Inhalt und Gameplay

Zu Beginn des VR-Games Ghost Giant findet man sich als figurgewordener blauer Geist in Mitten eines Sees in einem dichten Wald wieder. Während man verblüfft die Spiegelungen der eigenen Geisterhände auf der Wasseroberfläche betrachtet, sitzt eine junge, weinende Katze am Ufer (s. Abb. 1), aus dessen Tränen man augenscheinlich erwachsen ist. Wie sich noch herausstellten wird, handelt es sich bei dem Kätzchen um den elfjährigen Protagonisten Louis. Zunächst völlig perplex, verfällt das Tier beim Anblick des überdimensional großen Geistes in Panik und sucht das Weite. Doch spätestens nachdem man Louis vor dem Ertrinken gerettet hat, begreift er die guten Absichten des blauen Riesen und man wird von ihm als neuer Wegbegleiter akzeptiert. 

Abb. 1: Louis und der Geist – die erste Begegnung. Screenshot aus Ghost Giant (2020).

Gemeinsam begibt man sich nun auf die Reise durch die kunterbunte und kindgerecht gestaltete Spielwelt rund um das kleine Städtchen Sancourt (s. Abb. 2). Hierbei trifft man auf andere ulkige Tierfiguren, die von unterschiedlichsten kleinen Problemen betroffen sind, die es mithilfe des Geistes und Louis zu lösen gilt. So hilft man beispielsweise dem Floristen Monsieur Tulipe – dessen Name sicherlich nicht zufällig zu Deutsch als Tulpe übersetzt werden kann – dabei, die verschollenen Sonnenblumensamen aus dem Hafen zu holen, oder man bringt einen Papagei wieder zum Singen, nachdem der verlorengegangene Lieblingshut wieder auf seinem Kopf landet; denn nur wenn der Papagei wieder zu singen beginnt, findet die berühmte Krimiautorin der Stadt wieder ihre Muse zum Weiterschreiben an ihrem nächsten spannenden Roman. 

Abb. 2: Das farbenfrohe Städtchen Sancourt. Screenshot aus Ghost Giant (2020).

Nach und nach eröffnen die einzelnen Szenen der Geschichte die Schwierigkeiten, mit denen Louis in seinem Leben konfrontiert ist. So ist nicht nur die Freundschaft zu seinem besten Freund Maurice leider vor Kurzem in die Brüche gegangen, sondern – viel schlimmer noch – seine Mutter leidet seit geraumer Zeit an heftigen Depressionen, die ihren Lebensalltag vollständig vereinnahmen. Doch statt sich von den zunächst ausweglosen Situationen vereinnahmen zu lassen, schöpft Louis mithilfe des Geistes neuen Lebensmut, um sich auch diesen Herausforderungen zu stellen.

Zoink Games Ghost Giant Abb 3Abb. 3: Interaktionsmöglichkeiten des Geistes. Screenshot aus Ghost Giant (2020).

Die spielende Person befindet sich stets in der Mitte der 360°-VR-Welt. Hier erlaubt es der Blickwinkel – ganz aus der Perspektive des riesigen Geistes – von oben herab auf die Spielwelt und die dazugehörigen Figuren zu schauen. Ferner kann man sich in alle Richtungen drehen und mit den Spielcontrollern mit Gegenständen und Figuren der Spielwelt interagieren. Dabei werden spielimmanente Interaktionsgegenstände, die zum Voranschreiten innerhalb der Storyline unabdingbar sind, farblich von den anderen Gegenständen und Gegebenheiten der Storyworld abgehoben – sie glänzen messingfarben (s. Abb. 3). Dies ermöglicht es auch jüngeren Spielenden, bei den beeindruckend farbenfrohen Leveln stets den Überblick über die spielrelevanten, interaktiven Möglichkeiten zu behalten.

Kritik

Das Spielmenü von Ghost Giant ist an eine Theateraufführung angelehnt. So kann man in diesem Menü, nachdem man die einzelnen Level freigespielt hat, durch die insgesamt 13 Szenen des Games klicken, bevor sich der rote Vorhang der Theaterbühne öffnet und man sich nun im tatsächlichen virtuellen Abenteuer wiederfindet. Dabei gestaltet man letztlich selbst interaktiv in der Rolle des Geistes das Bühnengeschehen mit. Die Spielwelt ist farbenfroh und kinderfreundlich gestaltet und erinnert dabei an eine aus Pappe gebastelte Landschaft, welche die spielende Person des Öfteren dazu einlädt, den Blick schweifen zu lassen und zu verweilen.

Die Geschichte hinter dem VR-Spiel wurde von der weit über die schwedischen Grenzen bekannten Schriftstellerin Sara Bergmark Elfgren geschrieben (vgl. Elfgren 2022). Gekonnt wird in diesem Werk ihr erzählerisches Geschick durch die glanzvollen Game-Design-Erfahrungen des Entwicklungsteams Zoink in Szene gesetzt und gemeinsam schaffen sie es auch, Themen, wie beispielsweise den Umgang mit Depressionen oder einer Schaffenskrise, für ein jüngeres Publikum angemessen greif- und begreifbar zu machen. 

Im Gedächtnis bleibt neben der herzergreifenden Geschichte dieses Titels aber vor allem der einzigartig komponierte Soundtrack zum Spiel. Der schwedische Sound Designer Joel Bille eröffnet den Spielenden eine musikalische Atmosphäre, die sich auf keinen Fall verstecken muss. Ganz im Gegenteil: Stimmungsvoll unterstreicht der Soundtrack die verschiedenen Spielszenen und ermöglicht es der spielenden Person in herausragender Weise, sich durch die Klänge von Flöten, Piano, Streich- und Blasinstrumenten völlig in der Spielwelt zu verlieren.

So unspektakulär in Ghost Giant die grundlegende Steuerung durch die Handcontroller auf den ersten Blick scheinen mag, umso verblüffender ist an mancher Stelle im VR-Game die Integration des Mundwerks der spielenden Person als Steuermechanismus. So muss man kurzerhand eine Gruppe Vögel, die Louis den Weg blockieren, mithilfe des realen Sprachorgans – dem Mund – von der Straße blasen, damit der Junge mit seinem Auto passieren kann. Hierbei nimmt das integrierte Mikrophon der VR-Brille die Intensität des Pustevorgangs wahr und übersetzt es in die gewollte Spielhandlung in der VR-Welt. Diese Interaktion mit der Spielwelt macht nicht nur äußerst viel Spaß, sondern eröffnet zudem neue Möglichkeiten beim Game Design, auf deren Umsetzung wir in zukünftigen Titeln wohl gespannt sein können.

Zoink Games Ghost Giant Abb 4Abb. 4: Die Schaffenskrise von Monsieur Debussy. Screenshot aus Ghost Giant (2020).

Letztlich unvergessen bleibt bei Ghost Giant die parodistische Anspielung auf den weltberühmten Komponisten Achille-Claude Debussy. So begegnet man gemeinsam mit Louis im Dorf einer Figur namens Debussy, die in einer Schaffenskrise steckt (s. Abb. 4). Völlig verzweifelt und mürrisch erbittet der Pianist bei seinem Schüler Louis Hilfe, ihm bei der Komposition seines neuesten musikalischen Magnus Opus zu unterstützen. Der Protagonist und die spielende Person helfen Debussy fortan dabei und treffen im weiteren Verlauf des Spieles in diversen Quests auf musikalische Puzzlestücke des Originalwerks Clair de Lune – der dritte Satz aus der wohl bekanntesten Klaviersuite des französischen Komponisten mit dem Titel Suite bergamasque (vgl. dazu Bruhn 2017)Folgt man der musikwissenschaftlichen Forschung, so zeigt sich, dass sich der echte Debussy bei der Komposition dieser Suite an dem Gedicht Promenade sentimentale (dt. Einsamer Gang) des französischen Lyrikers Paule Verlaine inspirieren lassen hat. Interessanterweise handeln auch die ersten Strophen dieses 1866 erschienenen Gedichts von einer zu tiefst betrübten Erzählinstanz die – ähnlich zu Louis – am Ufer eines Wassers entlanggeht, bis sie auf eine "geisterhafte[] riesige[] Gestalt" trifft:

Ich irrte ganz allein mit meinen Leiden / entlang dem Weiher, durch die Uferweiden, / wo milchweiß sich der flüchtige Nebel ballt / zu geisterhafter riesiger Gestalt, / und weint und klagt, wie Regenpfeifer klagen, / die laut sich rufen und die Flügel schlagen / im dichten Weidenstand, wo mit dem Leid / ich so allein; (Ammer 1907, S. 16)

Hier lässt sich ein auffälliger, thematischer Bogen sowohl zum Titel, als auch zur Anfangsszene des VR-Spieles schlagen und vermutlich hat sich nicht nur der wahre Debussy damals von diesen Zeilen Verlaines inspirieren lassen.

Die Komfortstufe von Ghost Giant lässt sich als angenehm einstufen. Der VR-Titel kann folglich bedenkenfrei als Einstieg in die Welt der Virtual Reality empfohlen werden. Die ungefähre Spieldauer beträgt vier bis sechs Stunden.

Fazit

Voll gepackt mit wahrlich herzerwärmenden Momenten überzeugt der VR-Titel Ghost Giant des Entwicklerstudios Zoink nicht nur ein junges oder junggebliebenes Publikum. Die farbenfrohe und stilistisch überragende Gestaltung der Spielwelt enthüllt zeitgleich eine erzählerische Tiefgründigkeit und eröffnet auf diesem Wege den Spielenden eine nachklingende Spielerfahrung. Zeitgemäß und mutig verschließt sich die Geschichte dieses VR-Spiels nicht vor der Begegnung mit ernsteren Themen und liefert dabei einen kindgerechten Zugang bei dem die Spielenden lernen können, selbst in ausweglos erscheinenden Situationen nie die Hoffnung zu verlieren. Ghost Giant ist ab einem Alter von sechs Jahren zu empfehlen. 

Literatur

Ammer, Karl Anton: Einsamer Gang. In: Gedichte von Paul Verlaine. Eine Anthologie der besten Übertragungen, herausgegeben von Stefan Zweig. Mit einem Porträt des Dichters. Berlin/Leipzig: Schuster & Loeffler 1907.

Bille, Joel: Joel Bille. Composer, Producer & Sound Designer 2022. (Abruf: 15.11.2022). Hier online abrufbar. 

Bruhn, Siglind: Suite bergamasque. In: dies. (Hrsg.): Debussys Klaviermusik und ihre bildlichen Inspirationen. Waldkirch (Edition Gorz) 2017. (Abruf: 20.12.2022). Hier online abrufbar. 

Elfgren, Sara Bergmark: S.B.E. 2022. (Abruf: 15.11.2022). Hier online abrufbar.

Zoink Games: Ghost Giant. Meta (Oculus) Quest II 2020.

Titel: Ghost Giant
Plattformen: Sony Playstation VR, Meta (Oculus) Quest, Meta (Oculus) Quest 2
USK: Unter 2 Jahre
Entwicklungsstudio: Zoink Games
Erscheinungsjahr: 2019
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Zoink Games: Ghost Giant