Inhalt
Am Tag vor dem Unterwasserkostümfest beschleicht Alfie ein komisches Gefühl. Es ist ihm nicht fremd, dieses Gefühl von Mutlosigkeit, das ihn schon häufiger überfallen hat, wenn ein großes Ereignis bevorstand. Zum Beispiel, als er an einem Wettlauf teilnehmen sollte oder als er auf einen Kindergeburtstag eingeladen war.
Am Abend vor dem Kostümfest spricht Alfie sich selbst Mut zu, doch spätestens als er im Bett liegt, verlässt ihn sein Selbstvertrauen. Seine Unruhe führt ihn direkt in einen Alptraum. Als er am nächsten Morgen erwacht, gesteht er seiner Mutter, dass er sich nicht auf das Kostümfest traut. Sie nimmt ihn stattdessen mit zu einem Ausflug ins Aquarium. Dort staunt Alfie über die riesige Meereswelt im Unterwassertunnel und entdeckt nicht nur einen Seestern, sondern auch einen Clownfisch, der sich schüchtern sofort wieder versteckt. Ermutigt durch die unerwartete Identifikationsfigur, fasst Alfie einen Plan.
Kritik
Alfie und der Clownfisch besticht durch eine klare Linie, die sich auf allen Ebenen des Bilderbuches erkennen lässt. Auf der Textebene zeigt sich dies an dem schnörkellosen, aber keineswegs nüchternen Erzählstil der Autorin Davinia Bell und einer einsträngigen Erzählung, die den Fokus nie vom Protagonisten Alfie abrücken lässt. Obwohl der Text mit wenigen Worten auskommt und jede Seite bloß zwei bis sechs Zeilen Text enthält, kommen Lesende und Betrachtende der Alltagswelt Alfies dadurch sehr nah. Die knappen Sätze tun ihr Übriges, um auf den Punkt zu bringen, was Alfie bewegt. Als er in der Nacht vor dem Kostümfest einen Alptraum hat, heißt es beispielsweise: "Er träumte, dass er das ganze Meer tragen musste, er ganz allein."
Die (Traum-)Symbolik, die in diesem kurzen Satz einen unmissverständlichen Gefühlszustand transportiert, ist in dem Buch kein Einzelfall. Sie findet sich in verschiedenen Textstellen, aber vor allem im Zusammenspiel von Bild und Text wieder. Dieser Szene, diesem Satz, ist im Bilderbuch eine Doppelseite ganzseitiger Illustration gewidmet. Man sieht Alfie unten links in der Ecke, wie er versucht einen übermächtig großen, fast das ganze Format ausfüllenden Ozean zu stemmen, in dem sich zudem noch ein riesiger, schwarzer, behäbiger Wal befindet, der von einem Seitenende zum anderen reicht. Schwerer könnte die symbolische Last auf Alfies Schultern kaum sein.
Diese vollständig bebilderte Doppelseite steht im Kontrast zu anderen Buchseiten, die vor weißem Hintergrund nur eine kleine Zeichnung mit wenigen Elementen enthalten. Unter anderem die ersten Seiten sind so gestaltet. Man sieht Alfie mit hängendem Kopf vor seiner Kommode stehen, während ein einziger Satz verrät, dass er am Tag vor dem Unterwasserkostümfest ein komisches Gefühl im Bauch bekommt. Auf den folgenden Seiten nimmt jeweils eine Zeichnung von Alfie die Rezipierenden mit in Alfies Vergangenheit: einmal zu einem Wettlauf (über dem sportbekleideten Alfie ist eine einzige Wimpel-Girlande zu sehen) und zu dem Moment vor der Kostüm-Geburtstagsfeier eines anderen Kindes (Alfie in einem Dino-Kostüm hält ein Geschenk in den Händen). Beide Zeichnungen werden von einem kurzen Text begleitet, der erzählt, dass Alfie das komische Gefühl auch in diesen beiden Situationen beschlichen hat. Später erfährt man in bildnerisch ähnlichen Szenen, dass er zu keinem der beiden Anlässe hingegangen ist.
Das Bild-Text-Verhältnis ist vor allem in diesen Szenen, aber auch durch das ganze Buch hindurch, überwiegend symmetrisch, was den auf das Wesentliche beschränkten Erzählstil unterstreicht und zu der klaren Linie des Buches beiträgt.
Doch die Seiten mit einzelnen Zeichnungen vor weißem Hintergrund bestimmen das Bilderbuch nicht: Immer, wenn Alfies komisches Gefühl in etwas anderes umschlägt, in Angst oder in Staunen zum Beispiel, wartet das Bilderbuch mit ganzseitigen, farblich intensiven Bildern auf. Ebenfalls in der Tradition der klaren Linie des Bilderbuches bedient sich die Illustratorin Allison Colpoys dabei einer genau definierten Farbpalette aus einem kräftigen Marineblau, einem Pastellgrün und einem auffälligen Orangeton, der in Richtung Pastellton geht und gleichzeitig leuchtet wie eine Neonfarbe.
Zu entdecken gibt es zusätzlich spannende Details – vor allem, wenn Alfie das Aquarium wieder verlässt und mit seiner Mutter im Bus nach Hause fährt. Sie unterhalten sich über den Clownfisch, den Alfie gesehen und der sich aber schnell wieder versteckt hat. Das Verhältnis von Bild und Text zeigt auf dieser Seite, wie sehr der Aquariumsbesuch Alfie beeindruckt hat: Im Gegensatz zu den meisten Seiten liegt hier ein anreicherndes Verhältnis vor, denn im Bild sind alle Plätze im Bus von den Tieren des Aquariums besetzt, die Alfie offenbar noch in Kopf und Herz trägt.
Diese Szene ist ein weiteres Beispiel für die schöne Symbolik im Bilderbuch, doch es deutet sich hier schon ein weiterer wichtiger Aspekt an, der dieses Buch besonders macht: seine subtile Botschaft, die durch die klare Struktur des Buches eine Bühne bekommt.
Denn Alfie und der Clownfisch ist kein plakatives Kinder-Mutmach-Buch. Kein Buch, in dem sich ein Kind vor etwas fürchtet und am Ende doch traut. Es wird etwas viel Wichtigeres deutlich, nämlich, dass zu Mut nicht immer schneller, für alle sichtbarer Erfolg gehört, sondern dass der Mut in einem selbst und bei der eigenen Einstellung einer Sache gegenüber anfängt.
Für diese Botschaft wird die Traumsymbolik in Alfie und der Clownfisch sehr gekonnt eingesetzt. In der Nacht vor dem Kostümfest bekommt Alfie bei dem Gedanken an den nächsten Tag noch einen Alptraum. Aber am Ende des Buches träumt er bei dem Gedanken an das Fest im nächsten Jahr keinen Alptraum mehr, sondern wie er stolz als Clownfisch verkleidet erscheint.
Fazit
Alfie und der Clownfisch ist ein sehr empfehlenswertes Bilderbuch, ein harmonierendes Gesamtkunstwerk von Davinia Bell und Allison Colpoys, zugleich deren erstes gemeinsames Projekt. Mittlerweile haben sie noch das Bilderbuch Was du nicht alles kannst gemeinsam veröffentlicht.
Alfie und der Clownfisch eignet sich zum Vorlesen für Kinder ab vier Jahren, da die Geschichte sehr klar strukturiert und fantasievoll textunterstützend bebildert ist. Das Thema Schüchternheit und Angst wird sehr liebevoll und durch das wiederkehrende Farbkonzept unaufgeregt und stimmig bearbeitet. Das Buch lohnt sich auch deshalb, weil es zur wiederholten Lektüre einlädt, um seine Bedeutungsebenen zu ergründen. Vorschnell gefasste Leseerwartungen an ein "Kinder-Mutmach-Buch" werden am Ende dieses Buches auf den ersten Blick vielleicht nicht erfüllt, auf den zweiten Blick besticht es durch seine subtile Botschaft, die von literarischer, ästhetischer und pädagogischer Qualität zeugt.
Weitere Nominierungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 finden Sie hier
- Name: Bell, Davina
- Name: Salah Naoura
- Name: Colpoys, Allison