Die Suche nach Pauli Fink verweist auf einige hochgradig theoretische Konzepte, beispielsweise der griechischen Philosophie oder des shakespeareianischen Dramas. Das klingt nicht sehr nach einer Lektüre für Kinder und ist dennoch perfekt integriert und zugänglich auch für junge Leserinnen und Leser. Wie haben Sie diese schwierige Herausforderung gemeistert und haben Sie Kinder Korrektur lesen lassen, um sicherzugehen, dass es funktioniert?
Kinder sind so wunderbar neugierig! Ich glaube wirklich, alles kann für Kinder zugänglich gemacht werden – Shakespeare, Mythologie, Philosophie, Geschichte, Wissenschaft – solange wir den Kindern auch Raum für das Spielerische lassen. Das ist es, was ich mit Die Suche nach Paulie Fink versucht habe: Gleichzeitig die Kindern innewohnende Neugier und ihre angeborene Spielfreude zu erforschen. Ich denke, Erwachsene trennen diese Eigenschaften zu oft, als ob Lernen und Spiel unmöglich gleichzeitig stattfinden könnten. Die Kinder der Mitchell School ringen wie Zombies, beginnen spontane Tanzpartys und bringen sich gegenseitig zum Lachen, während sie darum wetteifern, der neue Paulie Fink zu werden. Aber während sie dies tun, entdecken sie auch Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie stellen große Fragen darüber, wer wir als Menschen sind (und wer wir möglicherweise noch werden könnten). Sie reflektieren über uralte Fragen von Reue, Verantwortung und Wiedergutmachung. Und am allerbesten: sie setzten sich mit einigen ihrer vorgefassten Vorstellungen von der Welt auseinander. Auf diese Weise fühlt sich die Geschichte für mich nach dem Besten der Kindheit an!
Ihr Roman ist sehr komplex mit einer ausgefeilten Erzählstrategie. Haben Sie diese aus der voranschreitenden Handlung heraus entwickelt oder haben Sie mit konzeptionellen Arbeiten begonnen?
Vieles im Buch ist als mündliche Geschichte erzählt. Sobald ich wusste, worum es gehen würde (ein offizieller Wettbewerb um die Nachfolge des mysteriös verschollenen Klassenclowns), begann ich die Stimmen verschiedener Charaktere drauflosreden zu „hören“. Diese Stimmen wurden schließlich zu der erzählten Geschichte. Aber es wurde klar, dass ich eine traditionellere Erzählweise brauchte, um diese auszubalancieren. Das war der Punkt, an dem Caitlyns Kapitel Eingang in die Geschichte fanden. Caitlyn, eine neue Schülerin an der Schule, setzt mit ihrer Ich-Erzählung die Erinnerungen ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden in Kontext. Weil sie die Neue an der Schule ist, liefert sie die Beobachtungen, die die Lesenden benötigen, um die Geschichte zu verstehen, die sich hier entfaltet. Es gibt noch weitere erzählerische Elemente: E-Mails, Briefe, Schulberichte, Texte, Parabeln, Fabeln, Zeitungsartikel und mehr. Jedes Element ermöglicht es, narrative Formen zu erkunden und die Art und Weise, wie Erzählungen sich durch die unterschiedlichen Medien verändern. Das entwickelte sich mehr aus dem Instinkt heraus, als dass es bewusst gestaltet war. Grundsätzlich kamen diese Dinge in die Geschichte, wenn sie sich richtig anfühlten!
Es gibt viele überzeugende Reflexionen über das Erzählen selbst im Roman. Sind das allgemeine Überlegungen auf einer narrativen Metaebene oder waren diese auch vom Entwicklungsprozess Ihrer eigenen Texte beeinflusst?
Ich bin fasziniert von der Rolle des Geschichtenerzählens im Leben von Menschen. Geschichten treiben die Welt an; das haben sie immer. Wir alle erzählen immerzu Geschichten – den Anderen, aber auch uns selbst. Geschichten helfen uns, Sinn in der Welt zu erkennen. Sie sind ein Weg, Ordnung in eine chaotische Welt zu bringen. Sie verleihen unseren Leben Bedeutung und Sinn. Aber diese Geschichten unterhalten uns nicht nur einfach, tatsächlich formen sie uns. Und so ist es entscheidend, zu wissen, dass wir in einer Geschichte leben, und diese Geschichte manchmal in Frage zu stellen. Manchmal ist es besser für uns, eine alte Geschichte abzuschließen und eine neue zu beginnen! Alle Charaktere in Die Suche nach Paulie Fink erhalten die Chance, eine neue Geschichte zu auszuprobieren. Und während sie das tun, öffnen sie sich selbst neuen Möglichkeiten. Ihre Welten werden ein wenig reicher. Beispielsweise denkt Caitlyn an einem entscheidenden Punkt über ein Kindergartenkind nach, das sie bewundert. Indem sie sich selbst fragt, „was, wenn ich die Person wäre, die dieses Kind sieht? Was würde diese Version von mir jetzt tun?“ wird es ihr möglich, in eine neue Geschichte einzutreten; eine, in der sie ein klein wenig heldenhafter ist als sie bis dahin war. Die Suche nach Paulie Fink war nicht direkt aus meiner Erfahrung des Schreibens heraus motiviert (obwohl es natürlich möglich ist, dass mir die Rolle des „Storytellings“ im Leben von Menschen durch das Schreiben meiner Bücher stärker bewusst wurde!). Ich bemerkte vielmehr, dass die Welt voller Menschen ist, die nicht zu verstehen scheinen, dass sie sich verzweifelt an eine Geschichte klammern, die ihnen nicht gut tut. Das war etwas, dem ich wirklich nachgehen wollte.
Ihr erster Roman entwickelte sich aus einem unveröffentlichten Entwurf für ein Sachbuch über Quallen. Was waren die Wurzeln Ihres zweiten Romans?
Mein erstes Kinderbuch, Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren, war über ein Mädchen, das mit ihrer Trauer rang. Es war sehr ernst, sowohl in der Thematik als auch im Ton. Viele Menschen erwarteten, dass mein zweiter Roman ähnlich werden würde (ich selbst, glaube ich, auch!). Aber als ich 2015 begann, Die Such nach Paulie Fink zu schreiben, hatte die Welt um mich herum begonnen, sich zu verändern. Hier, in den Vereinigten Staaten, wurde es sehr düster. Das Mitgefühl wurde immer weniger, die Grausamkeit nahm zu. Ich stellte fest, dass ich mehr Lachen brauchte. Ich wollte eine Pause von all den Dingen, die mich so verstörten. Gleichzeitig wollte ich die ernsthaften Themen auch nicht ignorieren. Ich wollte die Frage stellen, was Menschen dazu bringt, den einen Pfad anstatt des anderen einzuschlagen? Warum scheinen Menschen manchmal von Grausamkeit angezogen zu werden? Und noch wichtiger, was bringt unsere eigene Menschlichkeit, unser Mitgefühl und unsere Anständigkeit hervor? Welche Dinge verbinden uns, anstatt uns zu trennen? Die Suche nach Paulie Fink entstand aus dieser Spannung heraus: aus meinem Wunsch, zu lachen und meinem gleichzeitigen Bedürfnis, zu verstehen und zu untersuchen, was Menschen dabei hilft, die beste Version ihrer selbst zu werden.
Auch dieses Mal war gründliche Recherche offensichtlich Teil des Schreibprozesses. Arbeiten Sie lieber an Erzählender Literatur oder an Sachliteratur?
Oh, sie sind ja so verschieden! Ich liebe es, neue Dinge zu lernen, darum ist es mir grundsätzlich eine Freude, Zeit mit der Recherche zu verbringen und von Experten zu lernen. Wenn meine Recherche abgeschlossen ist finde ich es eine wundervolle Aufgabe, die Lesenden genauso für diese Ideen zu begeistern, wie ich es bin. Ich mag es auch herauszufinden, wie ich das, was ich gelernt habe, auf einfache und zugleich überzeugende Weise teilen kann, wie ich diese Ideen so mit einer Geschichte verweben kann, dass es sich ganz selbstverständlich anfühlt. Erzählende Literatur zu schreiben – Charaktere zu erfinden, eine Handlung von Grund auf zu entwickeln, Schauplätze zu visualisieren, die nicht existieren – erfordert eine ganz andere mentale Einstellung. Einen Roman zu schreiben kann manchmal ziemlich überwältigend sein, besonders am Anfang. Die Wahlmöglichkeiten sind im Wortsinne unendlich! Wenn ich einige Schlüsselentscheidungen getroffen habe, kommt die Geschichte in Schwung. Dann fängt es an, wirklich Spaß zu machen.
Als Co-Autorin haben sie über viele Sachthemen wie Ernährung, Fußball, HIV und Mobbing geschrieben. War eines davon besonders prägend für Sie?
Ich schrieb Positive mit Paige Rawl als sie noch in der High School war (ich glaube, sie war 17 Jahre alt). Sie war ein großartiges Kind, das mit HIV geboren wurde. Als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler dies in der Middle School herausfanden, wurde sie gemobbt bis zu einem Selbstmordversuch. Paige ging durch eine dunkle Zeit, aber sie trat daraus mit so viel Mut und Stärke hervor… und sie war entschlossen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Mit ihr zu arbeiten, erinnerte mich daran, wie nachdenklich junge Menschen sein können und wie viel sie der Welt geben können.
Gruppendynamiken sind ein Thema in Ihren Büchern – in Paulie Fink nicht nur innerhalb der Klasse der „Pioniere“, sondern auch zwischen den älteren und den jüngeren Schülerinnen und Schülern. Ist das von besonderem Interesse für Sie?
Ich sehe viele Menschen jeden Alters, die Grausamkeit mit Stärke verwechseln. Das finde ich nicht nur widerwärtig, es ist auch völlig falsch. Grausame Menschen sind die furchtsamsten Menschen von allen. Das ist zweifellos bei Caitlyn, der Protagonistin des Buches, der Fall. Am Beginn des Buches ist Caitlyn sehr unsicher. Sie fühlt sich ohnmächtig und verletzlich. Sie glaubt fälschlicherweise, dass Mobbing ein Weg ist, sich selbst zu schützen. Aber sie ist nicht glücklich. Als Caitlyn damit beauftragt wird, den Wettbewerb zur Suche nach dem nächsten Paulie Fink zu leiten, fühlt sie sich extrem verwundbar. Sie weiß einfach nicht, was sie tun soll. Sie macht Fehler. Aber sie lernt aus ihnen und versucht es weiter. Und indem sie das tut, entdeckt sie ihre eigene Stärke und authentische Stimme. Je selbstsicherer sie wird, umso mehr tritt sie mit den Menschen um sie herum in eine echte Beziehung und umso mehr Freude am Leben hat sie. Am Ende des Buches ist Caitlyns Welt um Vieles reicher … und viel, viel lustiger. Ich denke, das kann für uns alle gelten. Je mehr wir uns selbst verletzlich machen – je mehr wir bereit sind, neue Dinge zu probieren, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen, wirklich wir selbst zu sein – umso mehr Freude und Verbundenheit werden wir finden.
Die Schule und ihr Konzept, aber auch die Lehrkräfte im Buch sind sehr besonders. Wurden sie von realen Institutionen und Personen inspiriert?
Ja, die winzige Mitchell School in einer ländlichen Gemeinde in Vermont (einer der ländlichsten Staaten in den USA) ist sehr ungewöhnlich! Die Schulstunden werden in einem heruntergekommenen Herrenhaus abgehalten, das wie ein Spukhaus aussieht. Von den Schülerinnen und Schülern wird erwartet, dass sie Ziegen versorgen und sich um Kindergartenkinder kümmern. Es gibt überall griechische Statuen und im Unterricht lernen die Kinder Philosophie! Es gibt nur zehn andere Kinder in der ganzen siebten Klassenstufe; die meisten kennen einander schon immer. Diese Kinder sind so vertraut miteinander, dass sie nicht einmal ihre verschrobensten Eigenheiten voreinander zu verbergen versuchen. Ich lebe selbst auf dem Land, und meine Kinder besuchten eine sehr kleine Schule (welche tatsächlich Ziegen auf dem Campus hatte!). Es war trotzdem nicht wie in der Mitchell School. Um ehrlich zu sein, als ich dieses Buch schrieb, stellte ich mir vor allem vor, welche Schulerfahrung ich mir gewünscht hätte!
Haben Sie bereits wirkliche Schulen mit dem Buch besucht und wie war das Feedback der tatsächlichen Zielgruppe?
Ich hatte eine tolle Zeit bei Schulbesuchen als das Buch hier in Amerika erschien. Dann, während COVID, begann ich, auch viele Online-Schulveranstaltungen zu machen. Diese waren ganz besonders wunderbar. So viele Kinder fühlten sich isoliert und einsam während COVID und es schien, als fühlten sie sich zu diesem Buch hingezogen. Vielleicht weil es ein Buch über echte Verbundenheit in unsicheren Zeiten ist, dabei aber dennoch viel Spaß macht. Wenn ich jemals irgendeinen Zweifel darüber gehabt hätte, ein Buch zu schreiben, das genauso witzig wie tiefgründig ist, verflog dieser während COVID. Ich denke, es war genau richtig so.
Ihr letzter Roman richtet sich an Erwachsene. Können wir uns auf weitere Bücher für jüngere Menschen freuen und was sind Ihre nächsten Projekte?
Oh, ich habe definitiv weitere Geschichten für Kinder im Kopf! Aber zuvor habe ich noch eine Reihe anderer Projekte. Ich arbeite an einer Bühnenadaption für Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren, was wirklich Spaß macht. Ich habe außerdem als Co-Autorin an den Memoiren eines Wissenschaftlers mitgeschrieben, der unter anderem an mRNA forscht, einem wesentlichen Bestandteil der COVID-Impfstoffe. Dieses Buch soll im nächsten Jahr erscheinen. Ich hoffe, dass es davon auch eine Jugendbuchfassung geben wird. Ich arbeite außerdem an einem fiktionalen Projekt über Isaac Newtons Kindheit und seine Entdeckungen als junger Mann während des Pest-Ausbruchs 1665-1666. Newton war eine schwierige und komplizierte Person, schon als Kind, und er lebte in einer Zeit des rapiden Wandels; es erinnert mich in vielerlei Hinsicht an heute! Gerade habe ich eine Geschichte mit einer Art Science-Fiction-Wendung begonnen. Ich möchte gerne eine Version der Geschichte für Erwachsene und eine andere für Kinder schreiben, so dass Erwachsene und Kinder die Geschichte parallel zueinander lesen können. Ich weiß nicht, ob das funktionieren wird, aber ich bin begeistert von der Idee.
Gibt es sonst noch etwas, das Sie gerne sagen würden?
Ich möchte meinem Verlag, Hanser, danken, der großartige Arbeit bei diesem Buch geleistet hat. Außerdem möchte ich den Übersetzerinnen, Jessika Komina und Sandra Knuffinke, meine tiefe Dankbarkeit aussprechen. Zum jetzigen Zeitpunkt meiner Karriere weiß ich, dass übersetzen schreiben ist. Übersetzung erfordert Kreativität, das Treffen nuancierter Entscheidungen, ein ausgeprägtes Sprachgefühl und meisterliche Sorgfalt. Dieser Preis gehört ihnen genauso sehr wie mir.
Dann vielen Dank Ihnen für diesen wundervollen Roman und ihre ausführlichen Antworten.