Inhalt
Es regnet in Strömen. Zwei Kinder schauen aus dem Fenster eines Mehrfamilienhauses. Langeweile liegt in der Luft. Auch die Spielekonsole verschafft nur kurzfristig Abhilfe. Dann aber kommt ein Gedankenspiel in Fahrt, das durch den Eintritt von Farbe ins bislang schwarz-weiß-gehaltene Bild veranschaulicht wird: Ein Ball auf dem Kopf des Mädchens wird zur Kugel, die einen Berg hinunterrollt und ins Wasser fällt. Die Kinder haben Freude mit- und aneinander, kitzeln sich und tollen durch den Raum. Im Spiel bewegen sie sich als winzig kleine Menschen über Pilze und reiten auf einem Käferrücken. Angeregt durch wenige einfache Realien wie einen Stuhl, etwas Farbe oder einen Putzeimer werden sie im weiteren Verlauf zu Ries*innen, die über Häuser und Straßen stapfen, erklimmen Berge, verwandeln sich in Raubkatzen, steigen in einen Brunnen (Abb. 1) und geraten dabei in ein unterirdisches Höhlensystem. Dort finden sie eine goldene Kugel und entkommen einem monströsen Frosch. Zum Schluss ist der Regen vorbei. Die Kinder steigen – nun in der realen Welt – auf ihre Fahrräder und fahren dem Horizont entgegen. Auch hier kommt wieder Farbe ins Spiel, neue Abenteuer stehen an, draußen wird es ebenfalls einiges zu entdecken geben.
Kritik
Am Anfang ist alles schwarz-weiß. Jens Rassmus, der bereits mit seinen Bildern zu eigenen wie auch Texten anderer Autor*innen Erfolge feierte, beginnt in diesem, seinem ersten textlosen Bilderbuch mit Tuschzeichnungen, die entsprechend der trüben Ausgangssituation ohne Farbe auskommen. Die Geschwister-Protagonist*innen werden zunächst innerhalb einer ganzseitigen Darstellung von außen im Rahmen einer Hausansicht mit Regen gezeigt. Dann sieht man sie – mittig auf einer Einzelseite platziert – als Rückansicht aus dem Fenster blicken, bevor die für einen Teil des Buches typische Darstellung kurzer Abläufe als vier randlose Panels auf einer Einzelseite startet. Die zweite Doppelseite stellt eine solche Abfolge dann erstmals einer farbigen Seite gegenüber, die die Welt der kindlichen Imagination veranschaulicht. Während sich auf der linken Buchseite die weiterhin in schwarz-weiß gehaltenen Kinder langweilen – der Junge schaut auf die Konsole, das Mädchen beginnt, sich etwas auszudenken – entsteht rechts eine Landschaft, die sich auf den nächsten Seiten ausweitet und weiterentwickelt. Die Struktur der ersten Seiten verändert sich, es kommen farbige Panels hinzu, schließlich gelangen die Kinder – erst das Mädchen, dann der Junge, als weiterhin schwarz-weiß gezeichnete Figuren in die farbige imaginierte Welt hinein. Spannend wird auch das Spiel mit Größenverhältnissen, wenn die beiden als zwergenhafte Figuren über Pilze balancieren und schließlich – man mag hier an den Kinderbuchklassiker Peterchens Mondfahrt denken, auf einem Maikäfer davonfliegen, kurz darauf aber als Ries*innen durch die Landschaft spazieren. In der Fantasie ist eben alles möglich. Mithilfe eines Bechers mit Farbe verwandeln sich die Kinder erneut, diesmal in Leopard und Löwin. Dies wird mal farbig imaginiert, mal schwarz-weiß gezeigt. Schließlich entspinnt sich ein besonderes grafisches Spiel, als die Kinder die schwarze Farbe verschütten und Fußspuren hinterlassen, bis der Bildraum zunehmend schwarz wird. Hier ist dann auch der einzige Eltern-Eingriff zu verzeichnen: Ein Putzeimer wird hingestellt, eine Hand, die auf diesen deutet, unterbricht kurzfristig das Spiel. Aber bald wird der Eimer zum Brunnen, in den die Kinder steigen (vgl. Abb. 1) – es werden nun mithilfe von Schatzkiste, goldener Kugel und Froschfigur Märchenassoziationen geweckt. Das Meiste erleben die Geschwister in ihrer Fantasie gemeinsam, einmal aber, gegen Ende, bleibt der Bruder alleine zurück und sucht seine Schwester, die sich unter dem Bett versteckt hat. Nach einigen schwarz-weißen Panels, auf denen sich die Kinder spielerisch balgen, kommt dann der Abschluss der in textfreien Bildern erzählten Geschichte: Die Geschwister gehen mit ihrem Ball nach draußen, die nun größer werdenden schwarz-weißen Zeichnungen zeigen, wie sie mit ihren Fahrrädern davonfahren. Die letzte vollformatig gefüllte Doppelseite bringt dann zum ersten Mal Farbe in die reale Welt – in Form des blau- rosafarbenen Abendhimmels – und deutet damit an, dass auch hier neue Entdeckungen und Spiele möglich sind.
In einer Zeit, in der kindliches Spiel häufig reglementiert und durch volle Terminkalender und erwachsenengeleitete Aktivitäten zurückgedrängt wird, zeigt dieses Buch auf poetische Weise, wie wichtig es ist, Kindern erwachsenenfreie Räume als Imaginationsspielwiese zu ermöglichen. Gefeiert wird hier, dass Kinder mithilfe einfachster Mittel und Gegenstände ins Spiel gelangen können. Auch die Geschwisterbeziehung wird hervorgehoben, die ihren Reiz dadurch entfaltet, dass ein(e) Spielpartner*in innerhalb der Familie häufig unkompliziert zur Verfügung steht. Rassmus gelingt es durch die unterschiedlichen bildnerischen Techniken sehr gut zu zeigen, wie Spiel und Realität ineinander übergehen, verschwimmen, sich wieder trennen – das ist die große Stärke dieses Buches. Interessant sind dabei auch die Anspielungen auf literarische Prätexte, die in gemeinsamen Gesprächen festgestellt werden können.
Fazit
Regentag wurde nicht umsonst bereits mit diversen kleineren Preisen (z.B. dem Leipziger Lesekompass oder dem LesePeter der AJuM) ausgezeichnet und von der Kritik hochgelobt. Rassmus zeigt hier sein großes bildnerisches und erzählerisches Können in einer unaufgeregten Geschichte, die sehr überzeugend mit Fantasie und Realität, kindlichem Geschwister-Spiel und Vorstellungsvermögen umgeht, zum genauen Beobachten, Erzählen, vielleicht auch zum Schreiben einlädt, vor allem aber auch zum eigenen Spiel anregen und Erwachsenen die Wichtigkeit dieses Probehandelns (wieder) in Erinnerung rufen kann.
- Name: Rassmus, Jens