Inhalt
Gemeinsam mit Hund und Eltern besucht ein Junge die Großeltern auf dem Land. Im Auto verlässt die Familie die Stadt. Gemeinsam mit dem Haustier erkundet das Kind die Umgebung, stromert durch den Wald, entdeckt einen See samt Steg, schwimmt, taucht, findet Fische. Anschließend wird sich gesonnt. Auf dem Heimweg steht die Sonne tief, Kind und Hund werden von langen Schatten begleitet. Am Abend sitzen die beiden auf der Holzterrasse des großelterlichen Hauses und bestaunen die sternenklare Nacht. Bei den doppelseitigen Einzelbilddarstellungen des Bilderbuchs handelt es sich um zarte blau-braune, bisweilen grüne Aquarelle, die mit ihrer monochromen und naturalistischen Darstellungsweise stimmungsvoll die Ruhe und schimmernde Hitze eines Sommertages einfangen.
Kritik
Sommer ist das erste textlose Bilderbuch der international ausgezeichneten Illustratorin Jihyun Kim. Die koreanische Originalausgabe erschien bereits 2017. Dabei eignet sich die textlose Gestaltung des Bilderbuchs hervorragend, eine kindliche Entdeckungstour zu illustrieren. Durch die Abwesenheit einer sprachlichen Vermittlungsebene erscheint das Dargestellte neu und unvorhersehbar, da die Lesenden und die dargestellten Figuren denselben Wissenstand teilen. Und so entdecken und staunen die Leser*innen gemeinsam mit dem Protagonisten über alles, was der Sommertag so mit sich bringt.
Zwar handelt es sich bei Sommer mit seinen doppelseitigen Einzelbilddarstellungen primär um ein lineares Bilderbuch, bei dem "die Geschichte aus Perspektive der Hauptfigur präsentiert" wird und diese zudem "auf jedem Bild zu sehen ist" (Krichel 2020, S. 55). Gleichwohl divergiert die Perspektive auf den kindlichen Protagonisten signifikant durch die Verwendungen unterschiedlicher (Kamera-)Einstellungen. So wird das Familienauto beim Verlassen der Stadt aus einer sehr hohen Vogelperspektive präsentiert. Anschließend folgt eine klassische Fahrtaufnahme durch die Heckscheibe des Autos. Hinzu kommen weite Ansichten der Umgebung sowie die Mitsicht über die Schulter des Kindes beim Blick aus dem Fenster des großelterlichen Hauses (Abb. 1). Die ausgeprägten Froschperspektiven vom Seegrund auf den auf- und abtauchenden Jungen sind ebenfalls von filmischer Qualität (Abb. 2). Bis auf die Autofahrten, bei denen der Junge nicht bzw. nur schwer zu erkennen ist, sollten jene Einstellungs- und Perspektivwechsel jedoch auch für Kleinkinder zu verstehen sein.
In Kombination mit der monochromen Kolorierung erinnert die cineastische Bildästhetik an Aufnahmen einer vergangenen Zeit. Die Darstellungen können so besonders für Erwachsene zu einer Reminiszenz an die eigene Kindheit werden. Das hierbei transportierte Gefühl von Entdeckungsfreude und kindlichem Frieden wird abermals durch den textlosen Fokus auf das Bildliche verstärkt, der hier zu einer direkten Form der Involviertheit führt. Diese 'Immersion' als Eintauchen in eine Erzählung wird nicht zuletzt auch vom Bilderbuch selbst in medienreflexiver Manier implizit aufgegriffen, wenn der Junge tief in das dunkle Wasser des Sees hinabtaucht.
Dem Bilderbuch hinten angestellt ist ein kurzer, ebenfalls mit Sommer betitelter Text, in dem die Illustratorin die Entstehung des Buches umreißt. Dort erinnert sie sich an einen fernen Ort in ihrer Kindheit, "an einen dichten Wald, an das warme Sonnenlicht" (Kim 2021, o. S.) und eine dunkle Sternennacht. Um dieses in ihr immer noch lebendige Gefühl zu teilen, sei das Buch entstanden. Jener produktionsästhetische Hinweis ist aufschlussreich, denn der kurze Text macht deutlich: Es handelt sich bei dem Bilderbuch nicht (nur) um die Darstellung eines kindlichen Besuches auf dem Land, sondern (auch) um die Darstellung einer Erinnerung an einen Kindheitsurlaub. Im Zentrum stehen also die Reproduktion und das Teilen eines Kindheitsgefühls von Ruhe, Weite und wärmender Sonne sowie der sicheren Nähe des besten tierischen Freundes. Diese Form der doppelten Adressiertheit ist durchweg spürbar: Während kindliche Leser*innen dem Protagonisten freudig beim Schwimmen mit den Fischen zusehen können, erinnert die Lektüre Erwachsene mitunter an ihre eigene Kindheit mit niemals zu enden scheinenden Sommertagen und den eignen langen Schatten auf dem abendlichen Heimweg.
Fazit
Sommer erzählt von der Magie eines Ferientages auf dem Land, von Hitze und Abkühlung, Staunen und Entdecken. Trotz der darstellerischen Klarheit der großzügigen, doppelseitigen Einzelbilder erscheint das Bilderbuch mit seinen Einstellungs- und Perspektivwechseln recht anspruchsvoll und ist daher erst ab fünf Jahren geeignet. Mit etwas Hilfe durch begleitend-lesende Erwachsene kann die Handlung aber bereits von Kleinkindern erfasst werden. Dabei lohnt sich die Lektüre des Buches ohnehin ebenfalls für Ältere, die sich im Rahmen der doppelten Adressiertheit an ihre eigene Kindheit erinnert fühlen können. Und so präsentiert Kim in ihrem Bilderbuch Sommer eine melancholische Entdeckungstour ohne Worte, die Menschen jeden Alters begeistern dürfte.
Literatur
Kim, Jihyun: Sommer. Stuttgart: Urachhaus 2021.
Krichel, Anne: Textlose Bilderbücher. Visuelle Narrationsstrukturen und erzähldidaktische Konzeptionen für die Grundschule. Münster: Waxmann 2020.
- Name: Jihyun Kim
- Name: Jihyun Kim