Inhalt

In dem Comic schildert Reinhard Kleist die fast vergessene Geschichte von Hertzko Haft und deckt gleichzeitig eine kaum bekannte Praktik der Konzentrationslager auf: bestialische Boxkämpfe um Leben und Tod, die die Kommandanten zum Vergnügen ausrichteten. Gerahmt wird die Binnenhandlung (die sich wiederum aufspaltet in die Zeit der Nationalsozialisten und Hafts Immigration in die USA nach dem Krieg) von einem weiteren Erzähler: Hafts Sohn Alan, der Einblick gibt in das Leben mit einem traumatisierten Vater.

Hertzko Haft wird mit 14 Jahren von dem beginnenden Krieg aus seiner Jugend gerissen, muss seine große Liebe Leah und die Familie zurücklassen und sich zunächst in verschiedenen Arbeitslagern durchkämpfen, bis er schließlich nach Auschwitz deportiert wird. Immer wieder gelingt es Haft, unter widrigsten Umständen mit viel Glück, Geschick und Anpassungsvermögen zu überleben. Er wird schließlich von einem Lagerleiter entdeckt und in Boxtechniken eingewiesen. Kurze Zeit später absolviert Haft seinen ersten Kampf und gewinnt. Nicht lange und er wird zum Liebling der Lagerkommandanten, denn "das jüdische Biest" verspricht regelmäßig spannende Boxkämpfe. Um seine Gegner kann Hertzko sich zunächst keine Gedanken machen, aber im Laufe der Zeit wird ihm immer bewusster, dass er durch seinen Sieg ihre Todesurteile unterzeichnet.

Auch nach der Auswanderung in die USA bleibt der Boxsport ein zentraler Bestandteil seines Lebens, er bestreitet einige Profikämpfe und kann sogar gegen den amtierenden Weltmeister antreten. Die Hoffnung, durch seine relative Bekanntheit als Boxer seine geliebte Leah wieder zu finden, lässt Hertzko am Boxen festhalten. Als er jedoch in dem alles entscheidenden Kampf scheitert, hängt er ernüchtert seine Karriere an den Nagel und macht sich keine Illusionen mehr, Leah zu finden. So heiratet er eine andere Frau, eröffnet einen kleinen Gemüseladen und bekommt einen Sohn.

Kritik

Dass der Comic als eigenständiges, narratives Medium vom Holocaust erzählen kann und darf, ist spätestens seit Art Spiegelmans Maus (1991) unstrittig. Kleist gelingt dies auf eindringliche und beeindruckende Art und Weise. Sehr sensibel arbeitet er die Lebensgeschichte von Hertzko Haft auf und findet Bilder für die unsäglichen Leiden und Erlebnisse des Krieges und der Konzentrationslager. Die Dehumanisierung wird plastisch und bedrückend eingefangen und mutet dem Leser einiges zu. Er zeigt dabei kein idealisiertes Opfer, sondern zeichnet seinen Protagonisten durchaus als schwierigen und unsympathischen Menschen, der deutliche Ambivalenzen zeigen darf.

Die Konstruktion von Identität entsteht dabei sichtbar bruchstückhaft und bildet sich in der sequentiellen Erzählweise des Comics ab. Die formalen Mittel des Mediums ermöglichen eine vielschichtige und eindrucksvolle Darstellung der Lebensgeschichte, die sich in einem Wechselspiel von Perspektiven und Fokalisierung und sich durchdringenden Zeitebenen manifestiert. Immer wieder brechen dabei die Erinnerungsbilder des Protagonisten in seine Gegenwart ein, erzeugen Bilder, die sich überlagern und führen vor, wie lebensbegleitend solch traumatischen Erlebnisse sind. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld ist beständiger Begleiter in Hafts Leben:  Insbesondere die Erfahrungen, die Haft als Arbeiter an den Verbrennungsöfen in Auschwitz macht, überlagern immer wieder seine Gegenwart in Form von Träumen, Halluzinationen oder Flashbacks, die unfreiwillig und zwanghaft reproduziert werden.

Das Zusammenwirken von Bild und Text eröffnet dafür dualistische Darstellungskanäle und kann beispielsweise auch innerhalb eines Panels verschiedene Zeitebenen konstruieren: Die Dialoge, die die erzählte Gegenwart und Figurenrede aufgreifen (unterstützt durch das gezeichnete Bild), während die Texte in den Blockkästen den Ich-Erzähler in einer rückblickenden Sicht zu Wort kommen lassen. Mit eindrucksvollem Pinselstrich und Farbduktus setzt Kleist dazu die Bilder in schwarz-weiß Zeichnungen um.

Die wohl eindringlichste Episode schildert ebenjene Erlebnisse als Arbeiter an den Verbrennungsöfen in Auschwitz: Die absolute Verzweiflung und der seelische Schmerz zeigen sich in seinen Gesichtszügen, die grotesk verzerrt werden und seine Sprachlosigkeit unterstreichen. Die Gefühle und Empfindungen Hertzkos spiegeln sich in den expressiven Zeichnungen, bildlich wird dies in völlig zerfetzen Fragmenten und aufgelösten Formen gezeigt: In den schrecklichsten Momenten der Erzählung bedecken dann nur noch zerberstende Schwarzflächen, die lediglich partiell gegenständlich zu deuten sind, die Seiten. Konkrete Linien lösen sich auf und ein grober und roher Zeichenstrich brennt holzschnittartig den Schrecken und das Grauen auf das Papier. Bemerkenswerterweise erzählt diese Sequenz darüber hinaus fast ohne Text, sondern belässt allein die Bilder als Narrativ.

Der Untertitel von Kleists Adaption – Die wahre Geschichte des Hertzko Haft – verweist auf den biographischen Status und Wahrheitsanspruch des Berichts. Als realhistorische Referenzebene fungiert ein zusätzlicher Anhang von Martin Krauß, der Einblicke in die Sportpraktiken und vergessenen Schicksale der Konzentrationslager gibt. In Zuge dessen wurde der Comic 2013 auch mit dem Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch ausgezeichnet.

Fazit

Reinhard Kleist hat eine komplexe und berührende graphische Erzählung geschaffen, die die Leiden und Nachwirkungen durch die Konzentrationslager darstellen kann und dies auf eindrucksvolle Art und Weise ungeschönt tut. Es gibt de facto kaum bis gar kein historisches Bildmaterial aus den Lagern. Kleist löst dies geschickt, indem er dafür auch keine konkreten Bilder anbietet, sondern die schrecklichsten Szenen in fiebrige Fetzen auflöst und eine alptraumhafte Szenerie erschafft. Daher ist dieser Comic auch erst für jugendliche Leser ab 16 Jahren geeignet.

Titel: Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft
Autor/-in:
  • Name: Kleist, Reinhard
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2012
Verlag: Carlsen
ISBN-13: 978-3551786975
Seitenzahl: 176
Preis: 16,90 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Kleist, Reinhard: Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft