Inhalt
Die besten Freunde Frank und Bert sind ein kleiner Fuchs und ein großer Bär. Ihr gemeinsames Lieblingsspiel ist Versteckenspielen. Aus Franks Sicht herrscht dabei jedoch ein großes Kräfteungleichgewicht. Er berichtet: "Bert denkt, er wäre supergut darin – ist er aber nicht. Er kann es überhaupt nicht!" Als Bert sich mehr Zeit wünscht, um auch mal zu gewinnen, gibt Frank zu, dass er zwar selbst sehr gern gewinne, seinem Freund aber eine Chance geben wolle. Er zählt bis hundert. Doch er beginnt kaum zu zählen, da erkennen die Rezipierenden schon, dass Bert auch diesmal keine Chance hat: Ein Faden seines Schals verfängt sich in einem Baum, sodass er eine leuchtend pinke Wollschnur als perfekte Spur hinterlässt. Siegesgewiss folgt Frank dieser Spur und entdeckt Bert in einer Höhle. Doch plötzlich überkommen ihn Zweifel. Sich seiner Überlegenheit im Versteckspiel dem Freund gegenüber gewiss, befürchtet er, dass Bert sehr traurig sein wird, schon wieder zu verlieren. Er beschließt, ihn gewinnen zu lassen: "Und auch, wenn ich es liebe zu gewinnen, meinen besten Freund Bert habe ich viel lieber." Bert ist überglücklich und die beiden tauschen anschließend zum ersten Mal die Rollen: Bert sucht und Frank versteckt sich. Doch dieser Rollentausch birgt das Potential, die gesamte bisher eingenommene Perspektive der Rezipierenden zu verändern. Während zuvor Franks Ich-Perspektive und seine selbstbewusste Schilderung von Berts Schusseligkeit zur unhinterfragten Übernahme seiner Perspektive beigetragen haben, stellt Berts Handeln am Ende seine Blauäugigkeit im Versteck-Spiel unvermittelt in Frage: Als Frank losläuft, schnappt Bert sich einen Faden aus dessen blauer Mütze, die sich nun unbemerkt von Frank hinter ihm auflöst und in eine gut sichtbare Spur für Bert verwandelt.
Kritik
Franks und Berts Geschichte verhandelt nicht nur das gemeinsame Spielen von Freunden, bei dem es mit Gewinnenden und Verlierenden immer auch eigene und fremde Glücks- und Frustgefühle auszuhalten gilt, sondern stellt auch Franks zur Schau gestellte Überlegenheit dem Freund gegenüber in Frage. Dadurch, dass er als Ich-Erzähler die Geschichte kontrolliert, hat seine Haltung gegenüber Bert etwas Herablassendes: Es werden zwei Episoden erzählt, in denen Bert sich besonders offensichtliche Verstecke sucht. Einmal sitzt der große Bert gut sichtbar in einer herbstlich kargen Baumkrone, ein anderes Mal versteckt er sich hinter einem Felsen, ohne den Kopf einzuziehen. Frank adressiert die Rezipierenden daraufhin in einer direkten Lesendenansprache und fordert deren Zustimmung zu seinem Urteil über Berts Unvermögen: "Siehst du, was ich meine?".
Davon abgesehen wird Frank aber als guter Freund dargestellt. Die Illustration im Paratext zeigt ihn, wie er Bert den leuchtend pinken Schal strickt, der später eine große Rolle spielt. Zudem zeigt er ein großes Maß an Empathie, als er erkennt, dass es Bert traurig machen könnte, dass er schon wieder verliert. Frank springt über seinen Schatten – denn er betont, dass er selbst auch wirklich gern gewinne – und lässt Bert den Sieg. Zu dieser Situation hingeführt hat eine sich über sieben Doppelseiten ziehende Runde des Versteckspiels. Frank gewährt Bert diesmal Zeit, bis er bis 100 gezählt hat. Auf den folgenden vier Doppelseiten werden alle Zahlen bis 100 aufgezählt, während man in der Illustration sieht, wie Bert sich versteckt. Ganz am Anfang hängt das eine Ende seines Schalfadens im Baum und die Schnur zeigt dementsprechend seine genauen Laufwege an. Während er sich versteckt, schlägt er Haken, läuft einen Kreis um einen Baum und klettert auf seiner Flussdurchquerung immer wieder aus dem Wasser auf Steine, sodass der pinke Faden sich gut sichtbar durch den Fluss zieht. Als Bert am Ende seines Fadens angekommen ist – der Schal hat sich komplett aufgelöst – und auch Frank bis 100 gezählt hat, versteckt Bert sich recht gut sichtbar in einer Höhle. Erst im Rückblick, nachdem in der letzten Runde Verstecken Bert heimlich Franks Mützenfaden festhält, verändert sich die Sichtweise auf diese Runde des Spiels.
Was zunächst wie unbedachtes Verhalten wirkt (wieso schlägt Bert Haken und läuft im Kreis um Bäume?), offenbart sich nun als möglichweise sehr bedachtes Verhalten: Ebenso wie sich Frank Fuchs für schlau hält, ist Bert Bär gutmütig und macht es für Frank so einfach wie möglich, ihn zu finden. Der verfangene Faden im Baum wirkt plötzlich nicht mehr zwangsläufig unabsichtlich, denn die Runden um die Bäume sichern die Fadenspur. Mit dieser neuen Interpretationsmöglichkeit liest sich das Buch ganz anders. Details aus der Illustration und dem Text gewinnen plötzlich an Bedeutung: Als Frank ankündigt, bis 100 zählen zu wollen, ist der Ausdruck auf Berts Gesicht nicht so fröhlich, wie er sein könnte, angesichts der Tatsache, dass er ja auch mal gewinnen möchte. Er sieht eher etwas überrascht aus und so, als würde er schnell nachdenken. Außerdem sieht man wie Frank Berts Schal mit den Worten "Ich repariere Berts Schal, damit er bald wieder spielen kann" zusammenflickt. Da der Schal und das Versteckspielen an sich nichts miteinander zu tun haben, eröffnet sich die Möglichkeit, dass Bert explizit darum gebeten hat, den Schal beim Spielen zur Verfügung zu haben. Der Verdacht erhärtet sich, dass nicht nur Frank seinen Freund schließlich absichtlich gewinnen lässt, sondern dass Bert Frank schon die ganze Zeit gewinnen lässt, was Franks Selbsteinschätzung spielerisch auf die Schippe nimmt. Die Gefahr, dass Bert dabei als gutmütig, aber in seiner Gutmütigkeit letztlich doch wieder etwas dümmlich erscheint, wird im gleichen Moment gebannt, in der diese Interpretationsweise aufgeworfen wird: Nämlich, als er – den Rezipierenden zuwinkend – heimlich den Faden aus Franks Mütze festhält, um sicherzustellen, dass er ihn finden wird. So erfüllt er sich seinen Wunsch zu gewinnen – und gewinnt dabei möglicherweise mit nicht weniger Schummeln als Frank. Im Gegenteil, Bert schummelt aus Freundschaft Frank gegenüber schon die ganze Zeit, während Frank sich für den Schlaueren hält. Letztlich kommt Frank aber zum gleichen Schluss: Freundschaft ist wichtiger als Gewinnen! Und nicht alle Dinge sind so, wie sie scheinen.
Diese Interpretationsmöglichkeit kann an keiner Stelle als Fakt festgehalten werden, doch sie drängt sich subtil und vor allem beim zweiten Rezipieren immer deutlicher auf. Gestützt wird sie auch von dem farblich gesetzten Fokus auf die Wollfäden des Schals und der Mütze. In leuchtendem Pink und Blau stechen sie aus der ansonsten eher schlichten Illustration heraus und vermitteln dadurch, dass in ihnen der Knackpunkt der Geschichte liegt. Darüber hinaus lenkt der mit Buntstiften karikaturenhaft gezeichnete Stil der Figuren den Blick auf ihre Gesichtsausdrücke, die bei genauem Hinsehen sehr viel erzählen. Bert beispielsweise guckt recht schelmisch mit einem halben Lächeln in die Luft, während Frank den Rezipierenden erklärt, dass Bert Versteckenspielen überhaupt nicht kann. Das Buch besticht durch seine Zwischentöne und die Interpretationsmöglichkeiten, die sich hinter der grundsätzlich einfachen Geschichte eines Versteckspiels und einer klaren, luftigen Struktur der Illustration verbergen. Die Figuren stehen deutlich im Vordergrund, da der Hintergrund oft flächig weiß ist oder aus in graugrünem Buntstift gehaltenen Landschaften besteht. Vor diesem Farbschema heben sich einzelne bunte Elemente gut ab, beispielsweise die bunten Blätter an Bäumen, aber vor allen Dingen die leuchtend pinke und blaue Wollschnur. Da sie sich durch ihre Neonfarben deutlich vom gediegeneren bzw. weißen Hintergrund abheben, stehen sie gut sichtbar im Mittelpunkt und lenken so die Aufmerksamkeit auf die Interpretationsweise des bewussten "Fädenziehens".
Kinder haben in dem Buch viel zu entdecken. Das Format ist überdurchschnittlich groß, das Buch allein dadurch eine haptische Erfahrung, die zum Blättern, Betrachten und Vorlesen einlädt. Auch zum ersten Selberlesen für Grundschulkinder hat sich das Bilderbuch in der Praxis durch wenig Text und große Buchstaben als geeignet erwiesen. Neben dem Text kommen die Zahlen bis 100 vor, wodurch das Buch Elemente von einem Zählbuch aufweist und den Kindern je nach Alter die Möglichkeit gibt, die Zahlen zu entdecken oder sie wiederzuerkennen. Außerdem lädt die sich über viele Seiten ziehende lange, pinke Schnur zum Nachfahren ein, wobei Berts etwas wuseliger Weg ins Versteck erfahrbar wird und die Frage nach der Sinnhaftigkeit seines Umwegs aufkommen kann.
Die aufgeworfene Interpretationsebene mag sich eher Grundschul- als Kindergartenkindern erschließen. Dies tut dem Buch für jüngere Kinder dennoch keinen Abbruch, denn die Geschichte macht immer Spaß und endet damit, dass beide Freunde mal gewinnen. Zudem können auch außerhalb der möglichen Interpretation von Bert als dem heimlichen, buchstäblichen Fadenzieher für Kinder relevante Fragen aufkommen: Beispielsweise, ob Franks Beschreibung von Bert gemein ist, oder ob es aber von Bert gemein ist, am Ende den Faden zu schnappen und zu schummeln.
Fazit
Das Bilderbuch regt also zum einen zu Diskussionen ein, kann aber zum anderen einfach eine lustige Geschichte über das bekannte Spiel Verstecken und den kindlichen Wunsch zu gewinnen sein. Diese verschiedenen Ebenen webt der bereits ausgezeichnete Autor-Illustrator Chris Naylor-Ballesteros klug ineinander und schafft ein Bilderbuch für Kinder ab drei Jahren, das gewitzt von Selbst- und Fremdeinschätzung, Gewinnen, Verlieren und Empathie gegenüber Freunden erzählt.
- Name: Naylor-Ballesteros, Chris
- Name: Schmitz, Hannah
- Name: Naylor-Ballesteros, Chris