Inhalt
Die Geschichte dreht sich um eine anthropomorphisierte und verniedlichte Hasenfamilie, die im tiefsten Wald lebt. Die Mutter verabschiedet ihre beiden Kinder nach dem Frühstück und schickt sie zur Schule. Sodann stellt der Lehrer der Häsin Hoppich und der gesamten Klasse einen Neuling vor, einen Fuchs namens Brehm. Letzterer setzt sich neben Hoppich und begrüßt sie mit einer Ghettofaust. Als Nächstes interessieren sich alle Schülerinnen und Schüler für Brehm, weil er kein Hase, sondern ein Fuchs ist. Am Anfang haben die Tiere Angst vor dem angeblich gefährlichen Fuchs mit dem witzigen "I love [Herzsymbol] carrots [Möhrensymbol]", doch er erweckt in den Schülerinnen und Schülern deren Sinn für Alterität: "Wenn wir allen Chancen geben, / können wir viel mehr erleben“ (o. P.). Anstatt als "Hühner- oder Hasendieb" (o. P.) outet sich Brehm nämlich als Pflanzenfresser.
Während des Unterrichts deutet die Lehrerin auf einen Baum voller Hinweise, aus denen hervorgeht, dass vielmehr der Mensch eine große Gefahr für die Hasen sei (vgl. o. P.). Hier sieht man auch ein Schild mit Ausrufezeichen und darunter eines, auf dem das Wort "Landwirtschaft" steht. Auf der folgenden Doppelseite erkennt man en détail, dass der Mensch im Allgemeinen, Jäger und Landwirtschaft im Besonderen, eine Gefahr für die unwissenden Häschen darstellen. In diesem Kontext sehen die Häschen einen Mann mit Mistgabel auf einem Foto, das auf den Baumstamm geklebt ist. Auf der linken Seite erkennt man neben dem "Achtung Jagd!"-Schild ein Bild mit neutral wirkenden Mähdreschern, die jedoch ebenso mit einem Ausrufezeichen versehen sind (vgl. o. P.). Bei einem Schulausflug wandern die Hasen mit dem Fuchs am Rande eines Feldes, wo ein "Achtung Gift!"-Schild aufgestellt ist (vgl. o. P.). Dies verdeutlicht die Umweltverschmutzung durch Pestizide aus der Landwirtschaft. Auf dem Rückweg verlieren sich Hase und Fuchs beim Fangenspielen im Feld. In letzter Sekunde rettet der Fuchs den Hasen vor einem nahenden Mähdrescher. Als Gegenleistung möchte der Fuchs kein Geld, sondern ein Hilfsversprechen für den Fall, dass er selbst einmal in Gefahr gerät. Zuhause angekommen, erzählt das Häschen seinen Eltern von der neuen Freundschaft und fragt um Rat, wie es diesen schönen Tag im Gedächtnis behalten kann. Schließlich ermuntern die Eltern Hoppich, dass diese entweder in der herannahenden Nacht von den Erlebnissen träumen oder den anderen Klassenkameraden davon erzählen soll (vgl. o. P.).
Kritik
Anke Engelke und Mareike Ammersken versuchen den Klassiker aus den 1920er Jahren auf einen aktuellen Stand zu bringen: So greift in der Schule der Lehrer nicht mehr zu körperlicher Bestrafung, das Feindbild Fuchs wird durch einen freundlich-veganen Fuchs aufgebrochen und das motivisch überreizte Anmalen der Eier durch kitschige Osterhasen bleibt komplett außen vor. Der Verband der Landwirte hat sich über eine angebliche Abwertung seines Berufsstandes aufgeregt. Dies rührt offenbar von dieser Szene: In der Mitte des Buchs findet sich eine freundliche Lehrerin, die mit ihrem Zeigestab auf moderne Feindbilder zeigt, um die Häschen zu warnen. Als die Häschenklasse auf der nächsten Doppelseite an einem Feld mit reifem Getreide vorbeigeht, ist dieses mit Absperrband umzäunt und darüber thront ein Schild mit einem Hasen-Totenkopf und der Aufschrift "Achtung Gift". Hierzu kommentiert die Lehrerin: "Hier bloß nix essen, nix berühren, / sonst bekommt man Gift zu spüren" (o.P..). Dadurch wird auf die tödliche Gefahr für Feldhasen durch Pestizide hingewiesen. Als Nächstes ereignet sich fast das im Inhaltsteil beschriebene Unglück. Die einseitige Darstellung der Landwirtschaft fällt an diesen Beispielen durchaus auf. Gleichwohl ist in Rechnung zu stellen, dass Kinderbücher des Öfteren reduzieren müssen, um ihre Lesart über semantische Oppositionen herauszukristallisieren. Zudem ist die von Engelke und Ammersken entwickelte, negative Sicht auf die Landwirtschaft aus Tiersicht konsequent. Ein solcher Wirbel um ein Bilderbuch findet nicht zum ersten Mal statt: Das Buch Alles lecker! (Osberghaus und Kuhl 2012) erhielt einen Shitstorm, der von nicht wenigen Landwirten initiiert worden war, unter anderem weil darin Schweinefutter mit einem Wachstumsmittel versehen wurde. Letzteres entspräche seit geraumer Zeit nicht mehr der Realität, sodass der Verlag dieses Detail in einer Neuauflage getilgt hat. Anke Engelke verweist mit Blick auf die Kritik darauf, dass ihr Narrativ nicht funktioniert hätte, wenn nicht die Menschen im Allgemeinen als Feinde der Hasen in den Vordergrund gerückt worden wären. Denn hierbei wird auch der Fuchs als prototypischer und gewiefter Bösewicht der Fabel durch seinen Veganismus entlastet, sodass das traditionelle Kinderlied "Fuchs, du hast die Gans gestohlen" in der (Post-)Moderne gleichsam in "Mensch, du hast (viele) Wildtiere getötet" umgemünzt wird.
Zentraler als die Kritik an der konventionellen Landwirtschaft ist m. E. die inklusive Lesart des Buches: Diese läuft darauf hinaus, dass man Vorurteile gegenüber fremden oder andersartigen Lebewesen überwinden sollte, um zu erkennen, dass diese in Wirklichkeit freundlich sind. Die Eingliederung des Fuchses in die Hasengemeinschaft lässt sich auch als Inklusionsbeitrag verstehen. Eine weitere Lesart betrifft den Schutz unserer heimischen Tiere. Darin versagen die Menschen, sodass sich die Natur hier nur selbst helfen kann, indem die Lehrerin ihre Schülerinnen und Schüler in der Häschenschule über Gefahren für Leib und Leben aufklärt. Die auf Maschinen und Chemikalien gestützte, großflächig agierende Landwirtschaft wird in diesem Bilderbuch tatsächlich als Bedrohung für die Hasen dargestellt. Dieser Umstand ist kein Schauermärchen, sondern beruht auf seit vielen Jahren bekannten Tatsachen. Dadurch werden jedoch nicht die Landwirte persönlich, sondern die Art des Anbaus und des Erntens problematisiert. Auch als Hoppich in Lebensgefahr schwebt, wird ein entindividualisierter Landwirt als unnahbarer Schatten in seinem Mähdrescher inszeniert (vgl. o. P.). Die Verfasserinnen des Bilderbuchs legen den Finger in die offenkundige Wunde und fordern somit zum Überdenken der bisherigen konventionellen Form der Landwirtschaft auf, natürlich durch exempla ex negativo. In Zeiten eines dritten Artensterbens könnte eine reflektierte Leserschaft dies auch als notwendige Erkenntnis für die nächste Generation, die noch länger unter möglichst lebenswerten Bedingungen auf diesem Planeten leben will, ansehen.
Die insgesamt freundlichen Illustrationen von beflissenen Häschen unterstreichen die harmonisch gereimten, meist vierhebigen Verse mit sauberer Reimtechnik. Jedes Häschen ist individuell und lebendig dargestellt, zumal sie durch Kleidung und Attribute unterschieden sind. Die farbenfrohen Zeichnungen in Buntstiftoptik und digitaler Mischtechnik passen zur wertschätzenden Atmosphäre des Buches gegenüber der Tierwelt. Im Vergleich zur piktoralen Ebene des bereits erwähnten Klassikers Die Häschenschule wirken die Bilder von Ammersken noch verniedlichender, indem auch die Augen der Tiere knopfaugenförmig sind. Der sehr strenge und überdimensional-bedrohlich erscheinende Hasenlehrer wird in der modernen Adaption von Engelke durch eine freundliche Lehrerin ersetzt, die mit einem zumeist fröhlich dreinblickenden Gesichtsausdruck versehen wird. Auch verwendet sie ihre Autorität nicht zum Bedrohen von Schülerinnen und Schülern wie in der Originalversion des Werks. Die dicken schwarzen, recht dynamisch wirkenden (Tusche-)Linien des Originals finden sich in der digitalen Mischtechnik der Adaption nicht, wodurch die Illustrationen moderner und kindgerechter wirken. Darüber hinaus fallen die scherenschnittartigen Vignetten der Urversion weg, die den Text auf eine zusätzliche Ebene illustrieren und filigran ausschmücken.
Fazit
Insgesamt ist Die neue Häschenschule ein (vor-)lesenswertes Bilderbuch mit spritzig gereimten Versen im Sinne des aktuellen Zeitgeists, dessen Bilder nicht nur den Text doppeln, sondern im Detail auch neue Ebenen des Entdeckens eröffnen. Dieses Bilderbuch erfindet das Rad nicht neu, ist jedoch als Lesefutter eine gute Alternative zu kitschigen Osterei-Werkstätten, die die angespannte Situation in der Natur außerhalb der Diegese nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen. Die Landwirtschaft ist tatsächlich durchwegs als bedrohlich dargestellt, jedoch werden die Landwirte selbst nicht als negative Personen abgewertet, sondern eher als Teil eines tierfeindlichen Agrarsystems inszeniert. Hier soll offenbar auch aufgrund des drastisch zurückgehenden Bestands an Wildtieren ein Umdenken bzgl. der Form der Landwirtschaft angestoßen werden. Der Bezug zur Original-Version ist sowohl inhaltlich als auch illustratorisch recht locker gehalten, sodass die Schule als Sozialisations- und Warninstanz den dünnen gemeinsamen Nenner bildet. Es stellt sich abschließend also die Frage, ob der Titel von Engelkes bzw. Ammerskens Bilderbuch nicht in erster Linie aus marktstrategischen Gründen an den sehr erfolgreichen Kinderbuchklassiker angelehnt wurde. Denn bei der Erscheinung des Buchs wurde es mit der Kampagne "100 Jahre Häschenschule" beworben.
- Name: Anke Engelke
- Name: Mareike Ammersken