Inhalt
Jeder Schüler und jede Schülerin der Saskatoon Collegiate High School kennt die Lotterie. Sie wird vom Schattenkomitee der Schule in alter Tradition von Jahr zu Jahr inszeniert. In den Fantasien der Schülerinnen und Schüler gleicht sie einem Pakt mit dem Teufel. "[E]ine Schriftrolle mit einem schwarzen Band [hatte] nur eine einzige Bedeutung, egal, was darauf stand […]. Lotteriegewinner wurden zu Aussätzigen, waren von der Gesellschaft ausgestoßen. Niemand blieb mit ihnen befreundet […]." (S. 17) Sally Hanson, Schülerin der 10. Klasse, wird Auserwählte des Schattenkomitees. Dieses lässt sie an Zielpersonen Umschläge und Plastikscheiben übergeben, deren Inhalte und Bedeutungen sie nicht kennt. Nicht nur, dass Sal über allem Stillschweigen zu wahren hat und von ihren besten Freunden Brydan und Kimmie gemieden wird, sie erhält den Auftrag, ebenfalls eine Mitschülerin zu demütigen. Von sich selbst angewidert, betäubt sie Hirn und Körper mit dem vollen Sound von Pink Floyd und versucht, mit dem Auto gegen die Schulmauer zu rasen, um sich das Bewusstsein zu zerreißen. Zwiespältig und unberechenbar gestaltet sich Sals Lage auch, weil Willis Cass, der gefürchtete Komiteevorsitzende, sie für ein gemeinsames Instrumentalduett aussucht. Als sie dieses bei einer Schulversammlung spielen, empfindet Sal zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters Gefühle der Befreiung und Selbstbestimmung. Willis dankt ihr für den magischen musikalischen Moment. Zwei Tage später bringt er sie nachts in die Aula. Im Licht einer Taschenlampe steht mitten auf der Bühne ein Rollstuhl. Über ihm baumelt ein Körper, dessen Unterschenkel fehlen, sein Hals hängt in einer Schlinge …
Kritik
Mit psychologischer Eleganz und sprachlicher Gewandtheit erzählt Beth Goobie in Ausgelost anhand einer perfiden Schultradition eine spannende wie provozierende Geschichte über Machtstrukturen unter Schülerinnen und Schülern, die verdecktes und offenes Mobbing provozieren und stärken. Wie diese Angst, Ignoranz sowie Indifferenz nähren und sich dadurch nicht zuletzt wieder Macht festigt, zeigt die in ihrer Heimat Kanada mehrfach ausgezeichnete Autorin durch die Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle der Hauptfigur Sal in interner Fokalisierung. Durch Sal sowie ihre Begegnungen und Gespräche mit weiteren Haupt- und Nebenfiguren erfährt das Lesepublikum nicht nur, dass Angst die Macht der Täter füttert und Opfer nach Schutzmechanismen schreien lässt. Vor allem wird deutlich, dass sich Ignoranz und Indifferenz von Zusehenden oder Mitwissenden als einfachste, aber auch gefährlichste Reaktionen gegenüber verübtem Unrecht erweisen. Sie verhindern, dieses zu hinterfragen und Einstellungen wie Verhaltensweisen gegenüber Opfern und Tätern zu ändern. Als sich selbst der Suizidversuch des Bruders ihrer ehemaligen Freundin in der Gleichgültigkeit der Schülermasse verliert und das System nicht ins Wanken bringt, muss Sal eingestehen, dass "sie endgültig ein Teil des Schattenkomitees geworden [war], ein enger Verbündeter der Bosheit, untrennbar mit Schmutz und Teufeleien verbunden." (S. 185) Sally beginnt, die Lächerlichkeit des Schattenkomitees zu durchschauen, dessen Mitglieder – alle einflussreich und leistungsstark – die nervösen Herzschläge der Gedemütigten genießen, dadurch nicht nur ihre privilegierte Position stärken, sondern vor allem ihre eigenen Unzulänglichkeiten überspielen. Während die bösartig keifende Linda Paboni durch das Schattenkomitee ihrer Eifersucht auf andere leistungsstarke Mitschüler konkrete Taten folgen lassen kann, erkennt Sal, dass Willis Cass von Angst erfüllt ist, selbst das aushalten zu müssen, was Lotteriegewinner zu ertragen haben. Durch seine Feigheit und "sein unterentwickeltes Selbstwertgefühl" (S. 199) steht er antagonistisch zu Sal, die Mut und Entschlossenheit entwickelt, ihr Denken, Handeln und Fühlen selbst zu bestimmen.
Es war ein System […], in dem jeder seine Rolle spielte. Und diese Rolle, dachte sie, […] wurde von den Leuten definiert, die sie umgaben. […] Ihr ganzes Leben lang würden Menschen versuchen, sie zu definieren, zu kontrollieren und zu bestimmen, sie einzuengen mit ihren Gedanken und Erwartungen. Aber – und das wusste sie jetzt genau – was am meisten zählte, war ihre eigene Perspektive. Schließlich und endlich waren es ihre eigenen Ängste oder Sehnsüchte, die sie entweder einengen oder ihr die ganze Möglichkeit ihres Selbst eröffnen würden. (S. 306)
Indem Sal ihren Selbstwert erkennt und Selbstbestimmung einfordert, vor der sich Willis zu fürchten scheint, weist sie die ihr zugeschriebene, gleichsam institutionalisierte Sündenbockrolle kategorisch von sich. Zudem offenbart sie die Geheimsprache des elitären Clubs der gesamten Schülerschaft, wodurch sie den Sündenbockmechanismus zu brechen versucht, den der französische Kulturtheoretiker René Girard (1923–2017) als konstituierend für eine Gemeinschaft beschrieben hat. Für die Gruppe erweist sich ein Opfer als vital, da es alle ihre destruktiven Energien auf sich vereint, wodurch sich die Einheit der Gruppe immerwährend stärkt – wie die Tradition der jährlich durchgeführten "Lotterie" im Roman verdeutlicht. Sal, die von Willis und anderen Komiteemitgliedern überwiegend als Opfer bezeichnet wird, hatte dieser Zuweisung schon beim ersten Treffen mit dem Schattenkomitee widersprochen, doch erst nachdem es für sie eine makabere Szene inszeniert, beginnt sie, diese Wirkzusammenhänge zu durchdenken:
Es war einfacher, jemanden zu hassen, der ohnehin schon im Staub lag, als die Götter selbst anzuklagen. Solange es jemanden gab, der so angreifbar war wie der Lotteriegewinner, jemanden, den man treten und verabscheuen konnte, würde das Schattenkomitee mit allem davonkommen. Jahr für Jahr stellte die Lotterie sicher, dass es immer jemanden gab, der all die Angst und den Hass aufsog wie ein Schwamm, all die Gefühle, die die Schüler eigentlich für das Schattenkomitee empfanden. (S. 306)
Wie ihrem Bruder Dusty zwei Jahre zuvor wird ihr jedoch bewusst, dass sie dieses gefährliche System, die traditionell gewachsenen und nicht nur bei den Mitgliedern des Komitees beliebt gewordenen Mauern der Exklusivität und Boshaftigkeit nicht im Alleingang einreißen kann. Vielmehr macht Ausgelost deutlich, dass ein Großteil der Schülerschaft sich an dem provozierenden und schikanierenden Auftreten des Clubs sowie an den immer wieder neu geborenen spektakulären, teils fiesen Aktionen aufgeilt oder wie es mehrmals im Roman heißt: "Jeder wünscht sich ein Opfer." (S. 68) Es scheint dem Schulleben Frische zu verleihen, für Adrenalin zu sorgen und der Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Das System beruht darauf, die Schülerschaft sowohl in Angst als auch bei Laune zu halten, wodurch Kritik und Widerstand an diesem bzw. gegen dieses schwer möglich erscheinen. Dass diese Machtmechanismen nicht auf den schulischen Kontext (Nordamerikas) beschränkt sind, dürften aufmerksame Leserinnen und Leser schnell erkennen, denen nicht verborgen bleibt, dass in der außerfiktionalen Gegenwart Personengruppen durch Fake News und populistische Hetze, mittels sozialer Medien propagiert, Angst schüren sowie Feindbilder etablieren und festigen. Auffällig ist, dass erwachsene Personen wie Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer keine oder nur eine marginale Rolle im Roman bzw. mit Bezug auf die Hauptthematik spielen. Sie scheinen die Repressionen durch das Schattenkomitee nicht zu bemerken oder das Mobbing nicht zu erkennen, das trotz Sals Widerstands nicht aufhören wird, wie das Romanende offenbart. Trotzdem lässt der Epilog, der im Vergleich zu den vorangehenden 19 Kapiteln weniger eindrücklich erscheint, einen Hoffnungsschimmer erahnen, durch den unpathetisch die Botschaft transportiert wird, die zugleich auf Sals Liebe für das Pink Floyd Album The Wall Live anspielt: "Don’t be a brick!" (S. 59) – Sei kein Stein in einer Mauer der Bosheit, des Schweigens und der Angst, zeige Emotionen und Widerstand gegenüber verübtem Unrecht. Beth Goobie, die selbst jahrelang mit physisch und sexuell missbrauchten Jugendlichen gearbeitet hat, legt mit Ausgelost einen brillant erzählten Jugendroman über Mobbing vor, der trotz leichtem Schreibstil durch Tiefgang besticht. Auch sprachlich erfasst sie psychische, soziale und emotionale Vorgänge sehr treffend. Dass diese so eindrücklich wirken, ist nicht zuletzt auch Alexandra Ernst zu verdanken, die die deutsche Übersetzung vorgenommen hat.
Fazit
Ausgelost macht deutlich, wie gefährlich Mobbing auch ohne Smartphone, Internet und Social Media war und ist. Dass diese neuen Kommunikationsmedien dieses beschleunigen und um ein Mehrfaches potenzieren können, erleben nicht nur Jugendliche tagtäglich in der Schule, sondern viele Menschen aller Generationen weltweit im öffentlichen und privaten Alltag. Zahlreiche TV-Serien wie 13 Reasons Why (2017–2020) und Control Z (erste Staffel 2020) visualisieren dieses in krassen, teils blutigen Bildern. Umso bemerkenswerter ist, wie überzeugend der vorliegende Roman Mobbing aufzeigt, ohne diese offensichtliche Gewalt zu inszenieren, sondern stattdessen die eigentliche Perfidität dieser sozialen Praxis in den Mittelpunkt stellt. So bietet sich Leserinnen und Lesern ab 15 Jahren die Möglichkeit, gegenüber ihren Mechanismen wachsam zu werden, rechtzeitig ihre Ursachen zu erkennen und sie aktiv zu beseitigen.
- Name: Goobie, Beth
- Name: Alexandra Ernst