Inhalt
Die 11jährige Kiki verbringt die Sommerferien auf einer griechischen Insel, mit der sich ihre alte Großtante zutiefst verbunden fühlt, weil sie hier aufwuchs. Nun ist sie alt und gebrechlich, sitzt im Rollstuhl und möchte die Insel noch einmal sehen. Mit Kiki und Tante Dora reisen die Mutter der Protagonistin, deren neuer Partner Max und die gemeinsamen Kinder, kleine Zwillinge, die gerade zahnen und darum ständig weinen. Insgesamt hat Kiki eine schwierige Position in der Familie. Da die Mutter mit den jungen Halbgeschwistern beschäftigt ist und sich am Rande der Belastbarkeitsgrenze befindet, was auch zu partnerschaftlichen Spannungen mit Max führt, hat sie kaum Zeit für Kiki. So stromert das Mädchen alleine über die Insel – und trifft auf Jorgos, einen gleichaltrigen Jungen aus prekären Verhältnissen, der allein mit seinem kleinen Bruder am Strand lebt und nach Essen in Mülleimern sucht. Offiziell wohnen die beiden bei ihrem Onkel, der aber Alkoholiker ist und sich nicht um die Kinder kümmert. Zunächst verweigert Jorgos den Kontakt zu Kiki, doch sein Widerstand bricht rasch und die beiden werden Freunde. Geeint sind die ungleichen Kinder in einem unstillbaren Bedürfnis nach Abenteuern: Jorgos weiß von einem verborgenen Schatz zu berichten, nach dem schon sein verschollener Vater suchte und er ist überzeugt davon, mithilfe des geheimnisvollen, blauen Oktopusses auch seinen Vater wiederzufinden. Kiki lässt sich nur zu gern auf dieses Abenteuer ein, das sie in die Tiefen des Meeres führt und einen Kampf mit dem wohlhabenden Alexis und seiner Bande aus dem Dorf entfacht, der ebenfalls auf der Suche nach dem versunkenen Schatz ist. Es beginnt ein atemberaubender Wettlauf, und am Ende stellt sich heraus, dass schon Kikis alte Großtante Dora von dem Schatz wusste und mit Jorgos‘ dem Alkoholismus verfallenen Onkel eine Beziehung hatte. Dank dieser glücklichen Fügung steuert die Handlung auf ein Happyend zu, in dem auch für Jorgos und seinen Bruder gesorgt ist.
Kritik
Das hier nur angedeutete Ende verweist schon auf die allzu offensichtliche Konstruiertheit, die diesem durchaus spannenden Kinderroman innewohnt. Die Handlung hat Tempo und eröffnet eine abenteuerliche Lektüre, die Leser*innen schnell in den Bann zu ziehen vermag. Erzählt wird abwechselnd aus den Perspektiven beider Protagonist*innen, sodass sich ein multiperspektivischer Blick auf das erzählte Geschehen ergibt und beiden Kinderfiguren eine Stimme gegeben wird. So konstruiert sich auch die divergierende Sicht auf die Freundschaft von Kiki und Jorgos, der er zunächst zutiefst misstraut und pauschal abqualifiziert mit Generalurteilen wie: „Vielleicht ist Freundschaft immer ein Fehler“ (S. 140). In der für Michaelis typischen Sprache, die viel mit einfacher, abgehackter Syntax operiert und sich damit stellenweise in die Nähe von Lyrik rückt, entfaltet sich die Freundschaft aus zwei Blickwinkeln und überführt die Gefühle der handelnden Figuren in das pure Abenteuer:
Da sprang ich. Ich sprang, in das schwarze Wasser, um zu Jorgos zu schwimmen, damit er sah, dass ich ihn nicht verraten hatte. Und um dem Oktopus zu helfen. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie man einem Oktopus hilft. (S. 203)
Durch den Fokus auf diese Abenteuerhandlung, bei der uneindeutig bleibt, was realistisch und was phantastisch ist, gelingt es dem Text, eine ausladende Spannungsstruktur aufzubauen, die den Kinderroman zu einer empfehlenswerten Lektüre avancieren lässt und die an Romane aus dem Frühwerk von Michaelis erinnern (z.B. Tigermond, 2005 oder Das Geheimis des zwölften Kontinents, 2007). Die Erzählung rekurriert auf bewährte kinderliterarische Motive wie Elternferne, Wettstreit, Schatzsuche und Mutprobe und implementiert mutige Kinderfiguren in ein Abenteuersetting, das ähnlich einer fiktiven Spielwelt konstruiert ist (damit ergibt sich eine Parallele zum jüngst erschienenen Bilderbuch Alva und der hustende Feuerdrache der Autorin aus dem Jahr 2022). Ganz typisch für Michaelis ist auch die Darstellung schwacher Elternfiguren, die keine Zeit für ihre Kinder haben, sie vernachlässigen und nicht ernstnehmen („Er hatte nicht ernstgenommen, was ich gesagt hatte“, S. 189, so Kiki in Bezug auf den Stiefvater Max). Diese Konstellation ermöglicht den Kindern das freie und elternferne Handeln, überfordert sie aber auch psychisch – so stromern Kiki und Jorgos in diesem Fall alleine über die griechische Insel, fühlen sich aber auch einsam und vernachlässigt. Doch gerade daraus speist sich ihre Kraft für das Abenteuer. Ob es das Wohlfühl-Happyend gebraucht hätte, in dem auch die Figuren der Großeltern-Generation wiedervereint werden und sich letztlich als Urheber der Schatzsuche entpuppen, sei dahingestellt. Es mutet allzu gefällig an – und verweist auf ein grundsätzliches Manko des Kinderromans: Er ist spannend und dynamisch geschrieben, aber schlichtweg überladen. Aber lesefreudige Kinder werden das dem Text nicht anlasten, sondern einfach abtauchen, ganz tief hinein ins Abenteuer, in die magische und blaue Welt, die wir auch auf dem Cover sehen: die Bucht des blauen Oktopusses!
Fazit
Es überrascht nicht, dass dieser Kinderroman pünktlich zu Beginn der Sommerferien erschien und die Auslagen der Buchhandlungen zierte. Hier findet sich die perfekte Ferienlektüre mit idealer Passung des Handlungsortes: eine griechische Insel, mutige Kinderfiguren, Gut- und-Böse-Konstellationen und eine Schatzsuche im Meer. Das ist toll für Kinder im Alter von 10 bis 12 Jahren. Dass hier klassisch motivische Konstellationen überformt sind, was eine gewisse Inkonsistenz erzeugt, dürfte bei einer invasiven Lektüre überhaupt nicht stören.
- Name: Michaelis, Antonia