Herr Reinhardt, in der Begründung der Jugendjury anlässlich der Verleihung der 'Goldenen Leslie' für Perfect Storm als bestes deutschsprachiges Jugendbuch des Jahres 2021 heißt es, dass heranwachsende Lesende von der spannenden Geschichte des Romans begeistert sind. Dieser schildert den ungleichen Kampf des jungen Hackerkollektivs "Langloria Freedom Fighters", kurz LFF, gegen zwei kriminelle US-Unternehmen und den Geheimdienst NSA. Wie viel Anstrengungen, Mut und Ehrgeiz mussten Sie aufbringen, um eine solch komplexe Thematik in einer jugendliterarischen Erzählung adressatengerecht zu vermitteln?

Für Perfect Storm war eine ungewöhnlich aufwändige Recherche nötig, die alleine fast ein Jahr in Anspruch genommen hat. Es ging dabei nicht nur darum, die technischen Aspekte des Hackens zu verstehen, sondern mehr noch darum, ein Gespür für das Lebensgefühl, die Motivationen und nicht zuletzt die sprachlichen und kommunikativen Besonderheiten in der Community der Hacker*innen und speziell der Hacktivistinnen und Hacktivisten zu entwickeln. Die zweite Herausforderung bestand darin, die Erkenntnisse aus der Recherche literarisch adäquat umzusetzen. Der Stil des Romans mit den vielen Wechseln in der Perspektive, den literarischen Techniken, den Zeitebenen etc. entspricht dem schnellen, unkonventionellen, unsteten Lebensgefühl, das in der Hackerszene vorherrscht. Vieles davon war Neuland für mich, sodass das Schreiben des Romans in gewisser Weise auch ein Abenteuer, jedenfalls aber ein großes Experiment war.

Dylan, Luisa, Felix, Boubacar, Kyoko und Matthew sind unterschiedliche Charaktere und müssen in der analogen Welt ihre eigenen Probleme bewältigen. Was motiviert die sechs Hauptfiguren, die auf allen Kontinenten verstreut leben, zum gemeinsamen Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption?

Alle sechs sind, jeweils auf ihre eigene Art, gesellschaftliche Außenseiter mit schwierigen Lebensgeschichten. Aufgrund dieses Außenseitertums ist ihnen erstens die Gruppe, die sie bilden, so wichtig, und zweitens haben sie alle ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden entwickelt. Beides kommt zum Tragen, als Boubacar den anderen von den traumatischen Erlebnissen berichtet, unter denen seine Familie im Kongo zerbrochen ist und aufgrund derer er selbst aus dem Land fliehen musste. Die Motivation, aus der heraus sie den Kampf aufnehmen, ist quasi eine Mischung aus Zusammengehörigkeitsgefühl unter Außenseitern, Empörung über Ungerechtigkeiten und sicher auch Abenteuerlust.

Die Jugendlichen in Perfect Storm kommunizieren und agieren im Darknet. Inwiefern mussten Sie sich diesen zentralen Handlungsraum erarbeiten und waren Sie selbst schon im versteckten Teil des Internets aktiv?

Tatsächlich war ich im Verlauf der Recherche sehr intensiv im Darknet unterwegs, auch in Foren, in denen sich die Community der Hackerinnen und Hacker trifft und austauscht. Die Fähigkeit, sich dort anonym bewegen zu können, ist eine Voraussetzung dafür, mit diesen Leuten in Kontakt zu treten. Das war technisch recht anspruchsvoll, aber auch ansonsten eine Herausforderung, denn das Risiko, auf Seiten zu geraten, durch deren Besuch man sich strafbar macht, ist dort natürlich immer gegeben.

Warum ist das als Hacktivismus zu bezeichnende Handeln der Langloria Freedom Fighters trotz strafbarer Cyberkriminalität ethisch richtig?

Ethik und Recht sind nicht immer deckungsgleich, können sich sogar direkt widersprechen. Im Moment beobachten wir das zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes, wo Menschen, die versuchen, die Umwelt zu schützen, kriminalisiert werden, andererseits Unternehmen, die zur Zerstörung der Umwelt beitragen, juristisch im Recht sind. Das hängt damit zusammen, dass unsere Rechtsordnung in erster Linie Eigentum und Besitz schützt. Aus diesem Grund haben wir auch – trotz wiederholt vorgetragener Forderungen danach – immer noch keine Gesetzgebung, die Whistleblower*innen oder Hacktivist*innen, die sich zum Zweck der Aufdeckung von Missständen gezwungen sehen, Gesetze zu brechen, unter besonderen Schutz stellt. Deshalb drohen ja auch Edward Snowden oder Julian Assange, obwohl sie beide ethisch richtig gehandelt haben, bei einer Auslieferung an die USA unverhältnismäßig hohe Strafen. Das Gleiche trifft auf die jungen Protagonistinnen und Protagonisten in Perfect Storm zu.

Inmitten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wie auch den jüngsten Klimaprotesten gegen den Braunkohleabbau in Lützerath sind wir von Themen wie Krieg und Widerstand, mit denen Sie sich in Ihren Romanen – insbesondere aus den Augen Jugendlicher – auseinandergesetzt haben, umgeben. Wie relevant ist es Ihrer Meinung nach, dass Heranwachsende sich eine politische Meinung bilden und für ihre Ideale von Welt eintreten?

Das ist meiner Meinung nach nicht nur relevant, sondern es ist vielleicht sogar mein größtes Anliegen. Die Jugendlichen von heute sind die Entscheidungsträger von morgen. Meine Romane seit Edelweißpiraten haben immer einen politischen und/oder sozialen Hintergrund, und immer geht es um Jugendliche, die vor Gewissensentscheidungen stehen, sich engagieren und für sich, ihre Gruppe sowie ihre Überzeugungen einstehen. In gewisser Weise sind sie „Heldinnen“ und „Helden“. Sie treten für ethisch gute Ziele ein, sind bereit, dafür zum Teil erhebliche persönliche Risiken in Kauf zu nehmen, und ziehen aus ihrem Tun keinen materiellen Nutzen. Das ist für mich die Definition eines Helden bzw. einer Heldin, und ich möchte zeigen, dass im Grunde jeder Mensch die Möglichkeiten dazu in sich trägt.

Im Stile des Roadtripromans erzählen Sie bildgewaltige und abenteuerliche Fluchtgeschichten von Afghanistan bis nach Deutschland (Über die Berge und über das Meer) oder quer durch Mexiko (Train Kids). Ihre Fiktionen sind von realen Ereignissen auf der Welt motiviert. Gibt es Erfahrungen, Ängste und Wünsche, die die Figuren ihrer Romane verbinden?

In allen Romanen machen die jugendlichen Protagonisten die Erfahrung, dass ihr Leben von übergreifenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bestimmt wird: von Krieg, von diktatorischen Regimen, von dem Klimawandel oder von der Armut. Zugleich erleben sie aber auch, dass sie diesem Schicksal nicht wehrlos ausgeliefert sind, sondern erkämpfen sich ihre eigenen Handlungsspielräume, in Edelweißpiraten durch Widerstand gegen eine Diktatur, in Train Kids und Über die Berge und über das Meer durch die Flucht, in Perfect Storm durch ihren Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen mithilfe ihrer Kenntnisse als Hackerinnen und Hacker.

Die Kinderbuchreihe Anastasia Cruz, deren titelgebende Heldin ihren Vater auf Expeditionen begleitet, entführt junge Lesende an historische Orte, an denen einst die Azteken oder Alten Ägypter lebten. Haben Geschichten, die nicht direkt vor unserer Haustüre spielen, einen besonderen Reiz für Sie?

Schon als Junge war ich fasziniert von Geschichten, die in fernen Ländern oder fernen Zeiten spielen. Und ich denke, als Autor kann ich die jugendlichen Leserinnen und Leser am besten für solche Dinge begeistern, die mich selbst faszinieren. Deshalb führen meine Romane tatsächlich häufig in ferne Weltgegenden. Wenn ich es für sinnvoll halte, lasse ich sie aber natürlich auch in Deutschland spielen. Das gilt etwa für den Roman Edelweißpiraten, und auch die Handlung meines nächsten Romans wird, zumindest zum größten Teil, in Deutschland angesiedelt sein.

Besuchen Sie Länder wie Mexiko, Afghanistan und Uganda, welche in ihren Romanen u.a. als Setting dienen, vor dem Verfassen Ihrer Texte oder recherchieren Sie darüber in erster Linie im Netz oder in Sachbüchern?

Sofern es sinnvoll und möglich ist, besuche ich die Schauplätze. Für den Roman Train Kids war ich zum Beispiel lange in Mexiko, um vor Ort über die Situation der jungen Geflüchteten zu recherchieren. Im Fall von Über die Berge und über das Meer war es zum damaligen Zeitpunkt zu riskant, Afghanistan zu bereisen; allerdings war ich an der Grenzregion zwischen der Türkei und Griechenland am Mittelmeer und habe dort recherchiert. Perfect Storm spielt auf allen Erdteilen. Da habe ich darauf verzichtet, diese vielen verschiedenen Länder zu besuchen, nicht zuletzt auch aus ökologischen Gründen.

Inwiefern konnten Sie in Ihren Buchprojekten bereits Ihr Wissen und Ihre Expertise als Historiker einbringen?

Der einzige wirklich historische (bzw. zeithistorische) Roman, den ich geschrieben habe, ist Edelweißpiraten. Alle anderen Romane haben aber zumindest unterschwellig auch mit historischen Entwicklungen zu tun. Dennoch würde ich nicht sagen, dass der Blick des Historikers in meinen Romanen dominant wäre. Allerdings schadet historische Expertise nie, denn alles, was wir in unserer gegenwärtigen Realität vorfinden, ist ja nur als etwas Gewordenes verständlich und erklärbar.

Die Autorin Mariana Leky berichtete in einem Interview, dass sie den ersten Satz eines Romans einmal schreibt und danach nicht mehr verändert. Haben Sie eine spezifische Recherche- und/oder Schreibmethodik bzw. Routinen bei der Arbeit an einem neuen Buch?

Ich versuche, für jeden Roman die Recherchemethoden und die literarischen Techniken zu finden, die der Thematik und meiner Zielsetzung angemessen sind. Das unterscheidet sich zum Teil von Buch zu Buch erheblich. Gewisse Routinen gibt es allenfalls bei den Schreiborten, den Schreibzeiten oder den Methoden, in die geeignete Stimmung für das Schreiben zu kommen. Aber auch das ist alles nicht in Stein gemeißelt. Routinen sind für mich in erster Linie dazu da, sie zu durchbrechen.

In der Reihe Der Bücherbär bei Arena haben Sie mit dem Illustrator Dirk Hennig mit Gefahr in der Gepardenschlucht ein Leseabenteuer für Erstleser veröffentlicht. Inwiefern unterscheidet sich dieses Buch von Ihren anderen Werken?

Es sind sogar zwei Bände einer kleinen Abenteuerreihe für Kinder mit den Titeln Gefahr am Schlangenfluss und Gefahr in der Gepardenschlucht, wobei Dirk Hennig (der ebenso wie ich in Münster ansässig ist) für die wunderbaren Illustrationen zuständig ist, während ich die Texte geschrieben habe. Beides sind sogenannte „Erstlesebücher“, also für Kinder im Grundschulalter geschrieben, die gerade das Lesen erlernen. Die Texte sind hier wesentlich kürzer und einfacher als im Jugendroman. Das heißt allerdings nicht automatisch, dass sie auch einfacher zu schreiben sind. Simpel und trotzdem gehaltvoll zu schreiben, ist tatsächlich eine große Herausforderung.

Woher holen Sie Ihre Inspirationen für neue Geschichten?

Im Grunde immer aus der Realität, die ich um mich herum vorfinde. Ich bin ständig auf der Suche nach Themen, über die sich einerseits sehr spannend und mitreißend schreiben lässt, die also junge Leute (hoffentlich) interessieren und begeistern, und die andererseits eine möglichst große Tiefe ermöglichen, also zum Nachdenken über gesellschaftliche, soziale, politische oder kulturelle Entwicklungen unserer Zeit anregen. Diese Kombination ist es, die ich meinen Jugendromanen immer zugrundezulegen versuche.

Danke für die Beantwortung der Fragen! Wir wünschen Ihnen für den aktuell entstehenden Roman viel Erfolg!

 

Abbildung: Dirk Reinhardt bei seiner Lesung in Karlsruhe (c) Dominik Achtermeier