Inhalt
Der Ich-Erzähler dieses Bilderbuchkrimis – in der deutschen Ausgabe als Brille tragende Ameise dargestellt – ist komplett aus dem Häuschen: Das zweite Kapitel wurde gestohlen und sein Buch ist somit nicht mehr vollständig. Und tatsächlich folgt das dritte Kapitel direkt auf die Doppelseite mit dem ersten Kapitel. Hauptkommissarin McGonagle, eine mit Lupe und Pistole ausgestattete, nicht besonders kompetente Eidechsendame, muss helfen, aber auch die Leser*innen werden eingespannt: "Wenn du Kapitel 2 zufällig findest oder dir irgendwelche verdächtigen Gestalten auffallen, ruf bitte die Polizei!“ (Lieb 2023, o.S.) Spätestens in Kapitel 5 wird aufmerksamen Rezipient*innen klar, wo sich das zweite Kapitel befindet und wer der Übeltäter ist. Sie haben dadurch einen Wissensvorsprung gegenüber den Protagonist*innen, die das nicht so leicht begreifen. Zwischendurch gibt es einen kurzen Abstecher in ein Science-Fiction-Abenteuer, das zwischen Kapitel 7 und 8 liegend mit "Kapitel 45“ überschrieben ist und somit innerhalb der Kapitelreihenfolge Verwirrung stiftet, bevor in Kapitel 9, 10 und 11 textlos als enge Bildfolge weitererzählt wird. Unter Einsatz von Spiegelschrift (innerhalb des gestohlenen Kapitels), fehlenden Buchstaben und geraubten Satzzeichen, die allesamt der verdächtig wirkende Hausmeister weggefegt und entwendet hat, ergeben sich einige lustige Missverständnisse. Und auf Kapitel 16 folgt dann tatsächlich Kapitel 2.
Kritik
Bilderbuchkrimis sind selten, wenngleich sich bei genauerem Nachdenken einige Beispiele von Die Torte ist weg bis zu den Märchen-Krimis um den Katzendetektiv John Chatterton und auch neure Beispiele wie Herr Bert und Alfonso jagen einen Dieb (Laura D‘Arcangelo) finden lassen. Auch die Unterteilung in Kapitel ist in dieser zumeist nicht so umfangreichen Buchgattung eher ungewöhnlich. In diesem Bilderbuch mit Text von Josh Lieb kommt beides zusammen: Die Leser*innen machen sich mit den Protagonist*innen auf die Suche nach dem verschwundenen zweiten Kapitel und dessen Dieb.
Anders als in der amerikanischen Originalausgabe (erschienen bereits 2019, von Kevin Cornell mit ausschließlich menschlichen Figuren illustriert) wählt der deutsche Illustrator Nikolai Renger Insekten und Reptilien als Protagonist*innen. Milo, der unangenehme Hausmeister und Kapiteldieb, ist bspw. eine tätowierte Kröte. Auch hinsichtlich der grafischen und farblichen Gestaltung unterscheidet sich die deutschsprachige Ausgabe vom englischsprachigen Original: Während Cornells Bilder in Schwarz, Weiß und Orange gestaltet sind, verwendet Renger eine pastellige Farbpalette. Statt der reduzierten Darstellung bei Cornell sind seine Bilder durch den Einbezug verspielter Details, z. B. wimmelige Insekten als Nebenfiguren, gekennzeichnet. Verzichtet wird in der deutschsprachigen Version etwa auch auf Seitenzahlen, die in der amerikanischen Ausgabe in das metafiktionale Spiel mit einbezogen werden, oder auf eine detaillierte Ausgestaltung der Titelei. Während das Vorsatzpapier der deutschsprachigen Ausgabe Umrisszeichnungen zweier Nebenfiguren zeigt, findet sich auf dem hinteren Vorsatz das vermisste Kapitel, komplett in Spiegelschrift gehalten. Auch dies ist im englischen Original etwas geschickter gelöst: Dort verbirgt sich das spiegelbildlich gedruckte zweite Kapitel hinter einer Doppelseite, die grafisch wie das vordere Vorsatz gestaltet wurde. Außerdem trägt der Buchumschlag – den Kapitel 2 ist weg! nicht besitzt – dort mit seiner Innenklappe weiter zur Verdeckung des gestohlenen Kapitels bei.
Beide Interpretationen des Textes stehen eigenständig nebeneinander. Die Übersetzung durch Boris Löbsack erscheint hingegen überwiegend textnah. Etwas ärgerlich ist – gerade in diesem Buch mit den vielen sinnhaft fehlenden Zeichen – ein Tippfehler (ein unbeabsichtigt fehlender Buchstabe) im hinteren Vorsatz.
Fazit
Kapitel 2 ist weg! reiht sich ein in den Trend metafiktionaler Bilderbücher, die mit Hilfe von Leser*innenanrede, Sprachspielereien und der Nutzung buchgestalterischer und typografischer Elemente junge Leser*innen zur Reflexion über Bücher und Literatur, Realität und Fiktion herausfordern. Auch wenn die deutschsprachige Ausgabe grafisch sowie hinsichtlich der Komplexität der verwendeten illustratorisch-typografischen Mittel etwas hinter dem amerikanischen Original zurückbleibt, kann diese schräge Geschichte mit Vergnügen gelesen werden und Kinder wie erwachsene Mitleser*innen zu interessanten Entdeckungen anregen. Aufgrund der Handlung, zu deren Verständnis ein gewisses Vorwissen über Schriftsprache und Bücher vonnöten ist, ist das Buch – anders als vom Verlag angegeben – ab ca. sieben bis acht Jahren zu empfehlen. Natürlich können auch jüngere Kinder (z.B. kleinere Geschwister) Gefallen an den witzigen Figuren und den Nebenhandlungen finden. Richtig spaßig wird es aber erst, wenn man sich mit dem Aufbau und dem Lesen von Büchern auskennt.
- Name: Josh Lieb
- Name: Boris Löbsack
- Name: Nikolai Renger