Inhalt
Axels bester Freund Bosse ist nicht mehr da. Bosses Vater musste beruflich ans andere Ende der Welt, nach Australien, ziehen, und die Familie gleich mit. Axel trauert um den Freund, der für ihn nun unerreichbar scheint. Alle anderen Kinder haben ihre Freund*innen noch, nur er ist alleine. Die Erwachsenen können auch kaum helfen, am ehesten noch der demente Großvater, zu dem Axel nach der Schule manchmal geht, um Kekse zu essen, und Mama, die sich abends zu ihm ins Bett legt und mit ihm spricht. Die Lehrerin sieht zwar, dass etwas nicht stimmt, hat aber nicht die richtigen Worte: „Die Zeit heilt alle Wunden“, gibt sie von sich und lässt den Jungen damit alleine. Auch Papa bleibt wortkarg, als Axel versucht, mit ihm über das Vermissen zu sprechen. Trauer – und das gilt nicht nur für das Betrauern von Toten – braucht Zeit und diese Zeit bekommt Axel in diesem Bilderbuch.
Am Ende aber ist Bosses Haus, an dem Axel jeden Tag auf dem Schulweg vorbeikommt, nicht mehr unbewohnt. Ein Junge ist dort eingezogen, der durchs verschlossene Fenster mit ihm Kontakt aufnimmt. „Ich denke an alles, was verschwunden ist. Und überlege: Vielleicht findet man ja auch etwas Neues“, heißt es hoffnungsvoll auf der letzten Seite.
Kritik
Dinge, die verschwinden irritiert möglicherweise paratextuell gleich mehrfach: Zum einen sind auf dem Cover zwei für Protagonisten im Bilderbuch recht „alte“ Jungen im Schulalter zu sehen – Figuren, die nicht unbedingt häufig als Bilderbuch-Protagonisten auftreten. Außerdem teilt sich das Buch den Titel mit einer Textsammlung von Jenny Erpenbeck aus dem Jahr 2009.
Innerhalb des Bilderbuches begegnet man dann, schon im intensiv gestalteten vorderen Vorsatz, zunächst Stian Holes digitalen Collagen, ähnlich denjenigen, die man aus seinen eigenen Werken, so etwa der Garman-Trilogie und Annas Himmel kennt. Diese Bilder, die den Fokus auf menschliche Gesichter legen, aber auch fotografisch dargestellte Gegenstände einbeziehen und mit Texturen und Mustern sowie einer nostalgischen Farbigkeit arbeiten, ergänzen und erweitern Kim Fupz Aakesons einfühlsamen Text über Freundschaft und Sehnsucht.
Der Text wie auch die Bilder lassen die verschiedenen Etappen der Trauer aus kindlicher Perspektive nachvollziehen: Axel fühlt sich in der Schule alleine, er denkt darüber nach, warum Bosse wegziehen musste. Er vermisst den Freund, wenn er an dessen Haus vorbeikommt, und denkt an die Dinge, die er sonst noch vermisst. Er wendet sich in seinem Kummer an Opa, Mama und Papa, die ihn nur bedingt unterstützen, obwohl sie selbst mit Verlusten konfrontiert waren und sind. Axel ist eifersüchtig auf einen etwaigen neuen Freund von Bosse in Australien. Er ist traurig und einsam. Am Ende der Geschichte begegnet er Sven, der über Grimassen und ans behauchte Fenster geschriebene Namen und damit auf eine sehr direkte, unbefangene Weise mit ihm Kontakt aufnimmt. Hier sieht man Axel, der sich seit Bosses Verschwinden in einem Kapuzenpullover verbirgt, zum ersten Mal wieder lächeln. Die möglicherweise neu entstehende Freundschaft ist hier nicht als plumper Ersatz dargestellt, eher als Zeichen dafür, dass es irgendwann weitergeht, dass neue Menschen ins Leben treten können, wobei das Vermissen gleichzeitig bestehen bleiben darf.
Holes surreal wirkende Bilder, die Gefühle und Stimmungen transportieren und auch Gedanken visualisieren, sind – wie in seinen anderen Werken – schonungslos etwa auch in Hinblick auf die Darstellung von Alter und Tod. Der Liste der Dinge, die Axel vermisst, fügt er bspw. ein Bild des toten Zwerghamsters Kakao in einer Pappschachtel bei, der von einem der verlorenen Milchzähne des Protagonisten begleitet wird. Der demente Großvater wird in den kargen Gängen des Pflegeheims mit geöffnetem Hemd und Narbe auf der Brust im Rollstuhl gezeigt, das Vergessen ist an seinem Gesicht ablesbar. Besonders ist zudem die Visualisierung der Erinnerungen an den verlorenen Freund, der schon auf der ersten Seite als blasse, geisterhaft durchscheinende Figur dargestellt wird. Frappierend ist weiterhin die inhaltlich-motivische Ähnlichkeit zu den Garman-Bänden, in denen der Text ja von Hole selbst stammt: Auch hier spielt der Austausch zwischen Alter und Jugend eine Rolle, auch hier werden Vertreter verschiedener Generationen vom kindlichen Protagonisten zu ihren Gefühlen befragt.
Das Bilderbuch bietet insgesamt eine Vielzahl von Anregungen, um über Verluste zu sprechen, auch für den intergenerationellen Austausch über Emotionen und den Umgang damit. Auf beiden Ebenen, der sprachlichen wie der bildlichen, lassen sich etwa für den schulischen Kontext darüber hinaus ergiebige ästhetische Anschlussaufgaben zur Rezeption dieses Bilderbuches vorstellen: So könnte z. B. ein eigenes Büchlein der verschwundenen Dinge erstellt werden, in dem bildnerisch an Holes Technik anknüpfend fehlende Dinge oder Lebewesen aus dem Leben der Rezipient*innen gesammelt und collagiert werden. Ein solcher Gegenstand innerhalb des Buches, der auf interessante Weise bildlich inszeniert wird, ist z.B. Axels vermisstes Taschenmesser. Diesem begegnet man zunächst auf der Impressumsseite, dann sieht man es auf einem Bild, auf dem Bosse in Australien unter dem Schreibtisch seines Vaters zu sehen ist. Vielleicht hat er es mitgenommen? Oder stellt sich das Axel bloß so vor? Viele Dinge bleiben in der Schwebe und bieten sich so für literarische Gespräche an.
Fazit
Dinge, die verschwinden wurde im Juli 2024 mit dem LUCHS der ZEIT und Radio Bremen ausgezeichnet und auch vom Deutschlandfunk bereits unter die besten sieben Bücher gewählt. Aakeson und Hole legen ein ästhetisch anspruchsvolles Bilderbuch vor, das sich an ältere Kinder ab etwa sechs Jahren richtet und ihnen Worte und Bilder für etwas zur Verfügung stellt, das jeder von uns schon erlebt hat: Das Vermissen eines wichtigen Menschen, Trauer, Einsamkeit und eine langsame Bewältigung.
- Name: Kim Fupz Aakeson
- Name: Ina Kronenberger
- Name: Stian Hole
