gestik und eben den Gegenständen unterscheiden, die sie bei sich tragen. Äußerlichkeiten wie Hautfarbe und Haarlänge sind auf dem Mond nicht mehr zu sehen. Dadurch sind Zuschreibungen zum Beispiel von Ethnie und Gender auf dem Mond nicht möglich. Sie werden unbedeutend, eine positive Eigenschaft von Ausflug zum Mond. Denn so wird nur als "anders" markiert, wer sich "anders" verhält – wie die Hauptfigur, die hinter der Gruppe zurückbleibt. Weil sie nur durch die gelbe Stifteschachtel zu identifizieren ist (und nicht durch ihr Weiß-Sein oder Weiblich-Sein), könnten sich viele Lesenden mit ihr identifizieren (vgl. Kübler 2013: 63 f., 68).

Auf der letzten Buchseite ist die Hauptfigur zum einzigen Mal ohne Kopfbedeckung zu sehen: Hier hat sie helle Haut, lockige, braune, mittellange Haare und könnte ein Mädchen oder ein Junge sein. Das ist aber in der Geschichte irrelevant. In der amerikanischen Ausgabe wird zwar in einer Kurzbeschreibung bei den bibliographischen Angaben die Hauptfigur als Mädchen bezeichnet, die Geschichte selbst lässt eine eindeutige Zuordnung wegen fehlender Namensgebung und der Abwesenheit von erklärendem Erzähltext glücklicherweise nicht zu.

Körpersprache statt Schriftsprache

Die Lesenden werden zum Publikum einer mit Pantomime erzählten Geschichte, die zwischen den Buchdeckeln auf der kargen Mondoberfläche aufgeführt wird. Die Kenntnis der (Schrift-)Sprache ist keine Voraussetzung für das Verständnis der Geschichte: Bis auf die Aufschriften auf Gegenständen (Verkehrsschilder, Stifteschachtel) und das comicartige Onomatopoetikum "ZZZ" (als Kennzeichnung für Schlafen) kommt sie ohne Text aus.

Hier zeigt sich die besondere Fähigkeit Hares in der Figurendarstellung: Ausflug zum Mond wird hauptsächlich durch die Körpersprache der Figuren erzählt, denn auch die Mimik ist durch die Astronautenhelme ja nicht zu sehen.

Folgende Abbildung zeigt Hares fast farblose Skizze einer Szene der Schulklasse auf dem Mond:

Abb. 2: Skizze der Ausflugsgruppe beim Sprung über einen Mondgraben, ganz rechts das Kind mit Malblock (Quelle: Blogeintrag Hares vom 23.01.2017)Abb. 2: Skizze der Ausflugsgruppe beim Sprung über einen Mondgraben, ganz rechts das Kind mit Malblock (Quelle: Blogeintrag Hares vom 23.01.2017)

Hier ist schon ohne die Farbigkeit der Endversion zu sehen, wie die Gestik der Figuren und ihre Bewegung im Raum so ausdrucksstark sind, dass die verschiedenen emotionalen Zustände der Figuren und ihre Beziehungen untereinander auch ohne comichafte Überzeichnung deutlich werden. Diese Reduktion verzichtet aber nicht auf Humor, es ist witzig, wenn starke Gesten auf einen Blick von Tragik oder Komik erzählen.

Layout und Buchgestaltung unterstützen Handlung

Die Kargheit der Mondoberfläche spiegelt sich in Hares Illustrationsstil wider, und die Reduktion auf wenige Formen und Farben wird von der Buchgestaltung aufgegriffen. Dabei verstärkt das längliche Format einer Doppelseite, das sich aus dem nahezu quadratischen Buchformat ergibt, die endlose Weite des Mondpanoramas im Hintergrund.

Spannung wird durch überraschende Wendepunkte in der Geschichte aufgebaut, die sich durch verschiedene Formen weißer Rahmung von den sonst randlosen Bildern im Buch abheben. Als das Kind mit der Stifteschachtel feststellt, dass es von der Gruppe zurückgelassen wurde, unterstützt die Aneinanderreihung mehrerer Hochformate auf einer Doppelseite die Geschwindigkeit, mit der das Kind zum Landeplatz rennt, das Raumschiff wegfliegen und im Universum verschwinden sieht.

Kreisrunde Einrahmungen einzelner Bilder verweisen auf die Kugelform der Planeten, die Astronautenhelme und die Augen der Mondwesen, die nun aus der Mondoberfläche auftauchen. Durch Perspektivwechsel in der Darstellung entdeckt das Publikum der Geschichte noch vor der Hauptfigur die Mondwesen. Trotz der wenigen Farben und Formen gibt es nämlich Details, die dazu einladen, auch nochmal zurückzublättern: So stellen sich zum Beispiel manche Steine als Augen der Mondwesen heraus. Sie haben alle nur ein Auge, mit dem sie wie Überwachungskameras von verschiedenen Stellen beobachten. Die runde Rahmung einzelner Bilder könnte damit auch das Blickfeld der Mondwesen darstellen, was es einfacher macht, auch ihre Perspektive zu übernehmen.

Deutungsvielfalt der Körpersprache

Durch den Verzicht auf Text bleibt ein gewisser Interpretationsspielraum offen, was die aufmerksame Betrachtung der Bilder einfordert und es möglich macht, das Buch mehrmals zu "lesen" und zu unterschiedlichen Erzählungen zu kommen. So ist zum Beispiel nicht klar, ob die Hauptfigur, das Kind mit Zeichenblock und der gelben Stifteschachtel, auf der Expedition immer weiter hinter der Gruppe zurückbleibt, weil es keinen Anschluss in der Gruppe hat, am liebsten allein ist, oder weil es keine Lust auf die Erklärungen des Lehrers hat. Die über Block und Schachtel verschränkten Arme sprechen für mehrere Interpretationen.

Der Gesichtsausdruck des Kindes ist nur vor und nach dem Mondaufenthalt zu sehen, weil es da keinen Helm braucht: Vor der Expedition scheint das Kind ängstlich, doch dann bliebe es wohl nicht hinter der Gruppe zurück. Oder hat es Angst vor der Gruppe? Ist es also doch traurig, weil es in der Gruppe keine Freunde hat? Oder hat es einfach seine eigenen Interessen? Denn während andere Kinder Fotos von sich auf dem Mond machen, Mondgestein sammeln oder sich eifrig melden, vielleicht, um dem Lehrer Fragen zur Mondoberfläche zu beantworten, scheint das Kind mit der Stifteschachtel nicht so begeistert davon, auf dem Mond zu sein. Es interagiert überhaupt nicht mit den anderen Kindern, und mit dem Lehrer erst, als es am Schluss wieder abgeholt wird.

Folgende Abbildung einer nicht im Buch verwendeten Illustration Hares zeigt das Kind mit den Stiften, wie es bei der Ankunft am Mond nicht wie alle anderen direkt aufspringt, sondern eigentlich keine Lust hat, aufzustehen, um den Mond zu erkunden:

Abb. 3: Vor der Ankunft auf dem Mond, Illustration Hares, wurde im Buch nicht verwendet (Quelle: Blogeintrag Hare vom 26.08.2019)Abb. 3: Vor der Ankunft auf dem Mond, Illustration Hares, wurde im Buch nicht verwendet (Quelle: Blogeintrag Hare vom 26.08.2019)

Hare schreibt dazu, dass die Szene für die Geschichte nicht notwendig gewesen sei, aber er mag "how the kid with the crayons doesn't look to thrilled to be on the moon" (Hare 2019e). Diese Szene ist aber nicht nur nicht notwendig, sondern bringt mit den verschiedenfarbigen Rucksäcken und dem grünen Innenleben des Raumschiffs auch so viele Farben und Formen ins Spiel, dass sich die poetisch konzentrierte Reduktion zu Beginn der Geschichte aufheben würde.

Farben auf dem Mond!

Das Kind bleibt mit Malblock und gelber Stifteschachtel bei der vom Lehrer angeführten Tour immer weiter hinter der Gruppe zurück und schließlich ganz stehen, als es am Mondhimmel die Erde sieht. Der Planet leuchtet in Blau, Grün, Gelb und Weiß in der sonst so farblosen Umgebung. Das ist Anlass für das Kind, sich ganz in das Abzeichnen zu vertiefen. Hier wird die Doppelseite nicht als Panorama begriffen, sondern zeigt zeitgleich geschehende Wirklichkeiten: auf der einen Hügelseite das malende Kind, auf der anderen den Lehrer, der enthusiastisch seiner Klasse die Mondkrater zeigt.

So einsam wie mit der Gruppe ist das Kind aber nicht mehr, als es scheinbar ganz allein auf dem Mond zurückgelassen wird: Nun wird es nämlich von den Mondwesen beobachtet, die sich aus der doch nicht leblosen Mondoberfläche graben, um zuzuschauen, wie das Kind mit seinen bunten Wachsmalern Bilder malt.

Überwiegen in der Regel die Farben Grau, Schwarz und Weiß auf den Buchseiten, die sich als Mondoberfläche, Weltallhintergrund und Astronautenanzüge durch die Geschichte ziehen, bringt die Hauptfigur mit ihren Stiften auch die anderen Farben wie Violett, Grün, Blau und Rosa auf den Mond.

Die Entdeckung – Motiv der fantastischen KJL

Von den Farben sind die grauen Mondwesen so fasziniert, dass sie alle Vorsicht vergessen und von dem Kind entdeckt werden. Ein klassisches Motiv in der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur: die Erwachsenen, die vor lauter Alltag das Außergewöhnliche nicht wahrnehmen, und das Kind, das allein eine andere Welt entdeckt, die von außergewöhnlichen Wesen bewohnt wird. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Carrols Alice im Wunderland, die als kindliche Grenzgängerin von der alltäglich-realistischen in die fantastische Welt fällt (vgl. Caroll 2017 [Alice’s Adventures in Wonderland, 1865]; vgl. "den kindlichen Grenzgänger" zwischen der realistischen und fantastischen Welt nach dem Zweiweltenmodell Nikolajevas, Glasenapp/Weinkauff 2014, S. 104).

Das Kind mit den bunten Stiften bei Ausflug zum Mond wird aber nicht von den Mondwesen in ihre Welt (unter der Mondoberfläche?) mitgenommen, stattdessen entscheiden sich die Mondwesen, bei dem Kind auf der Mondoberfläche zu bleiben. So wie die Mondwesen für das Kind fantastisch sind, sind die bunten Stifte des Kindes für die Mondwesen  der "Einbruch des Fantastischen" in ihre  Alltagswelt  (vgl. dazu "die implizierte sekundäre Welt" nach Nikolajevas Zweiweltenmodell. Glasenapp/Weinkauff 2014, S. 104).

Eindringen, Erobern und Kolonialisieren – oder empowernde Freundschaft?

Beim Lesen des Buches erfahren wir nicht, wie die Mondwesen vor und nach der Begegnung mit dem Kind und seinen Stiften leben, stattdessen wird das Eindringen der Menschen in die Lebenswelt der Mondwesen aus der menschlichen Perspektive der "Entdecker" gezeigt: Der Lehrer ist ein Entdecker, der seiner Schulklasse den Mond erklärt, dabei aber die Mondwesen gar nicht wahrnimmt. Diese entdecken das zeichnende Kind, werden dann vom Kind entdeckt, das ihnen die Farben zeigt. Was zeigen die Mondwesen dem Kind, außer, dass es sie gibt? Zeigt das Kind seinem Lehrer irgendwann die Mondwesen (oder ein Bild von ihnen)? Was passiert dann? Wird der Mond nach dieser Entdeckung erobert und werden die Mondwesen dann als rückständige exotische Ureinwohner zur Schau gestellt? Oder glaubt dem Kind keiner, weil es als zu fantasiereich und wirklichkeitsverweigernd gesehen wird?

So wie die Fragen zum Leben der Mondwesen offenbleiben, ist auch nicht klar, wie und wo die Schulkinder eigentlich leben.[1] Das fordert die Fantasie heraus und kann als Stärke der Bildergeschichte gesehen werden. Doch dass die Rolle des Entdeckers zunächst vom weißen Mann, dann vom menschlichen Kind ausgefüllt wird, bleibt zu kritisieren.[2] Der eine bringt seiner Klasse die Oberflächenstruktur des Mondes nahe, das andere "zivilisiert" die Mondwesen durch die Einführung von Stift und Papier. Diese Szene wird durch die Darstellung in leichter Untersicht verstärkt: Obwohl die Mondwesen eigentlich größer sind, ist es hier das Kind, was wie zuvor sein Lehrer am größten scheint, und um das herum sich alle melden. Die Mondwesen wollen Stifte und Papier haben, die ihnen das Kind großzügig entgegenstreckt. Einerseits sehr empowernd für die kindliche Leserschaft: Auch Kinder können schon was, können schon was zeigen. Zu unreflektiert ist hier aber der Bezug zu Kolonialisierung: Die Mondwesen scheinen so primitiv, dass sie nicht selbst Führungen anbieten, in denen sie mit Expertise die Mondoberfläche erklären, stattdessen müssen sie sich vor den Menschen verstecken. Sie verkörpern das Stereotyp der "Wilden", die vor harmlosen Werkzeugen zivilisierter Gesellschaften (hier Stifte) erst Angst haben und dann von einfachen Wachsmalern so begeistert sind, dass sie das Kind gar nicht mehr beachten. Folgende Abbildung zeigt die Illustration dieser Szene im Buch:

Abb. 4: Nur ein Blatt Papier und der graue Farbstift bleiben dem Kind (Quelle: Portfolio Hares, Illustration wird im Buch verwendet)Abb. 4: Nur ein Blatt Papier und der graue Farbstift bleiben dem Kind (Quelle: Portfolio Hares, Illustration wird im Buch verwendet)

Hare schafft es aber, selbst Eindringlinge als harmlos und liebenswert darzustellen. Auch zeigen die Mondwesen ein breites Lächeln, als sie merken, dass das Kind nichts Böses will. Der Lehrer, der zuvor seinen Schützlingen die Welt bzw. den Mond erklärt, kniet sich beim Abholen des zurückgelassenen Kindes hin und umarmt es, wodurch er zum ersten Mal fast auf Augenhöhe seines Schützlings ist. Außerdem fordert er es auf, die Zeichnungen (der Mondwesen!) am Felsen wegzuwischen, was als respektvoller Umgang mit der Natur gesehen werden kann. Der Lehrer hilft unterdessen, indem er die Mal-Utensilien des Kindes einsammelt. Dieses Wiedersehen, was von einem Vertrauensverhältnis zwischen Schulkind und Lehrer spricht, ist gleichzeitig der Abschied des Kindes von den Mondbewohnern. Die stehen in freundschaftlicher Beziehung zum Kind und winken ihm mit ihren neuen bunten Stiften hinterher.

Farbstifte zum Abbilden als selbstreflexives Motiv?

Dem Kind ist nur der graue Stift geblieben, den kein Mondwesen haben wollte, weil man damit natürlich nicht auf grauen Körpern oder grauem Mondgestein malen kann (und Grau für die grauen Mondwesen auf dem grauen Mond wohl auch einfach langweilig ist).

Das Kind aber zeichnet beim Rückflug mit diesem grauen Stift auf seinem letzten Zeichenblockpapier ein Mondwesen. Das Bild der leeren gelben Stifteschachtel neben dem Kind im Raumschiff ist ein schönes Abschlussbild für Hares Geschichte: Das Kind hat den Mondwesen die Farben gebracht und dadurch den grauen Stift entdeckt, den es auf seinen bunten Bildern selten gebraucht hat. Der reicht aber aus, um die Erinnerungen an den Ausflug zum Mond zu zeichnen.

Obwohl das Zeichnen in der Geschichte eine so zentrale Rolle spielt, werden von den Figuren in der Geschichte immer nur einzelne Motive abgebildet. Hier steckt ein Potential, das Hare ungenutzt lässt: Außer zum spaßigen Zeitvertreib und zum Festhalten von Ansichten und Erinnerungen könnte auch das Zeichnen der Figuren dazu genutzt werden, eine Fantasiewelt zu schaffen oder eine Geschichte zu erzählen. Eine ganze Geschichte denkt sich aber nur der Illustrator des Buches aus: Nur er malt auch die Hintergründe, mischt Farben, schattiert und benutzt verschiedene (Pinsel-)Strichstärken, sodass hier das Gemaltsein und das Motiv nicht mehr im Vordergrund stehen, sondern eine eigene Welt eröffnet wird.

Identifikation mit Entdeckern oder Entdeckten?

Welche Rolle in dieser Bilderbuch-Welt das weiße Amerika als Nation, die auf dem Mond gelandet ist, und die koloniale Rechtfertigung von Eindringlingen als Entdecker spielen, bleibt kritisch zu reflektieren: Wenn das Buch besprochen wird, sollte überlegt werden, wie wichtig für die Mondausflügler der Geschichte die amerikanische Perspektive ist (die Astronautenanzüge erinnern an die US-amerikanischen, das Raumschiff an die Schulbusse der USA und Nordamerika ist als Kontinent auf dem Erdplaneten am Mondhimmel und den Zeichnungen von Kind und Mondwesen zu erkennen). Der Lehrer als Expeditionsleiter ist weiß und männlich, auch das Kind mit der Stifteschachtel ist weiß, in der Schulklasse sind aber Kinder unterschiedlicher Hautfarben. Ist es möglich, die Geschichte auch mit Bezügen zu einem Land zu erzählen, das keine Mondlandung bezahlt hat? Muss amerikanischer Patriotismus und der Stolz auf eine Mondlandung auch in einem Kinderbuch verortet sein? Es würde zumindest nicht schaden, wenn der Erdplanet so von Wolken umgeben wäre, dass keine eindeutigen Kontinentformen erkennbar sind.

Einige Kinder auf dem Cover sind durch ihre "Requisiten" auch auf der Mondwanderung wiederzuerkennen. Da aber mindestens am Schluss deutlich wird, welche Hautfarbe die Hauptfigur hat, bleibt im Rahmen konkreter Lesungen herauszufinden, mit welchen Figuren sich welche Kinder beim Lesen tatsächlich identifizieren und welche Lesarten sie in Betracht ziehen.

Anschlusskommunikation

Zu überlegen bleibt, wie viel Text bei der (Vor-/Nach-)Besprechung eines Buches notwendig ist, das bis auf "Achtung Schule", "STOP", "CRAYONS" und "ZZZ" ohne Text auskommt. Es wäre interessant, das Buch (zum Beispiel im Musikunterricht) zu vertonen oder die Geschichte aus der Sicht der Mondwesen zu erzählen[3]: Was für eine Sprache haben sie? "Sprechen" sie pantomimisch? Sind sie wirklich so "rückschrittlich", dass sie keine Farben kennen, oder haben sie dafür mehr Töne, Gerüche, etc., die die Menschen durch ihre Astronautenhelme nicht wahrnehmen können? Wie verändert sich das Leben der Mondwesen, wenn sie Farben haben, was passiert, wenn die Stifte leer sind? Können sie nicht auch in die Oberfläche zeichnen, wo doch die Fußspuren vom Ausflug sichtbar bleiben?

Dieses Buch eignet sich auch für einen Einstieg dazu, mehr über den Mond herauszufinden, oder aber, sich auszudenken: Hare hat sich auch Gedanken über eine durch Rotation Schwerkraft erzeugende Basisstation gemacht (vgl. Hare 2019d). Mit der Leichtigkeit, mit der die Kinder über Mondkrater springen, verdeutlicht er die außergewöhnliche Gravitation auf der Mondoberfläche. Im Raumschiff zeigt er aber eine Szene, die (bis auf die Aussicht und den Astronautenhelmen unter dem Sitz) auch auf der Erde spielen könnte, hier gibt es nämlich keine Schwerelosigkeit.

Rezeption im deutschsprachigen Raum

Die FAZ veröffentlicht eine Rezension zu Hares Bilderbuchdebüt und die SZ berichtet darüber, dass Hare für sein Ausflug zum Mond den Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln bekommt (vgl. Spreckelsen 2019; SZ 2020). In der Jurybegründung wird die kritische Komponente des Entdeckertums angesprochen, dadurch, dass nach dem Ausflug "außer den Spuren der Kinderfüße keinerlei menschliche Aneignungsversuche" zurückbleiben, scheine die Menschheit in Hares Geschichte aber "dazugelernt zu haben, denn anstatt den Mond zu kolonisieren, wird nach dem Schulausflug wieder schön aufgeräumt" (Hameln 2020).

Ausflug zum Mond wurde im Jahr 2020 von der AJuM mit dem Lesepeter des Monats April und von der Stiftung Lesen mit dem Lesekompass ausgezeichnet, außerdem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert (vgl. AJuM 2020; Eder/Pfeiffer-Spiekerman 2020; Stiftung Lesen 2020). Der Arbeitskreis für Jugendliteratur gibt ausführliche Materialen zur Arbeit mit dem Buch in der Grundschule und das Netzwerk für Literaturvermittlung im Früh- und Vorschulbereich stellt eine Leseanimation für Kindergartenkinder vor (vgl. Eder/Pfeiffer-Spiekerman 2020, S. 7–12; Fux 2019). Das Bremer Institut für Bilderbuchforschung wählt es zum Buch des Monats und veröffentlicht eine didaktische Rezension (vgl. Enzmann 2019).

Die Vielfalt der Adaptionsmöglichkeiten und die offenen Fragen für Anschlusskommunikation zeigen, dass Hare bis auf die stereotype Darstellung der "Entdeckung" von Mondwesen mit seinem Bilderbuchdebüt eine außergewöhnliche Geschichte gelungen ist. Die Aufmerksamkeit, die er im Jubiläumsjahr der Mondlandung erhält, und die Vielzahl an Auszeichnungen ist bestimmt mit ein Grund für das Erscheinen weiterer spannender und ruhiger, witziger und trauriger, poetischer und eindeutiger Bildergeschichten: Gerade neu erschienen: Field Trip to the Ocean Deep. Es bleibt zu hoffen, dass Hare da dann auch das Entdeckertum kritisch reflektiert.

Fußnoten

[1] Laut Blogeintrag vom 29.07.2019 hat Hare dem Editor dazu einen Vorschlag gemacht, was sinnvollerweise aber abgelehnt wurde, so bleibt mehr Freiraum für ein eigenes Weiterdenken der Geschichte (vgl. Hare 2019d).

[2] In Hares nächstem Buch, Field Trip to the Ocean Deep, ist die Lehrkraft ein schwarzer Mann (vgl. Hare 2020).

[3] Was Jeanne Willis gemacht hat, teilweise in Reimform und sehr zurückhaltend, trotzdem kann man sich fragen, warum die ausdrucksstarken Bilder nicht für sich stehen durften (vgl. Hare/Willis 2019). Anscheinend verkauft sich Hares Buch im Jubiläumsjahr der Mondlandung so gut, dass man nun noch eine Version mit dem Sticker „Moon Landing 50 Anniversary“ und den Namen einer bekannteren Autorin auf dem Cover auf den Markt bringen wollte.

Abbildungen (nach Reihenfolge im obigen Text)

Literatur

Primärliteratur

Sekundärliteratur

Link zur Rezension auf Kinder- und Jugendmedien.de