Inhalt

Der junge Protagonist Oscar macht eine magische Entdeckung: Beim täglichen Löcherbuddeln findet er eine Schatztruhe voller Wörter, mit denen er Gegenstände, Lebewesen und Pflanzen verwandeln kann. So bekommt die alte Eiche eine neue Frisur, als sie mit dem Wort „haarig“ in Berührung kommt, und Oscar kann einen Bagger mit einer Hand hochhalten, nachdem er das Wort „federleicht“ auf ihn „katapultiert […]“ hat. Voller Euphorie schleudert er die Wörter um sich, bis die Truhe plötzlich leer ist. Nun steht er wortlos da. Auf der Suche nach neuen Wörtern trifft er auf Herrn Schmidt, die Nachbarin und Karl. Doch diese halten Wörter für belanglos oder reine Zeitverschwendung und können Oscar nicht weiterhelfen. Schließlich begegnet er Louise, einer Sprachkünstlerin, die dem Protagonisten zeigt, wie er selbst neue Wörter erschaffen kann. Durch das bewusste Wahrnehmen seiner Umgebung eröffnet sich für Oscar eine neue Welt der Sprache. „Es ist, als würdest du mit deinen Wörtern ein Bild malen“, beschreibt Louise die Wörtersuche und Oscar beginnt, Wörter als Ausdruck seiner eigenen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken zu begreifen. Dabei entstehen besondere Wortneuschöpfungen wie „meeresbrisenrauschend“ und „sahneheiter“.

Kritik

Der junge Protagonist trägt eine orangefarbene Mütze, ein grünkariertes Hemd und rote Schuhe. Seine neugierige und abenteuerlustige Art schafft eine Verbindung zur Lebenswelt der Rezipient*innen und erleichtert die Identifikation mit der Figur. Seine unbedachte und verspielte Natur zeigt sich, als er die Wörter aus der Truhe um sich „schleudert […]“ und „schnippt […]“. Besonders die sogenannten Pageturner  (vgl. Kurwinkel 2024, S. 184f) spielen ährend des Verwandlungsprozesses der Gegenstände, Lebewesen und Pflanzen in der Bildnarration eine wichtige Rolle. Die absurden Kombinationen, wie die haarige Eiche, können während des Vorlesens und Umblätterns gemeinsam antizipiert werden. 

Die zu Beginn der Geschichte durch die gezielte Verwendung von Wortfeldern, präzise Wortwahl und zahlreiche Adjektive erzeugte lebendige Stimmung gerät ins Wanken, als Oscar vor einem Problem steht: Die Wörter aus der Truhe sind aufgebraucht. „[W]ortlos stand er da". Die Verkürzung der Situationsbeschreibung auf einen einzigen Satz und die Inversion, die die Wortlosigkeit betont, schaffen einen markanten inhaltlichen und sprachlichen Kontrast zum bisherigen Handlungsverlauf.

Die Begegnungen mit Herrn Schmidt, der Nachbarin und Karl, die Oscar bei der Suche nach einer Lösung seines Problems abweisen, sind von kurzer Dauer. Die knappen Äußerungen der Figuren und die eintönige Farbwahl ihrer Darstellung unterstreichen ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung von Wörtern. Demgegenüber steht die Figur Louise: Mit ihren grauen Haaren und der Kneiferbrille verkörpert sie Weisheit und Lebenserfahrung und gilt als Sprachkünstlerin, die all ihre Sinne nutzt, um neue Wörter zu erschaffen. Die farbenfrohe Darstellung ihrer Blumenwiese verdeutlicht, wie Wörter die Welt verschönern und bereichern können – ähnlich wie Farben, die eine Blumenwiese erst lebendig machen. Sprachlich werden durch Begriffe wie „buntsatte Blumenwiese“ und „Wunderbares“ positive Assoziationen bei den Rezipient*innen hervorgerufen. Auffällig ist auch die Gestaltung des Vor- und Nachsatzes. Während der Vorsatz ausschließlich Adjektive in schwarzer Schrift und Großbuchstaben zeigt, enthält der Nachsatz nahezu nur farbige Bildelemente. Inhaltlich ergänzen sich diese Seiten: Auf dem Vorsatz steht das Adjektiv „mehrköpfig“, während auf dem Nachsatz ein dreiköpfiger Elch abgebildet ist. Ein ähnliches Prinzip findet sich auch innerhalb der Geschichte: Auf einer Seite sieht man Oscar, wie er die Wörter aus der Truhe umherschleudert, während auf der Folgeseite in einem Wimmelbild die Gegenstände und Tiere zu sehen sind, die er mithilfe der Wörter verwandelt hat. Diese Bezüge zwischen Text und Bild bieten Potenzial, um auf spielerische Weise, etwa durch Zuordnungsaufgaben, den Wortschatz der Rezipient*innen zu erweitern.

Das Bilderbuch verwendet eine einfache, jedoch wirkungsvolle Sprache, die umgangssprachliche Elemente wie „Löcherbuddeln“ und „pfefferte“ integriert, welche fest im alltäglichen Sprachgebrauch der Rezipient*innen verankert sind. Vereinzelt treten auch poetische Strukturen auf, wie etwa in der Metapher „Einmal ausgesprochen, haben Wörter eine magische Kraft. Gehe achtsam mit ihnen um. Du lässt mit ihnen die Welt erblühen“, die die transformative und schöpferische Kraft von Sprache betont. Die Thematisierung dieser sprachlichen Mittel im literarischen Gespräch erscheint im Hinblick auf die empfohlene Zielgruppe des Verlags, ab vier Jahren, als förderlich, um das Textverständnis angemessen zu unterstützen. Besonders bedeutsam ist das wiederholte Auftreten der „Holztruhe“, die am Ende der Geschichte als „Wortschatztruhe“ erscheint und damit inhaltlich sowie sprachlich den Kreis schließt. 

Hinsichtlich des Verhältnisses von Bild und Schrifttext lässt sich überwiegend eine symmetrische Beziehung beobachten. Dies wird bereits auf der ersten Doppelseite der Erzählung deutlich. Der Text „An einem milden Herbstmorgen war Oscar beim täglichen Löcherbuddeln. Da entdeckte er eine prächtige Holztruhe“ wird durch das Bild verdeutlicht, das die „prächtige Holztruhe“ zeigt, die von zwei Armen aus einem Loch gehoben wird. Diese Arme sind dem Protagonisten Oscar zuzuordnen. Zusätzlich verbildlichen Elemente wie eine Schaufel, eine Landkarte, eine Leiter sowie mehrere Löcher im Boden im Hintergrund des Bildes das „tägliche[n] Löcherbuddeln“. Diese symmetrische Beziehung von Bild und Schrifttext kann zur Wortschatzerweiterung der Zielgruppe beitragen. Eine Ausnahme bietet beispielsweise die Buchseite, auf der Oscar versucht, die Truhe zu öffnen. Der Text „Im Nu hatte Oscar die Truhe geöffnet“ steht im Gegensatz zur bildlichen Darstellung, die den Prozess des Öffnens der Truhe als langwierig zeigt, aufgrund der vielen umherliegenden Werkzeuge und dem lautmalerischen Hinweis „Zwei Tage später“. Diese Diskrepanz zwischen Text und Bild erzeugt Komik und regt zur Reflexion über den eigenen Sprachgebrauch an. 

Die bildnerische Technik des Bilderbuches lässt sich der Zeichnung mit Buntstiften zuordnen. Der bildnerische Stil ähnelt dem Comic, was durch die Verwendung von Lautmalereien verstärkt wird. In den Bildern fällt eine Dominanz von Erdtönen auf, die schlicht und dezent gehalten sind. Auffällig ist, dass auf den einzelnen Buchseiten häufig Farben aus dem Farbkreis verwendet werden, die nebeneinander liegen. Dies erzeugt eine harmonische und sanfte Stimmung. Zudem sind die Wörter aus der Wortschatztruhe durch ihre Typographie auch Teil der bildlichen Darstellung. So wird das Wort „monströs“ beispielsweise um einen Bogen herum geformt, um das Schnippen dieses Wortes auf einen Käfer zu verdeutlichen (vgl. Abb. 1).

 Gugger Roethlisberger Der Wortschatz InnenAbb. 1: Typografie als Gestaltungsmittel in Gugger, Rebecca & Röthlisberger, Simon: Der Wortschatz, o. S. 

Das Bilderbuch ist mit seinen 48 Seiten relativ lang, was dazu führen kann, dass die Aufmerksamkeit  jüngerer oder ungeübter Rezipient*innen gegen Ende der Geschichte nachlässt. Dies könnte problematisch sein, da die zentrale Botschaft – die Kostbarkeit der Sprache – erst auf den letzten Seiten konkretisiert wird.

Fazit

Das Bilderbuch Der Wortschatz weist eine thematische Ähnlichkeit mit dem Bilderbuch-Bestseller Die große Wörterfabrikauf (de Lestrades 2010) und vermittelt dennoch auf ganz eigene Weise in einem gelungenen Zusammenspiel von Bild und Text sowohl die Freude an der Beschäftigung mit Sprache als auch die Bedeutung eines achtsamen und bewussten Umgangs mit Wörtern. Empfohlen wird das Bilderbuch ab vier Jahren. Besonders in der Grundschule kann es, bspw. unterstützt durch das vom Verlag entwickelte pädagogische Begleitmaterial, zur Förderung sprachlicher Kompetenzen wie dem Einführen der Wortart Adjektiv eingesetzt werden.

 

Literatur

de Lestrade, Agnès / Docampo, Valeria (2010): Die große Wörterfabrik. Übers. v. Anna Taube. München: mixtvision.
Kurwinkel, Tobias (2024). Bilderbuchanalyse. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag.

Titel: Der Wortschatz
Autor/-in:
  • Name: Rebecca Gugger
  • Name: Simon Röthlisberger
Illustrator/-in:
  • Name: Rebecca Gugger
  • Name: Simon Röthlisberger
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2024
Verlag: NordSüd
ISBN-13: 978-3-314-10670-5
Seitenzahl: 48
Preis: 17,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 5 Jahre
Gugger, Rebecca / Röthlisberger, Simon: Der Wortschatz