Inhalt

Ein Junge wird am Waldrand entdeckt – ein "Kaspar Hauser des Digitalzeitalters" (Pfalzgraf, SWR 2, 2020): Niemand weiß, wer er ist und wo er herkommt. Nachdem er verschiedene Pflegefamilien und Tests von Kinderpsychologen durchlaufen hat, kommt er in eine Jugendpsychiatrie. Dort findet er Freunde, oder sind es doch eher Jünger? Diese, seine namenlosen Anhänger, sind es, die in einer Art Evangelium seine Geschichte erzählen. Zunächst einmal will der Junge die Anstalt verlassen: "Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft beschloss er zu verschwinden. Wir halfen ihm dabei." (alle Zitate ohne Seitenangaben) Er versteckt sich im Wald, von wo aus er, mit Hilfe von Solarzellen und technischen Geräten unter dem Namen Earthboi (@realearthboi) eine steile Internetkarriere startet: "Er postete oder streamte live, von wo immer er war" und wird schon bald zu einem weltweit bekannten, sagenumwobenen Influencer, dessen Aufenthaltsort niemand kennt. Er berichtet aus seinem Leben in der Natur und warnt vor einem "nie dagewesenen, menschengemachten Massensterben", ausgelöst durch den Klimawandel und Umweltverschmutzung. Earthboi wird erwachsen und tritt in eine neue Phase ein: Er verlässt den Wald und lebt in der Großstadt. Dort lässt er sich "Namen und Konterfeis ausgerotteter Tiere auf der Haut verewigen" und lebt "das Leben eines Rockstars", mit allem was dazugehört: Sex, Drugs & Rock ’n Roll, um so "den Menschen zu verstehen" zu lernen. Er erkennt, dass es "zuallererst einen nachhaltig zufriedenen und ausgeglichenen Menschen brauchte […] der begriff, dass er schon alles hatte". Um diese Vision zu verwirklichen entwickelt er zusammen mit seiner Freundin Yu, die ebenfalls eine berühmte Influencerin ist, was die beiden zu einem virtuellen Traumpaar werden lässt, eine App, die "am ehesten mit einer Meditations-App vergleichbar" ist: "Man benutzte sie einmal täglich für zehn bis zwanzig Minuten oder solange man eben wollte. Die geheime Zutat war Earthboi. Seine Worte entfalteten sich im Inneren, ohne dass man sich dabei ständig bewusst war, dass man die App überhaupt benutzte." Earthboi und Yu starten ein weiteres Projekt: Sie erwerben ein Haus, das halb zum Protestcamp, halb zur Influencer-Kommune wird: Sie rufen die "Youtuber und Stars, von denen sie wussten, dass sie kommen würden. Earthboi war nicht stolz darauf, aber ihre Accounts ermöglichten eine enorme Reichweite. Sie waren essenziell für unser Vorhaben." Ein Vorhaben mit tödlichem Ausgang.

Kritik

Nach Erscheinen im Juni 2020 erhielt Unfollow fast durchgängig überschwängliche Kritiken in Presse und Rundfunk, wobei auffällig ist, dass viele der Rezensenten sich an der Figur Earthboi abarbeiteten. Der Schriftsteller Timur Vermes bezeichnet ihn in seiner Besprechung der Graphic Novel im Spiegel als "Öko-Influencer" (2020), während Klaus Humanns Rezension in der Zeit mit "Der Öko-Messias und seine brutalen Jünger" überschrieben ist (2020). Einzig Stefan Mesch, der Unfollow in einem Blogeintrag und einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur besprochen hat, wird etwas polemischer. Er schreibt über Earthboi: "Earthboi selbst ist keine Person, sondern Beobachter und Projektionsfläche – die hipstergewordene Natur." Er zieht den naheliegenden Vergleich zwischen Earthboi und seinen Anhängern und Greta Thunberg und der 'Fridays for Future'-Bewegung, wobei er zu einem eher ernüchternden Ergebnis kommt:

Und während all der Zeit, als Greta Thunberg viel komplexere globale Dialoge, Politik lostrat, saß Jüliger leider schon an finalen Zeichnungen: „Unfollow“ nahm Öko-Netz-Jugend-Bewegungen zwar vorweg. Doch leider, bei aller gewollten Trendiness: viel flacher, leerer, gestriger. Ein grantiger Comic – stilvoll, aber witzlos. (ebd.)

Der Greta-Vergleich wird auch von Katja Engelhardt im Bayrischen Rundfunk gezogen: "Sieht aus wie ein Rapstar, denkt wie Greta Thunberg". Earthboi vereint in sich offensichtlich primär die drei oben genannten Aspekte: Er ist Influencer, eine Art Messias- oder Sektenführer-Figur – in einer Besprechung fällt der Bezug zur Jim Jones und der Peoples Temple-Sekte (Beintker, 2020), wobei der Vergleich zur Ōmu Shinrikyō/Aum-Sekte, die 1995 den Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn verübten, noch naheliegender ist – und Anführer einer Umweltbewegung bzw. sogar eine Verkörperung der Natur selbst. Freilich liegt hier die Intention des Autors und Zeichners Jüliger, der dies im Bayrischen Rundfunk folgendermaßen beschreibt:

Ganz ursprünglich war der Gedanke, wie sähe das aus, wenn die Natur sich wehren könnte und ausdrücken könnte durch ein Gefäß, das kommunizieren kann. Daraus wurde dann am Ende die Hauptfigur, die fleischgewordene Natur. Die ganzen anderen Dinge – Social Media – das kam ganz natürlich dazu. Denn natürlich würde diese Person das Ganze über soziale Medien machen, weil das der direkte Draht zu den Menschen ist. (Ebd.)

Im selben Beitrag bezeichnet Jüliger Earthboi als "Mythos" und die Erzählung seiner Geschichte durch seine Jünger als "Irgendetwas zwischen Evangelium und Rockstar-Biographie" (ebd.), während er im SWR von "Followern oder Jüngern dieser messianischen Figur" spricht, die eine "mystifizierende Erzählung" spinnen (Pfalzgraf, SWR 2, 2020). Insofern kann die von Stefan Mensch festgestellte Eindimensionalität Earthbois als bewusst intendiert verstanden werden. Vielleicht ist Earthboi wirklich eine bloße Projektionsfläche – die Projektionsfläche seiner namenlosen Anhänger, den Erzählfiguren, die zwar bildlich nicht in Erscheinung treten jedoch die eigentlichen Hauptfiguren der Handlung darstellen, indem sie seine Geschichte bzw. ihre Version seiner Geschichte erzählen und zum Werkzeug seiner Mordpläne werden. Somit lässt sich Unfollow als Reflexion über das Verhältnis der heutigen Menschen zur Natur verstehen: Der Sehnsucht nach ursprünglicher, natürlicher Idylle, bei gleichzeitigen Bewältigungsversuchen des unbewussten schlechten Gewissens angesichts der selbstverursachten Umweltzerstörung. Dieser Aspekt spiegelt sich auch im Titel selbst wider: Indem Earthboi schließlich seine Follower, das heißt die User der von ihm entwickelten App tötet bzw. in den Selbstmord treibt, ist es die Natur, die den Menschen die Gefolgschaft aufkündigt, sozusagen den 'Unfollow-Button' drückt, was zu einer makabreren Verwirklichung der Phrase 'Die Natur erholt sich' führt.   

Dieses Motiv der Verbindung Mensch-Technik-Natur steht in direkten Zusammenhang zu weiteren narratologischen und paratextuellen Motiven, die sich durch Jüligers bisheriges Graphic Novel-Gesamtwerk ziehen: Felix Giesas Feststellung, es gäbe eine generelle "Schwierigkeit, Comics als genuine narrative Erzählform zu begreifen", was "konsequenterweise darin begründet ist, dass ihr nicht zwangsweise eine Erzählinstanz inhärent ist" (2015, 24f.), trifft auf Jüligers homodiegetische Erzählfiguren nicht zu. Diese werden in keinem seiner Graphic Novels mit Namen genannt. Bemerkenswert ist auch, dass die Erzählfigur in Jüligers Erstling Vakuum (2013, Reprodukt) noch bildlich in Erscheinung tritt, was aber in Berenice, Jüligers Adaption und Modernisierung der gleichnamigen Geschichte von Edgar Allan Poe (2018, im Rahmen der Reihe Die Unheimlichen des Carlsen-Verlags) bereits deutlich reduziert ist. Hier ist die Erzählfigur meist nur in Ausschnitten bzw. Details zu sehen. Nur auf dem Titelbild, das dem Bild auf Seite 8 entspricht und eine Rückblende des Erzählers in seine Kindheit zeigt, ist er gänzlich abgebildet. In Unfollow wurde, wie oben bereits festgestellt, dann ganz auf die Abbildung der Erzählfiguren verzichtet.     

Die Erzählfiguren, die immer auch Protagonisten sind, befinden sich in ihrer Coming-of-Age-Entwicklungsphase und haben ein für sie nicht fassbaren und begreifbaren Beobachtungs- und Begierdeobjekt, von dem sie abhängig sind. So verliebt sich der Ich-Erzähler in Vakuum in eine namenlose Mitschülerin, die immer wieder an einen geheimen Ort verschwindet. Diese Motive, Coming-of-Age und die Bewunderung einer rätselhaften Person, werden in Unfollow und Berenice, sozusagen digitalisiert, wodurch das Motiv einer digitalen Adoleszenz entsteht: Die Anhänger Earthbois stehen in einem ähnlichen digitalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, wie der namenlose Erzähler zum Webcamgirl Hatsune Miku in Berenice, die ebenso Projektionsfläche für den Erzähler du ihre anderen Zuschauer ist, wie Earthboi für seine Jünger. Und wie Earthboi kündigt sie durch Selbstmord ihren Followern die Gefolgschaft. Selbstmord ist auch schon in Vakuum ein entscheidendes Motiv.  

In den drei Graphic Novels ist zudem eine gewisse apokalyptische Suspense, das Gefühl nahenden Unheils spürbar, Adoleszenz und Apokalypse scheinen in Zusammenhang zu stehen. Dieses Gefühl wird durch den sparsamen Farbeinsatz noch verstärkt: In Vakuum dominieren Braun-Grau-Kolorierungen, Berenice ist gänzlich Dunkelgrün und Schwarz gehalten und in Vakuum werden ausschließlich Variationen der Farben Blau und Rot eingesetzt, was, so O-Ton Jüliger im Bayrischen Rundfunk, dazu beitragen soll, dass "etwas Verheißungsvolles, Bedrohliches, was über der ganzen Erzählung wabert", wie bei der Morgen- oder Abenddämmerung. Außerdem ist die Wahl des Zeichengeräts ungewöhnlich: "Als Comic-Leser ist man eher Tinte gewohnt. Ich nehme einen Bleistift, Härtegrad B", so Jüliger 2013 im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Zwar verwendet Jüliger in Vakuum noch Sprechblasen, aber auch hier ist der Erzähltext deutlich präsent. In Berenice und Unfollow wird schließlich gänzlich auf Sprechblasen verzichtet und nur noch mit Erzähltext in Blöcken gearbeitet. Außerdem gibt es in beiden Comic-Romanen so gut wie keinen Einsatz wörtlicher Rede.

Fazit

Unfollow ist vieles gleichzeitig: Eine Dystopie als Warnung vor der menschengemachten Apokalypse durch den Klimawandel, eine Erzählung über religiösen Fanatismus und Erlösungsfantasien, eine Coming-of-Age Geschichte und eine Satire auf den Starkult um Social Media-Persönlichkeiten. Und, das muss auf ästhetischer Ebene festgestellt werden: Einfach wunderschön, sozusagen Instagram-tauglich oder um es mit Stefan Mesch, dem härtesten Kritiker der Graphic Novel zu sagen: "stilvoll". Das vom Verlag vorgeschlagene Lesealter ab 14 Jahren sollte angesichts der Darstellungen von Sex und Gewalt allerdings überdacht werden. Für an 'Fridays for Future' und Umweltthemen interessierte Jugendliche ab 16 Jahren ist Unfollow aber uneingeschränkt empfehlenswert.

Literatur

Beintker, Niels: "Unfollow": Lukas Jüligers Comic über Klimawandel und Gewalt, Radiofeature  im BR 2, 28.06.2020. (URL: https://www.br.de/nachrichten/kultur/unfollow-lukas-jueligers-comic-ueber-klimawandel-und-gewalt,S32NKcM).

Engelhardt, Katja: Sieht aus wie ein Rapstar, denkt wie Greta Thunberg. (URL: https://www.br.de/kultur/comic-unfollow-lukas-jueliger-100.html).

Giesa, Felix: Graphisches Erzählen von Adoleszenz: Deutschsprachige Autorencomics nach 2000. Frankfurt a.M., u.a.: Peter Lang, 2015 (= Ewers, Hans-Heino u.a.: Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, Bd. 97).  

Humann, Klaus. „Der Öko-Messias und seine brutalen Jünger“. Zeit Online, 3. September 2020. https://www.zeit.de/2020/37/unfollow-buch-lukas-jueliger/komplettansicht (29. November 2020).

Pfalzgraf, Markus. „‚Unfollow‘: Graphic Novel von Lukas Jüliger über mysteriösen Öko-Aktivisten“. Radio-Feature, SWR2, 18. Juni 2020. https://www.swr.de/swr2/literatur/radikaler-oeko-aktivismus-in-lukas-jueligers-unfollow-100.html (29. November 2021).

Sinning, Jan: Popliteratur-Comics. Adoleszenz, Apokalypse und digitale Ästhetik in Lukas Jüligers Graphic Novels. In: Popliteratur 3.0. Soziale Medien und Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Stephanie Catani u. Christoph Kleinschmidt. Berlin/Boston: De Gruyter, 2024. S. 149–168. https://doi.org/10.1515/9783110795424-011 

Vermes, Timur. „Ein Erdbub als Öko-Influencer“. Der Spiegel (Online), 11. Juni 2020. https://www.spiegel.de/kultur/literatur/unfollow-von-lukas-jueliger-graphic-novel-ueber-einen-oeko-influencera-87e043f9-c19d-4b25-baaf-420aa48d25a5 (29. November 2021).

Titel: Unfollow
Autor/-in:
  • Name: Jüliger, Lukas
Originaltitel: Unfollow
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Reprodukt
ISBN-13: 978-3-95640-217-3
Seitenzahl: circa 160 ungezählte Seiten
Preis: 18 Euro
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Jüliger, Lukas: Unfollow