Inhalt
Raffi hat viele Spielsachen, unter anderem Bücher, Malsachen, eine Eisenbahn, eine Puppe und ein pinkes Tutu. Außerdem mag er Fußball und spielt gerne mit seiner Schwester Teestunde. Normalerweise trägt er sein pinkes Tutu nur zu Hause, aber irgendwann traut er sich (entgegen der Bedenken seiner Schwester), es auch einmal in der Schule anzuziehen. Die anderen Kinder reagieren mit Spott und Hohn, besonders Leo, der "mit dem ganzen Kinderkram der anderen" (S. 4) nichts zu tun haben will. Das verletzt Raffi sehr, doch sein Vater unterstützt ihn und redet ihm Mut zu: "Die Meinung anderer sollte dich nie davon abhalten, du selbst zu sein. […]" (S. 10). Deswegen traut sich Raffi auch an den folgenden Tagen, das Tutu in der Schule zu tragen. Als sein Vater ihn von der Schule abholt, trägt er selbst ein pinkes Tutu. Das macht Raffi glücklich, weil er seinen Vater sehr bewundert. Die negativen Reaktionen der Kinder nehmen ab, nur Leo ärgert Raffi weiterhin. Er denkt, dass Raffi wegen seines Tutus ein Verlierer sei und macht mit seinem Handy Bilder von ihm. Seine Freunde unterstützen ihn aber mittlerweile und sind von Leos anhaltenden Sticheleien genervt. Raffi beschließt, seine Geburtstagsparty als Tutu-Fest zu gestalten: Alle Kinder außer Leo kommen in einem pinken Tutu. Leo fühlt sich nun unwohl und kann nicht verstehen, warum alle sich tatsächlich ein Tutu angezogen haben. Raffi lädt Leo aber zum gemeinsamen Spiel ein und am Ende haben alle zusammen Spaß. Das Buch endet damit, dass Leo von seinen zwei Vätern abgeholt wird und es wird das Fazit gezogen, dass alle etwas haben, was "anders" ist.
Kritik
Der Text arbeitet auf der Textebene grundsätzlich mit dem Gegenüberstellen von Stereotypen: Raffi vereint in sich "typisch mädchenhafte" und "typisch jungenhafte" Interessen. Dabei wird seine Identität als Junge jedoch nicht infrage gestellt und auch seine Sexualität nicht thematisiert – es sind einfach nur seine Vorlieben beim Spielen. Leo als Antagonist wird als "cooler" Junge dargestellt – er spielt lieber mit seinem Handy, als sich auf dem Pausenhof auszutoben. Kritisch zu betrachten ist auf der Textebene das Ende: Leos Väter werden explizit als schwul bezeichnet, was im folgenden Satz auch erklärt wird: "Sie sind ein Paar und bilden zusammen mit Leo eine glückliche Familie". Die Einführung des Wortes "schwul" wäre im Text nicht notwendig gewesen, um die Botschaft zu vermitteln, dass die beiden ein Paar sind. Zudem folgt am Ende noch das Fazit: "Denn wir alle haben doch etwas, das uns anders macht. So auch Leo." Ein Buch, das sich gegen Stereotype stellt, konstruiert mit dieser Moral das Anderssein wiederum, anstatt die gesellschaftlich künstlich hergestellte Heterogenität aufzulösen.
Das Cover des Bilderbuches zeigt Raffi: Er trägt ein Sporttrikot, sein pinkes Tutu und rote Sneaker und zudem eine Cap über seinen langen Haaren. Er steht vor einer Mauer, neben welcher ein Fußball liegt. Der Hintergrund des Covers sowie der Titel des Buches und das Trikot sind in hellblau-türkis gehalten; das Wort "pinkes" im gleichen Pinkton wie das Tutu. Es dominieren also blau und pink, womit zwar das Blau-pink-Mädchen-Junge-Schema unterstrichen wird, gleichzeitig aber auch beides vereint wird.
Die Illustrationen von Lisa Rammensee sind thematisch grundsätzlich alltagsnah gestaltet, wobei der Zeichenstil eher abstrahiert gehalten ist, was bedeutet, dass die Körper der Figuren etwas abgerundet gezeichnet werden. Im gesamten Bilderbuch dominieren die Farben blau, pink und grün. Hervorzuheben ist die inklusive Gestaltung der Illustrationen: Es finden sich sowohl in den Schulszenen als auch auf Raffis Kindergeburtstag Kinder unterschiedlicher Haut- und Haarfarben, ohne dass diese im Text namentlich benannt werden oder diese Heterogenität in irgendeiner Hinsicht zur Sprache käme. Zudem lässt sich nicht bei allen Kindern (stereotypenbasiert) das Geschlecht zweifelsfrei bestimmen. Interessant ist auch, dass Raffis Schwester zeichnerisch eher "typisch jungenhaft" illustriert wird: Sie trägt ein grünes Karohemd, hat kurze Haare und eine Beanie auf dem Kopf. Leos Inszenierung als cooler Junge wird ebenfalls zeichnerisch untermalt: Er trägt eine schwarze Skaterjacke, passende schwarze Stiefel, und hochgestylte Haare.
Die Bilder unterstreichen daher die Aussage des Textes und spielen auf der einen Seite mit den Gegensätzen auf der Textebene, auf der anderen Seite ist die Gestaltung der Figuren sehr divers, womit Klischees vermieden werden. Sie können daher auch unabhängig vom Text zum Nachdenken und Austauschen mit den Vorlesenden anregen.
Bei dem 21 cm breiten und 28 cm hohen Bilderbuch handelt es sich um ein Hardcover. Da es zudem recht viel Text beinhaltet, welcher ca. in Schriftgröße 14 (Times New Roman o.ä.) entspricht, ist es nicht für Kinder unter drei Jahren geeignet. Dafür spricht auch die Sprachverwendung: Die Sätze sind recht komplex, außerdem wird viel mit Adjektiven und wörtlicher Rede gearbeitet. Das Vokabular ist alltags- bzw. standardsprachlich, enthält also keine spezifischen Begriffe, setzt aber einen fortgeschrittenen Sprachentwicklungsstand voraus (komplexe Satzstrukturen, Wörter wie "Kinderkram").
Der queere Autor Riccardo Simonetti ist Influencer und setzt sich gegen Schubladendenken und für Selbstachtung und Anderssein ein. In seinem Buch Mama, ich bin schwul (Goldmann 2021) redet er beispielsweise über sein Outing, weswegen es für ihn sicherlich eine besondere Relevanz haben dürfte, Kindern Akzeptanz und Toleranz für das Anderssein näherzubringen. Die Illustrationen wurden von Lisa Rammensee, einer freien Illustratorin aus Hamburg (https://lisarammensee.de/buecher/), angefertigt. Raffi und sein pinkes Tutu ist das erste gemeinsame Buch der beiden. Am 03.11.2023 ist ein Folgeband mit dem Titel Raffi und Juli erschienen.
Fazit
Raffi und sein pinkes Tutu eignet sich für Kinder ab vier Jahren (je nach Entwicklungsstand auch früher) zum Vorlesen. Es kann zudem zum Selbstlesen am Ende der ersten Klasse verwendet werden, da es eine längere, zusammenhängende Geschichte mit komplexeren Satzstrukturen beinhaltet, für welche auch bestimmtes Vorwissen erforderlich ist (z.B. Geschlechterklischees). Es arbeitet Stereotype altersgerecht auf und regt Kinder zum Nachdenken über Heterogenität und Anderssein als etwas Positives an. Insofern kann es auch für eine thematische Beschäftigung mit eben diesen Themen in den späteren Kindergartenjahren oder auch in der 1. und 2. Klasse eingesetzt werden. Weiterhin eignet es sich auch im privaten Bereich dafür, um mit Kindern über Heterogenität ins Gespräch zu kommen und zu unterstreichen, dass Kleidung und Farben kein Geschlecht haben. Um damit eine längere Sequenz zu gestalten, kann auch noch das Buch Theo liebt es bunt (Knesebeck 2020) herangezogen werden, in welchem es um ein Wiesel geht, das gerne besonders ausgefallene Kleidung trägt. Für jüngere Kinder würden sich die Bücher Kleidung ist für alle da und Spielzeug ist für alle da von Susann Hoffmann (beide 2022 im Zuckersüß Verlag erschienen) eignen, um schon im Kleinkindalter zu zeigen, dass jedes Kind das anziehen und spielen können sollte, was es möchte.
- Name: Riccardo Simonetti
- Name: Lisa Rammensee