Inhalt
Den Wunsch nach einem eigenen Pferd hegt Hannah schon lange, auch wenn ihre Mutter ihr wenig Hoffnungen macht. Und tatsächlich scheint er an diesem Chanukka endlich in Erfüllung zu gehen. Denn plötzlich steht Golda in der Tür: ein ausgewachsenes Pferd, das sogar Hebräisch sprechen kann. Leider erweist sich Golda in den nächsten Tagen als vollkommen untauglich für ein Leben in der Wohnung. Sie trinkt das Badewasser aus, zertritt die Dreydel, mit denen die Familie um Schokogeld und Erdnüsse spielt, und frisst alle Latkes, also die leckeren Kartoffelpuffer, die Hannahs Großmutter zum Fest mitgebracht hat. Da nützt es auch wenig, dass sich Golda mit einem schuldbewussten "Slicha!"(o.S.) bei Hannah entschuldigt. Am siebten Abend, dem vorletzten Tag von Chanukka, scheint endlich alles gut zu laufen – bis Goldas Schweif plötzlich Feuer fängt und das Pferd vor Schreck durchgeht. Alles droht im Chaos zu versinken, das Fest scheint zerstört, doch dann wacht Hannah auf und stellt fest, dass sie nur geträumt hat…
Kritik
Spätestens mit Beginn der Vorweihnachtszeit steigt die Zahl der im Handel präsenten (Bilder-)Bücher mit mehr oder weniger weihnachtlicher Thematik sprunghaft an. So könnte man beinahe vergessen, dass auch noch andere Feiertage in die dunkle Jahreszeit fallen und von Angehörigen anderer Religionen begangen werden. Das jüdische Chanukkafest ist ein liturgisch eher wenig bedeutender Feiertag, der sich aber in Analogie zum christlichen Weihnachtsfest in vielen jüdischen Familien zu einem Familienfest mit Geschenken besonders für die Kinder entwickelt hat. Entsprechend groß ist daher im hebräisch- und englischsprachigen Bereich auch die Zahl der Chanukkabücher, die sich mit diesem Feiertag auseinandersetzen. Auch wenn der deutschsprachige Kinderbuchmarkt weniger divers angelegt ist, sind in den letzten zwei Jahrzehnten selbst hier einige Chanukkabücher für Kinder erschienen.
Das Bilderbuch Ein Pferd zu Channukka von der in New York geborenen und in Berlin lebenden Myriam Halberstam und der amerikanischen Illustratorin Nancy Cote war die erste Produktion des 2010 von Halberstam gegründeten Ariella-Verlags, der sich auf jüdische Kinderbücher spezialisiert hat. Als solches kommt ihm eine Pionierfunktion zu. Daraus lassen sich aber sicher auch einige Eigenheiten wie das eher konservative Familienbild, das den Text auch für orthodoxe Familien anschlussfähig macht, und der konsequente Verzicht auf erklärende Passagen oder ein Glossar erklären. Letzteres hebt den Text wohltuend von vielen interreligiös angelegten Texten ab, die auf Wissensvermittlung ausgerichtet sind, aber dabei den Lesefluss einer schlüssig erzählten Geschichte vermissen lassen. Stattdessen erschließen sich in Ein Pferd zu Channukka die Bräuche des Chanukkafestes indirekt durch die Handlung: das Essen bestimmter Speisen, das Dreydelspiel und natürlich das Anzünden der Chanukkalichter, denen an jedem Abend eine weitere Kerze zugefügt wird, bis am achten Tag alle Lichter brennen. Als bekannt vorausgesetzt wird der geschichtliche Hintergrund des Festes, das an die Wiedereinweihung des Tempels nach dem Sieg der Hasmonäer über die Seleukiden im 2. Jahrhundert v.d.Z. erinnert. Mit der Einweihung des Tempels verbindet sich zudem die Idee des Lichtwunders, die in der populären Darstellung des Festes deutlich präsenter ist. Nach dieser Vorstellung war bei der Einweihung nicht mehr genügend geweihtes Öl für die Menora, den zentralen Leuchter im Tempel, vorhanden. Doch statt wie erwartet nur einen Tag reichte die geringe Menge Öl für ganze acht Tage, also ausreichend lange, um neues Öl zu produzieren. Dass auf diese Vorstellung das Lichterzünden und der Brauch, in Öl gebratene oder gebackene Speisen zu essen zurückgeht, ist ein die Lektüre bereicherndes, aber nicht notwendiges Wissen.
Universell verständlich ist sicherlich der in der Regel unerfüllbare Wunsch nach einem eigenen Pferd, der im Zentrum der Handlung steht. Schließlich ist ein eigenes Pferd für viele Kinder ein Traum – und als Traum entpuppt sich Goldas Anwesenheit in Hannahs Familie auch. Hinweise darauf finden sich bei genauem Hinsehen im Bildtext, wo Hannas blaue Schlafdecke als Satteldecke für Golda, als Badetuch oder in anderer Funktion immer wieder auftaucht. Aber auch für kleine Kinder ist leicht begreiflich, dass die Anwesenheit eines sprechenden Pferdes irreale Züge trägt. Das Motiv des Traums macht das Bilderbuch zu einer geeigneten Vorlese- bzw. Gutenachtgeschichte.
Cotes zart leuchtende Gouache-Illustrationen, in die weitere Elemente wie die Buchstaben in den Sprechblasen collagenartig eingearbeitet sind, werden in der Neuausgabe von 2018 durch goldene Applikationen ergänzt, die besonders schön das Motiv der brennenden Lichter, aber auch der immer wieder auftauchenden Sterne betonen. Zudem geben die Bilder Hinweise auf den Kontext der Handlung. Hannas Familie ist jüdisch und feiert Chanukka, aber die Weihnachtsbäume in einigen der Nachbarhäuser verweisen darauf, dass zur (ungefähr) gleichen Zeit auch das christliche Fest begangen wird. Das macht den Text auch für nichtjüdische Leserinnen und Leser anschlussfähig, wenngleich er eher an Lesende adressiert ist, die zumindest eine ungefähre Vorstellung vom Chanukkafest und seinen Bräuchen haben. Für diejenigen, die nach der Lektüre noch nicht genug von Goldas Abenteuern haben, existiert mittlerweile mit Im Galopp aus Ägypten (2015) eine lesenswerte Fortsetzung, in der Hannah und Golda durch die Zeit ins alte Ägypten reisen. Dort beeinflusst Golda auf ganz eigene Art den Auszug der Israeliten.
Fazit
Ein Pferd zu Channukka ist eine ansprechend illustrierte Festtagsgeschichte, die Leserinnen und Lesern ab vier Jahren eine humorvolle Wunscherfüllungsfantasie bietet und sich gut zur abendlichen Vorleselektüre eignet. Jüdischen Kindern bietet sie die (im deutschsprachigen Bereich eher seltene) Möglichkeit, sich und ihre Kultur im Bilderbuch repräsentiert zu sehen. Nichtjüdischen kindlichen wie erwachsenen Lesenden ermöglicht das Bilderbuch einen Einblick in die Welt jüdischer Kinder, die statt Weihnachten eben Chanukka feiern, aber vielleicht die gleichen Träume haben wie sie.
- Name: Halberstam, Myriam
- Name: Cote, Nancy