Inhalt
Die Handlung der Satire ist weithin bekannt: Die fünfköpfige Familie eines amerikanischen Gesandten bezieht ein englisches Schloss, dem die Einheimischen nachsagen, die Wohnstätte eines Gespenstes zu sein. Die aufgeklärte Familie ist sich zunächst ganz sicher, dass solcher Spuk nicht existiert, und auch bei den ersten Begegnungen mit dem altehrwürdigen Gespenst Sir Simon zeigen sie sich als pragmatische und unerschrockene moderne Zeitgenossen. Der Vater, Mr. Hiram B. Otis, bittet das Gespenst, seine rostigen Ketten mit Schmieröl zu behandeln, um nächtliche Ruhestörungen zu vermeiden, die frechen Zwillinge erschrecken es gar mit einem Kürbisgeist und anderem Schabernack. Dieses merkwürdige Verhalten beleidigt und grämt das Gespenst. Virginia, die liebenswürdige ältere Tochter der Familie, tröstet den so geplagten Sir Simon. Er vertraut sich dem Mädchen an und dieses hilft ihm schließlich mutig, zu ewigem Frieden im so lange ersehnten Tod zu finden.
Kritik
Das Bilderbuch-Projekt zu Oscar Wildes Satire-Klassiker fußt auf einer Kooperation des Verlagshauses Jacoby & Stuart und der Komischen Oper Berlin. Jedes Jahr im Herbst feiert in Berlin eine Kinderoper Premiere, zu der der Verlag ein entsprechendes Bilderbuch herausbringt. Neben Das Gespenst von Canterville gehen auch Mikropolis (ebenfalls illustriert von Joëlle Tourlonias), Ali Baba und die 40 Räuber und Des Kaisers neue Kleider auf dieses Gemeinschaftsprojekt zurück.
Bei dem Text des Bilderbuches, der auf eine Übersetzung des Österreichers Franz Blei zurückgeht, handelt es sich um eine gekürzte und bearbeitete Fassung, die auf die jungen Rezipienten (ab etwa sechs Jahren) ausgerichtet, aber für diese Altersgruppe sprachlich wie inhaltlich durchaus als anspruchsvoll zu bezeichnen ist.
Die Bilder der jungen Illustratorin Joëlle Tourlonias, die derzeit auf dem Bilder- und Kinderbuchmarkt mit zahlreichen Titeln vertreten ist, setzen in der Figurendarstellung wie üblich auf Niedlichkeit. Zugleich spielen sie gekonnt mit Hell und Dunkel, insbesondere die Darstellung des Gespenstes als weiß leuchtende Silhouettenfigur überzeugt. Das Setting, ein abgelegenes englisches Landschloss, wird dem Betrachter und der Betrachterin bereits im vorderen Vorsatz präsentiert. Während es hier in der gruseligen Kulisse einer Vollmondnacht zu sehen ist, wobei sich das Fenster des Gespenstes durch hellblaues Leuchten abhebt, zeigt das hintere Vorsatz dieselbe Ansicht bei Tag, sodass aller Schrecken verschwunden ist. Hiermit ergibt sich ein schönes Sinnbild für die verschiedenen Sichtweisen, die in der Geschichte überzeichnet dargestellt werden, oder aber für die Erlösung Sir Simons vom Spuk.
Figuren und Umgebung werden weitgehend der Entstehungszeit der Geschichte entsprechend dargestellt. Etwas verwirrend ist die Ähnlichkeit von Mutter und Tochter der Familie (gelbes Kleid, langes braunes Haar, Unterschiede lediglich in der Größe), die den Betrachter und die Betrachterin irritieren und zu Verwechslungen führen kann.
Den erwachsenen Rezipienten erfreuen Details wie ein Porträt Oscar Wildes an einer der Schlosswände oder die Graffiti-Zeichnungen in Sir Simons Kammer. Gelungen ist auch eine Querschnittdarstellung des Schlosses bei Nacht, die Einblick in die zahlreichen Räumlichkeiten gewährt.
Fraglich ist hingegen, ob die Cover-Illustration, die die leere Gespensterkammer von oben zeigt und in der Hauptfarbe des Buches, einem dunklen Blau-Grau gehalten ist, den Verkaufszahlen des Buches zuträglich sein wird.
Fazit
Das Gespenst von Canterville als Bilderbuch herauszubringen, steht in Einklang mit der gleichzeitig im Bereich von Theater und Hörspiel bestehenden Tendenz, diesen Stoff Kindern zugänglich zu machen. Sicher wird die Geschichte auch in dieser Gestalt Kinder ab dem Grundschulalter (ab sechs Jahren) durch das Spannungsfeld zwischen Grusel und Humor erfreuen. Die Illustrationen von Joëlle Tourlonias greifen diese Spannung zumindest gebührend auf.
- Name: Oscar Wilde
- Name: Joëlle Tourlonias