Frau Boie, Sie haben bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreis im Oktober 2022 gesagt: „Ich habe vor 15 Jahren schon mal hier gestanden und einen Preis entgegengenommen – den Preis für das Gesamtwerk –, und da habe ich mich nicht dran gehalten und einfach weitergeschrieben.“ Ist jetzt Schluss mit der Schriftstellerei, da Sie ja eigentlich alles erreicht haben?

Natürlich nicht! Niemand schreibt, um Auszeichnungen zu bekommen, das würde mich zumindest sehr wundern. Für mich ist der Anlass zu jedem weiteren Buch ein anderer, in der Regel der Wunsch, mich mit einem Thema auseinanderzusetzen, manchmal, ein neues Genre oder neue formale Möglichkeiten auszuloten. Und häufig sind es tatsächlich auch Bitten von Leserinnen und Lesern nach weiteren Fortsetzungen – so war das z.B. bei den King-Kong-, Ritter Trenk-, Möwenweg- und Sommerby-Serien. Der Gedanke an Preise hat noch nie eine Rolle gespielt – deshalb war ich ja auch so überrascht, als Dunkelnacht den Preis bekommen hat; unter den anderen fünf nominierten Titeln gab es nämlich auch sehr starke Bücher.

Der geschichtserzählende Roman Dunkelnacht beschreibt die Gräueltaten der Nazis in einer bayerischen Kleinstadt, die sich kurz vor Einmarsch der Amerikaner in Penzberg gegen ihresgleichen gewendet haben, welche im Verdacht standen, abtrünnig geworden zu sein. Gibt es nicht schon genug Jugendbücher, die Sujets des Nationalsozialismus aufarbeiten?

Zum Thema „Endphasenverbrechen“ kenne ich in der Jugendliteratur bisher nichts, und auch im Geschichtsunterricht in der Schule spielen sie in der Regel keine Rolle. Dabei sind sie Beispiele dafür, wie sich das nationalsozialistische Regime am Ende grausam gegen seine eigenen Bürgerinnen und Bürger gerichtet hat. Und das halte ich für wichtig für Jugendliche, die sich nach rechts orientieren und – selbst wenn das offiziell nicht zugegeben wird – dabei häufig auch eine Bewunderung für den Nationalsozialismus entwickeln. Auch weil sie denken, sie hätten zu den „Herrenmenschen“ gehört und wären nicht gefährdet gewesen, weil sie weder homosexuell noch jüdisch sind. Auch gegen diese vereinfachte Sichtweise geht das Buch an.

Können Sie sich erklären, weshalb die ‚Penzberger Mordnacht‘ im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe keine Rolle spielt und einer von vielen weißen Flecken auf der Landkarte der deutschen Geschichte geblieben ist?

Es gibt ja noch sehr viele andere Endphasenverbrechen, auch sie spielen nur selten eine Rolle. Im Geschichtsunterricht fehlt, vermute ich, einfach die Zeit. Der Nationalsozialismus wird in der Regel erst in den Klassen neun bzw. zehn behandelt, obwohl ich bei Lesungen ein großes Interesse bei den Jugendlichen schon deutlich vorher bemerke. Um den NS und den Weg dahin, die Shoah und dann den zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten, reicht häufig die Zeit nicht aus.

Haben sich die Penzberger und deren Bürgermeister nicht bevormundet gefühlt, wenn plötzlich eine Hamburgerin sich dieser Thematik annimmt?

Sie haben sich gewundert. Aber inzwischen wird das Buch in Penzberg in Schulen gelesen und behandelt.

Als Hamburgerin tauchen Sie außerdem mit Dunkelnacht in die Historie der oberbayerischen Kleinstadt Penzberg ein. War dies für Sie ein leichtes Unterfangen oder hatten Sie Unterstützung in der historischen Aufarbeitung? Und gab es während Ihrer Arbeit am Roman oder nach der Veröffentlichung Reaktionen von den Penzbergerinnen und Penzberger?

Ohne die Unterstützung des Penzberger Archivs hätte ich das Buch nicht schreiben können. Während des ersten Lockdowns hat mir die Archivarin umfangreiches Material zugeschickt, durch das ich ganz tief in die Geschehnisse eintauchen konnte. Kritik aus Penzberg gab es am Nachwort, das beschreibt, wie wenig man in Penzberg von der Mordnacht wahrnehmen kann, wenn man nicht schon vorher davon weiß und gezielt danach sucht. Inzwischen gibt es aber eine Gedenkplakette neben dem Rathaus, wo die Erhängungen stattfanden, und Stolpersteine vor den Häusern der Opfer.

In der Laudatio der Jury des Deutsche Literaturpreises heißt es, dass Sie sich mit Dunkelnacht nochmals neu erfunden haben. Sehen Sie das auch so, Frau Boie?

Eigentlich nicht. Ich suche ja für jedes Buch nach der richtigen Form, mit der ich das Thema darstellen kann – so also auch bei Dunkelnacht. Genauso könne man sagen, ich hätte mich mit Ritter Trenk oder Seeräubermoses neu erfunden. Aber ich verstehe schon, wie diese Formulierung zustande gekommen ist.

Neben Dunkelnacht (2021) zeigen Sie ihren Leserinnen und Lesern auch u.a. in Heul doch nicht, du lebst ja noch (2022) die harten Auswirkungen des Krieges und der Zerstörung auf die Menschen. Neben Schilderungen von Vertuschungen, Verhaftungen, Deportationen und Hinrichtungen erwecken Sie Figuren wie einen beinamputierter Vater zum Leben, der seine Familie despotisch behandelt, die Mutter sexuell nötigt und sich ständig einnässt. Sind Ihre Fiktionalisierungen von Zeitgeschichte nicht zu hart für eine jugendliche Generation, die nicht selten Teil der glitzernden Insta-, Tiktok- und Twitter-Welt ist?

Ganz sicher nicht. Wir dürfen Jugendlichen gerne mehr zutrauen. Und was sehen sie denn in den Nachrichten oder vielfach auch auf YouTube? Jugendliche sind nach meiner Erfahrung geradezu durstig nach Darstellungen von Realität – auch wenn sie hart und grausam ist.

Als Autorin, besonders aber als promovierte Literaturwissenschaftlerin und ausgebildete Lehrerin, sind Sie besonders an einer zeitgemäßen Lese- und Literaturvermittlung für Heranwachsende interessiert. Wo sehen sie Notwendigkeiten und Chancen, um besonders Kindern, die bislang nicht oder nur wenig lesen, für die Buchkultur zu begeistern? 

Das ist eine sehr komplexe Frage. Zunächst müssen die Kinder überhaupt Bücher lesen können – das können 20% unserer Jugendlichen nicht, wenn sie die Schule verlassen. Dann müssten sie früh an Sprache ohne Bilder herangeführt werden – bei vielen Kindern und Jugendlichen entstehen im Kopf nicht die berühmten „inneren Bilder“, wenn sie lesen, einfach, weil sie bis dahin immer nur mit audiovisuellen Medien zu tun hatten. Dafür ist frühes Vorlesen ein wunderbares Mittel.

Mit Thabo. Detektiv und Gentleman – Der Nashornfall (2016) wird der erste Band Ihrer Thabo-Reihe verfilmt. Haben Sie Angst vor einem Kino-Flopp, da nicht wenige der Ansicht sind, dass Literaturverfilmungen immer schlechter als das Buch sind?

Nein. Der Film wurde direkt vor Ort gedreht, mit einer zum größten Teil Schwarzen südafrikanischen Crew und bekannten Schwarzen südafrikanischen Schauspielern. Da bin ich optimistisch.

Inwiefern haben bzw. hatten Sie die Möglichkeit, sich an der Produktion der Literaturverfilmung zu beteiligen?

Es gab eine Reihe von Gesprächen. Und um ein Gefühl für die im Buch beschriebene Realität zu entwickeln, haben der Produzent und einige Mitarbeiter, schon bevor das Drehbuch geschrieben war, das Kinderhilfsprojekt LITSEMBA meiner Möwenweg-Stiftung www.moewenwegstiftung.de in eSwatini besucht. Ich bin da seit 2007 involviert und habe das Land und LITSEMBA seitdem ungefähr zweimal jährlich besucht; nur deshalb kenne ich mich so gut in eSwatini aus und nur deshalb konnte ich ja die Thabo-Bücher schreiben. Das hat auch dem Filmteam Impulse gegeben.

Auch im aktuellen Detektivroman Gangster müssen clever sein – Ein Krimi mit echter Milliardärstochter (2022) ermitteln Heranwachsende. Die Figuren sind allerdings keine Unbekannten: die Jungen Valentin und Mesut entstammen aus ihrem Roman Der Junge, der Gedanken lesen konnte – Ein Friedhofskrimi (2012), die Mädchen Jamie-Lee und Fee sind Figuren aus Entführung mit Jagdleopard (2015). Was hat Sie dazu bewegt, genau diese Figuren aufeinandertreffen zu lassen?

Sie wohnen im selben Stadtteil! Die Bilder von Straßen, Häusern, Geschäften waren in meinem Kopf beim Schreiben beider Bücher dieselben. Und so hatte ich ein breiteres Figurenspektrum zur Verfügung und konnte auch das Thema soziale Diversität breiter ausspielen.

Das ‚neue‘ Detektivteam ist vielfältig divers angelegt – wie Sie auch gerade gesagt haben – und bietet jungen Leserinnen und Lesern ein breit angelegtes Identifikationspotenzial. Sind Fortsetzungen geplant oder denken Sie über weitere Fälle der Vier in Serie nach? Auf welche Projekte dürfen wir uns zukünftig zudem freuen?

So etwas verrate ich nie im Voraus! Selbst der Oetinger-Verlag, dem ich dann in der Regel meine Manuskripte schicke, weiß vorher nicht, woran ich gerade arbeite. Darum kann ich natürlich auch hier nicht darüber sprechen!

Danke für die Beantwortung der Fragen und auf viele weitere mutige Publikationen aus ihrer Feder, die auch mal unbequem sind und Rezipient:innen irritieren und aufrütteln.

 

Abbildung: Kirsten Boie bei der Verleihung des DJLP (c) AKJ / Sebastian Kissel