Inhalt

Die namenlose Protagonistin der Graphic Novel wächst im westdeutschen Arbeiter:innenmilieu der 1980er- und 1990er-Jahre auf. Ihre Familie ist seit Generationen von harter körperlicher Arbeit und der Angst, erwerbslos zu werden, bestimmt: Die Großmutter führte ein bäuerliches Leben, hat nie das Meer gesehen, die Eltern schuften nicht nur in Fabriken, sondern auch zu Hause am Traum vom eigenen Häuschen. Und auch die Hauptfigur muss früh als Zeitungsausträgerin, in der Imbissbude des Schwimmbads, am Fließband oder als Kellnerin jobben. Denn trotz vieler und mühseliger Arbeit bleibt nur das Nötigste zum Leben. Ihre freie Zeit verbringen die Eltern vor dem Fernseher und in der Kneipe, sie rauchen und kümmern sich kaum um ihre Kinder. Kulturelle Interessen sind nicht vorhanden, niemand aus der Familie besuchte vor der Hauptfigur das Gymnasium. So wächst die Jugendliche in ärmlichen und bildungsfernen Verhältnissen auf. Daher muss sie sich das Taschengeld selbst verdienen, um dem Alltag, in dem Urlaube und nicht mal der Besuch des Freibads im heißen Sommer drin sind und in dem die Mutter Eis selbst herstellt, um Geld zu sparen, wenigstens etwas abzuringen. Auch in ihrer Peer Group spürt sie die Effekte ihrer Herkunft: Sie wird für ihre billige Kleidung herablassend behandelt, gar gemobbt, für ihre Jobs belächelt, erfährt Ausgrenzung und Diskriminierung. Gleichaltrige beschimpfen sie als "Schmuddelkuh" und "Assitussi" (S. 149).

Trotz dieser Widrigkeiten entwickelt sie ein Interesse für künstlerische Tätigkeiten. Aus den prekären Lebensverhältnissen emanzipiert sich die Protagonistin, indem sie ein Studium der Illustration aufnimmt – die Parallelen zur Biografie der Autorin Müller sind offenkundig, sodass die Graphic Novel als autofiktionale Erzählung klassifiziert werden kann. Entgegen der Biographien ihrer Vorfahr:innen arrangiert sich die Hauptfigur nicht mit den "unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen" (S. 196) ihrer Herkunft. Doch die Kämpfe bleiben, der soziale Aufstieg in eine andere Klasse ist kein geradliniger mit 'Happy End'-Stimmung. Die Hauptfigur fühlt sich innerlich zerrissen: fremd im neuen Milieu der Akademiker:innen und gleichzeitig zunehmend entfremdet von der eigenen Herkunft. Es wird deutlich, dass Herkunft und Klasse nicht einfach abgestreift werden können.

Begleitet wird die Hauptfigur stets von einer imaginären Schlange – mal eher subtil, in anderen Panels ist sie das dominierende Element. Sie tritt erstmals auf, als die Protagonistin von Gleichaltrigen wegen ihres Ferienjobs abgewertet wird. Die Schlange symbolisiert die Scham, aus dem Prekariat zu stammen, steht für die empfundenen Selbstzweifel. Doch auch mit dem Klassenwechsel gehört sie weiterhin zum Innenleben der Hauptfigur: Sie erinnert sie stets an ihre Herkunft und symbolisiert die Angst, dieser nicht entfliehen zu können und zu versagen. Mit der Schlange gelingt es Müller, den inneren Konflikt der Protagonistin zu visualisieren.

Die Graphic Novel wird homodiegetisch und intern fokalisiert, also 'von innen heraus' erzählt, was eine Nähe zum Erzählten sowie zur Protagonistin zu unterstützen vermag. Die Comicbilder sind in Schwarz-Weiß im realistischen Stil gezeichnet. Allenfalls, wenn Müller Gesichtsausdrücke verdeutlicht, finden sich leichte Überzeichnungen.

Abb. 1: Müller: Scheiblettenkind. Berlin: Suhrkamp, 2022. S. 252.

Damit wirkt der Stil konkret und direkt. Die scharfen, expressiven Bleistiftzeichnungen haben klare Konturen, setzen Schattierungen und detailreiche Ausgestaltungen ein, sodass nüchterne, aber zugleich gründlich ausgearbeitete Darstellungen entstehen. So werden in den Panels der Beispielseite (Abb. 1) die Materialbeschaffenheit einzelner Deko-Objekte, die Holzmaserungen der Schrankwand sowie der Sitzbank und auch die Haarstrukturen der Figuren mittels vieler feiner Bleistiftlinien geradezu greifbar. Die Lebensrealität der Protagonistin wird auf diese Weise ehrlich, regelrecht dokumentarisch visualisiert. Auch die Bildkomposition ist auf dieses Ziel ausgerichtet: Der in der Mitte positionierte Fernseher und die Ausrichtung der Figuren auf diesen verdeutlichen, dass Fernsehschauen statt Kulturveranstaltungen das Familienleben prägt.

Die Panelanordnungen sind variantenreich. In einem Wechselspiel werden in kleineren Panels Details ausgestellt, in größeren bis zu seitenumspannenden Einzelbildern werden Situationen, aber auch Atmosphären vermittelt. Dabei trägt die Wahl des Seitenlayouts stets zur erzählerischen Intention bei. Der Einsatz repetierender, nur minimal veränderter Bilder bspw. macht eindrucksvoll Monotonie spürbar (z.B. bei der Darstellung des Fabrikjobs, S. 202f.).

Kritik

Eva Müller legt mit Scheiblettenkind ein äußerst breit gefächertes und zugleich differenziertes Bild von Armut vor (vgl. Granzow & Koevel 2025). Sie verengt das Phänomen nicht auf den ökonomischen Aspekt (beschränkte finanzielle Mittel und damit einhergehende Kompensationsbemühungen), sondern weitet die Perspektive. So wird auch kulturelle Armut porträtiert, indem die Alltagsgewohnheiten der Familienmitglieder wie ihre Freizeitaktivitäten und Interessen, fehlende Bücher oder ihre Essgewohnheiten dargestellt werden. Auch der soziale Aspekt prekärer Lebensverhältnisse wird verhandelt: Die Protagonistin erfährt Ausgrenzungen, wird von Gleichaltrigen aus sozioökonomisch besser gestellten Haushalten stigmatisiert und auch die Eltern haben wenige Kontakte und bleiben eher 'unter sich'. Müller adressiert hier explizit die Frage nach gesellschaftlicher Teilhabe. Mit dieser Weitung ermöglicht die Comiczeichnerin eine Perspektive auf Armut, die sich nicht auf gängige Vorstellungen beschränkt. In dem erzählten Prekariat greift Müller zwar durchaus auf gesellschaftlich geteilte Narrative zurück: Arme Menschen wie die in Scheiblettenkind dargestellten schauten viel fern, seien nur am Tresen in der Kneipe, kümmerten sich nicht um ihre Kinder, hätten kein Verständnis von Kunst oder anderen kulturellen Tätigkeiten und einen Hang zur Gewalttätigkeit. Hier wird das Bild der bildungsfernen, unkultivierten Armen aufgerufen. Auch wird Armut individualisiert. Doch Müller bricht derartige Vorstellungen gleichzeitig auf. Denn die porträtierte Familie ist arm, obwohl ihre Mitglieder ihr Leben lang – zum Teil sogar in mehreren Jobs gleichzeitig – hart arbeiten – sie gehören zu den sogenannten Working Poor. Damit dekonstruiert die Comiczeichnerin das Narrativ von den 'faulen Armen'. Der Comic ermöglicht, dass Rezipierende ihre Deutungsmuster von Armut reflektieren und bestehende Zuschreibungen, die in der Gesellschaft vorherrschen, hinterfragen. 

müller scheiblettenkind abb2Abb. 2: Müller: Scheiblettenkind. Berlin: Suhrkamp, 2022. S. 262.

Diese Comicseite bspw. regt dazu an, das verbreitete Stereotyp der 'unkultivierten Armen' zu überprüfen. Von Armut Betroffene – hier die Oma bzw. der Vater – können, obwohl ihnen wenige Ressourcen zur Verfügung stehen, Interesse an Kunst und Kultur entwickeln und künstlerisch tätig werden. Nicht persönliche Dispositionen, sondern die Umstände sind dafür verantwortlich, dass ein Interessengebiet nicht weiter verfolgt werden kann – hier die Notwendigkeit mehreren Anstellungen nachzugehen, um das Auskommen zu sichern. Darüber hinaus zeigt sich ein liebevoller Umgang zwischen Oma und Enkelin: Auch arme Menschen sind empathisch und warmherzig.

Statt von Armut Betroffene als Bemitleidenswerte darzustellen, gesteht Müller ihnen Selbstbestimmung zu: Die Protagonistin emanzipiert sich von ihren Umständen, ist widerständig und ermächtigt sich ihrer selbst. Gleichzeitig wird der vollzogene Klassenaufstieg nicht als 'Happy End' gerahmt, sondern die damit einhergehenden Schmerzen und die bleibende Unsicherheit werden detailliert ausgeleuchtet, womit die Komplexität des Phänomens ersichtlich wird. Eine weitere Stärke der Graphic Novel ist es, den Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen von Armutsbetroffenen Raum zu geben. Der Innenwelt der Protagonistin, ihren subjektiven Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung wird auf differenzierte Weise nachgespürt. Es wird nicht über sie, sondern aus ihrer Perspektive erzählt – ein 'Othering' wird konsequent vermieden.

Auf formaler Ebene imponiert, dass das Thema Ausdruck auch in gestalterischer Hinsicht erlangt. Die Comicbilder, die an Zeichnungen von Heranwachsenden erinnern, geben der retrospektiven Selbstauskunft Nachdruck. Auch die Sprache, die eine intime und suchende ist, unterstützt den Eindruck einer Selbstbeschreibung und -suche. Dass Müller den 'einfachen' Bleistift statt teurer Ölfarben oder dergleichen als Arbeitswerkzeug nutzt, erzählt von Bescheidenheit und (beschränktem) Zugriff auf Ressourcen (vgl. Nastold & Paul 2025, S. 55). Weiterhin scheinen die dadurch entstehenden Schwarz-Weiß-Kontraste die (empfundenen) Differenzen, aber auch die Kargheit des Alltags zu spiegeln.

Fazit

Mit den oben beschriebenen erzählerischen Verfahren gelingt es der Comiczeichnerin eindrücklich, das vermeintlich persönliche Erleben von Herkunft, Diskriminierung und Aufstiegsgeschichte mit systemischen und strukturellen Ursachen dieser Erfahrungen zu verschränken. Unterstrichen wird das Aufmerksam-Machen auf gesellschaftliche Strukturen, indem die Kapitel der graphischen Erzählung mit Auftritten von Karl Marx enden: Die Figur des Gesellschaftstheoretikers wird in moderne Situationen wie bspw. die des Café-Besuchs geholt, und diese Darstellungen werden mit Original-Zitaten aus seinem Werk unterlegt. Scheiblettenkind erweitert die Autosoziobiographien von Eribon, Ernaux und Co. (vgl. Blome et al. 2022) um eine bildlich-räumliche Ebene und ist äußerst empfehlenswert (ab 16 Jahren).

Literatur

Blome, Eva; Philipp Lammers; Sarah Seidel (Hrsg.) (2022): Autosoziobiographie. Poetik und Politik. Berlin: J.B. Metzler.

Granzow, Stefanie & Koevel, Arne (2025): Armut im Comic. Zur Darstellung in frühen Werken und Eva Müllers Scheiblettenkind (2022). In: kjl&m 2/25, S. 45–52.

Nastold, Friederike & Paul, Barbara (2025): Alles eine Frage der Klasse?! Klassenübergänge, Geschlecht/er und Beschämung in den Graphic Novels Scheiblettenkind (2022) und Madgermanes (2016). In: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 1/25, S. 34–57.

Titel: Scheiblettenkind
Autor/-in:
  • Name: Eva Müller
Illustrator/-in:
  • Name: Eva Müller
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Suhrkamp
ISBN-13: 978-3-518-47287-3
Seitenzahl: 279
Preis: 28 Euro
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Müller, Eva: Scheiblettenkind