Inhalt

Um eine konkrete Idee von der Geschichte Papierklavier zu bekommen, reicht bereits ein Blick auf das Vorsatzblatt des von Elisabeth Steinkellner verfassten und im Jahr 2020 erstmals veröffentlichten Romans. Auf jener Doppelseite sind viele sich überlappende blau- und türkisfarbige Zeichnungen, die von Anna Gusella stammen, zu sehen; zum Beispiel: ein Vogel, eine Vulva, eine Treppe, mehrere Stifte, eine Glühbirne, ein Tiger, ein Peace-Zeichen und verschiedene Menschen. Außerdem sind zwischen den Skizzen die Buchstaben a, i, M, A zu lesen. Maia ist der Name der 16-jährigen Hauptfigur des 142-seitigen Werks, dass mit den Worten „Liebes Tagebuch[,] Liebes Skizzenbuch“ (S. 6) beginnt. Nachfolgend berichtet Maia in Form von kurzen Texten und großflächigen Zeichnungen über verschiedene Erlebnisse, Gedanken und Emotionen aus ihrem Alltagsleben. Das Heft in das die junge Frau ihre Notizen schreibt, war ein Geschenk ihrer klavierbesitzenden Nachbarin und Ersatzoma Sieglinde. Leider ist die „reich[e]“ (S. 32) Dame kürzlich verstorben. Doch sie hat Maia und ihrer Familie ein besonderes Erbe hinterlassen. Bis sich klärt, worin der Nachlass besteht, benötigen zunächst andere Fragen Maias volle Aufmerksamkeit: Was kann man sich von drei Euro Essensgeld kaufen? Was ist für mich Glück? Und wird es ein Wiedersehen mit dem Dschungeltier-Typen aus dem Saftladen geben?

Analyse und Kritik

Gerade aus dem Sport wissen wir: Ein Sieg ist erst sicher, wenn die (Nach-)Spielzeit vorbei ist. Für Elisabeth Steinkellner und ihr Werk Papierklavier gab es im letzten Jahr ein Nachspiel der besonderen Art: Nachdem eine fachkundige Jury ihren Jugendroman als Preisträger für den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2021 ausgewählt hatte, nutzte der Ständige Rat der Deutschen Bischofskonferenz sein Veto-Recht und verhinderte die Preisverleihung. Durch diese Entscheidung rückte das Werk erst recht ins öffentliche Rampenlicht, da verschiedene Medien über den Fall berichteten. Außerdem verfassten 222 Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen offenen Brief an die Deutsche Bischofskonferenz. [1]

In einer im Mai veröffentlichten Stellungnahme der Institution hieß es: „[B]ei den Bischöfen [hat die Auffassung] überwogen, dass das Buch nicht hinreichend den Kriterien des Preises entspricht. Weder das Thema Transgender noch die Autorin […] waren hierfür entscheidend“ [2]. Erst ein Blick in das Statut des Literaturpreises gibt Aufschluss über die von dem Jugendroman scheinbar nicht zu erfüllenden Kriterien: „Die ausgezeichneten Werke sollen das Zusammenleben von Gemeinschaften, Religionen und Kulturen fördern. Dabei muss die transzendente und damit religiöse Dimension erkennbar sein“ [3].

Unbestreitbar ist, dass der Leser oder die Leserin in Papierklavier Maias Handeln und Denken in verschiedenen Gemeinschaften wie denen der Familie, des Freundeskreises und der Schulklasse kennenlernt. Hierbei ist besonders bemerkenswert, dass die einzelnen Individuen der verschiedenen Gruppierungen keinen tradierten sozialen Rollenmustern unterliegen. Stattdessen ist die Inszenierung der Mädchen- und Frauenfiguren überwiegend vielfältig angelegt: Maias Körper entspricht keinem Schlankheitsideal und ihre Freundin Carla heißt laut Geburtsurkunde Engelbert Krahvogel. Diese und weitere Kennzeichen von Diversität flechtet Steinkellner gekonnt beiläufig in ihre Geschichte ein.

Für den leichten Lesefluss des Werks trägt entschieden die enge Kombination von Bild- und Schrifttext bei: Jede Buchseite des Werks besteht aus Skizzen sowie kurzen Textpassagen, die in einer Handschrift ähnlichen Schriftart abgedruckt sind. Durch dieses Layout wirkt die Geschichte sehr lebendig. Manchmal mag man fast glauben, das aufgeklappte Buch spricht zum Lesenden. Dieser Eindruck entsteht insbesondere dann, wenn Wörter, Sätze oder Skizzen nahezu flächendeckend auf dem Papier dargestellt sind. Ferner fungieren die Zeichnungen auf den ersten Blick vor allem als bestätigende Verbildlichung des Textinhalts. Bei genauerer Betrachtung der Illustrationen lassen sich jedoch vielfach auch über den Text hinausgehende Botschaften und Doppeldeutigkeiten entdecken.

Ein ebenso wachsames Auge bedarf die Wahrnehmung von Religiosität innerhalb der Geschichte. Neben der offensiven Thematisierung der menschlichen Vergänglichkeit, lassen sich, je nach Blickwinkel, noch weitere christliche Bezugspunkte finden, die jedoch jede Rezipientin und jeder Rezipient bei Belieben für sich selbst entdecken kann.

Fazit

„Es ist alles andere als / perfekt hier. Aber eindeutig / ziemlich schön“ (S. 139). Mit diesem Erkenntnisgewinn enden Maias Tage- bzw. Skizzenbucheinträge. Letztlich stellt Steinkellners Jugendroman eine wunderbare Ermutigung dar, ungehemmt die eigenen Interessen auszuleben, Alltagsschwierigkeiten kraftvoll zu bewältigen und Diversität respektvoll anzunehmen. Im Hinblick auf im Roman verhandelten Lebenserfahrungen ist das Werk für jeden Menschen ab dem Teenageralter geeignet.

Fußnoten

[1] Hildebrand, Kathleen: Protest gegen Preis-Absage, online unter:  https://www.sueddeutsche.de/kultur/katholischer-kinder-und-jugendbuchpreis-protest-papierklavier-1.5297681, 2021, letzter Zugriff: 06.02.2022.

[2] Deutsche Bischofskonferenz: Aktuelle Meldung Nr. 010, online unter: https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/katholischer-kinder-und-jugendbuchpreis-der-deutschen-bischofskonferenz-1, 2021, letzter Zugriff: 06.02.2022.

[3] Deutsche Bischofskonferenz: Statut des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises, online unter: https://www.dbk.de/themen/auszeichnungen-der-deutschen-bischofskonferenz/katholischer-kinder-und-jugendbuchpreis/statut, 2021, letzter Zugriff: 06.02.2022.

Titel: Papierklavier
Autor/-in:
  • Name: Elisabeth, Steinkellner
Illustrator/-in:
  • Name: Anna, Gusella
Erscheinungsort: Weinheim
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Beltz & Gelberg
ISBN-13: 978-3-407-75579-7
Seitenzahl: 142
Preis: 14,95€
Altersempfehlung Redaktion: 15 Jahre
Steinkellner, Elisabeth: Papierklavier