Anders als im Geschichtsunterricht stellt die Initiierung historischen Lernens, verstanden als „Vermittlung von Geschichtsbewusstsein in intentionalen Prozessen“ (Jeismann 1988, S. 3), keine genuine Aufgabe des Literaturunterrichts dar. Dennoch wird im Literaturunterricht regelmäßig ein geschichtlicher Blick eingenommen, z.B. zur Vertiefung des Verstehens von Texten aus vergangenen Epochen (vgl. Masanek 2022). Zudem kann die Lektüre von historischer Literatur oder aktueller Literatur, die historische Themen behandelt, Bilder vergangener Zeiten prägen (vgl. Fingerhut 2015, vgl. von Brand 2016) und bei den Lernenden historische Sinnbildungsprozesse auslösen, durch welche „vergangene Ereignisse in einen stimmigen Zusammenhang gebracht werden“ (von Brand 2016, S. 5) können. U.a. deshalb stellt ausgewählte Kinder- und Jugendliteratur auch einen bedeutsamen Lerngegenstand im Geschichtsunterricht dar. Auf der Grundlage von kinder- und jugendliterarischen Texten, die zu einer historischen Quelle werden, können beispielsweise in Literatur tradierte Geschichtsbilder oder -mythen reflektiert werden. Aus historischer Kinder- und Jugendliteratur können zudem spezifische Diskurse vergangener Zeiten herausgearbeitet werden. Dennoch stellt sich mit Blick auf beide Fächer die grundlegende Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen Kinder- und Jugendliteratur, gerade wenn sie nur mit historischen Versatzstücken spielt oder als eine Uchronie vorliegt (vgl. von Brand 2016), den Aufbau historischen Wissens tatsächlich unterstützen kann. Oder vermag sie den historischen Blick gar zu verstellen (z.B. durch die Generierung von unzutreffenden, einseitig-subjektiven Bildern als Folge der Lektüre)?
Um das komplexe Verhältnis von historischem Wissen und Kinder- und Jugendliteratur in beiden Fachdisziplinen auszuloten, soll sowohl kinder- und jugendliterarische Gegenwartsliteratur mit historischen Bezügen als auch historische Kinder- und Jugendliteratur in den Blick geraten. In der Auseinandersetzung mit diesen Werken gilt es, Herausforderungen, Potenziale und Einsatzmöglichkeiten dieser Texte im schulischen und hochschulischen Kontext herauszuarbeiten.
Abstract-Einreichung
Auf der Tagung soll die Relevanz des Themas sowohl aus empirischer als auch theoretisch-konzeptueller Perspektive und mit Blick auf alle Schulformen und -stufen beleuchtet werden. Beiträge aus dem geschichtlich orientierten Bereich des Sachunterrichts sind deshalb ausdrücklich erwünscht. Ebenso freuen wir uns über die Einreichung von literatur- und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen zu dem Tagungsthema.
Mögliche Fragestellungen für Vorträge finden Sie hier. Wir sind jedoch offen für weitere, alternative Schwerpunktsetzungen:
- Welche Formen des Umgangs mit Geschichte finden sich in der Kinder- und Jugendliteratur?
- Welche Grade von Fiktionalität, Faktizität und Authentizität begegnen uns in Werken der Kinder- und Jugendliteratur, die eine historische Dimension aufweist? Welche literatur- bzw. geschichtsdidaktischen Konsequenzen lassen sich daraus ziehen?
- Welche Werke der Kinder- und Jugendliteratur können im Literatur- und Geschichtsunterricht aus welchen Gründen und mit welchen (jeweils fachspezifischen) Zielen eingesetzt werden?
- Welche Besonderheiten der Narration weist Kinder- und Jugendliteratur aus geschichtsdidaktischer Perspektive auf?
- Wie lassen sich im Literaturunterricht historische Sinnbildungsprozesse (z.B. auch über das Hereinreichen von Kontextinformationen) mit Kinder- und Jugendliteratur initiieren?
- Was wissen wir über Einfluss und Effekte von Kinder- und Jugendliteratur auf die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein?
- Was wissen wir über die Gestaltung, Potentiale und Verläufe von Lehr-Lern-Prozessen mit geschichtlich orientierter Kinder- und Jugendliteratur im Geschichts- und Literaturunterricht?
- Welche Formen des fächerübergreifenden Unterrichts sind auf der Basis von Kinder- und Jugendliteratur, die historische Bezüge aufweist, denkbar?
- Welche Rolle können historisch geprägte Interpretationen von Werken der Kinder- und Jugendliteratur im Literatur- bzw. im Geschichtsunterricht spielen?
Wir freuen uns auf Ihr ca. einseitiges Abstract. Bitte senden Sie dieses bis zum 27.11.2023 an uns. Literaturdidaktisch ausgerichtete Abstracts schicken Sie bitte an folgende Email-Adresse:
Literatur
- von Brand, Tilman (2016): Historisches Lernen im Literaturunterricht. Literarisches Verstehen und historisches Bewusstsein – ein symbiotisches Verhältnis. In: Praxis Deutsch (2016), S. 4–11.
- Fingerhut, Karlheinz (2015): Literaturgeschichte im Unterricht als Kulturgeschichte. In: Ulrich, Winfried (Hrsg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd. 11.3: Lese- und Literaturunterricht. Erfolgskontrollen und Leistungsmessung. Exemplarische Unterrichtsmodelle, hrsg. von Michael Kämper van den Boogaart, Kaspar H. Spinner. Baltmannsweiler: Schneider 2013, S. 147–160. Schneider Verlag.
- Jeismann, Karl-Ernst (1988): Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. In: Schneider, Gerhard (Hrsg.): Geschichtsbewusstsein und historisches Lernen. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik. Pfaffenweiler.
- Masanek, Nicole (2022): Didaktik der Literaturgeschichte. In: Kinderundjugendmedien. https://www.kinderundjugendmedien.de/fachdidaktik/6517-didaktik-der-literaturgeschichte
- Pandel, Hans-Jürgen (2010): Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
[Quelle: CfP]