Inhalt und Gameplay
Ziel jedes Levels in Unpacking ist es, eine Reihe von Umzugskartons auszupacken und die dort verstauten Gegenstände schließlich in den neu bezogenen Wohnräumen zu verteilen und einzuordnen. Mit fortlaufendem Spielfortschritt erhöht sich dabei nicht nur die schiere Anzahl an Gegenständen, sondern auch die der Zimmer und somit der Orte, auf welche die Gegenstände verteilt werden müssen. Während zu Beginn lediglich das eigene Kinderzimmer Ort des Geschehens ist, kommen später so bspw. noch ein Badezimmer oder eine Küche hinzu, die natürlich jeweils völlig andere Utensilien enthalten. Und wie bei einem echten Umzug kommt es auch hier immer mal wieder vor, dass sich ein Gegenstand in die Kisten eines Raums schleicht, der dort überhaupt nichts zu suchen hat.
Abb. 1: Das eigene Kinderzimmer zu Beginn des Spiels samt der auszupackenden Umzugskartons. Screenshot aus Unpacking (2021).
Die Lösungen für diese Aufgaben basieren dabei stets aus einer Kombination von existierendem Weltwissen ("Eine Bratpfanne gehört in die Küche!") und Schlussfolgerungen aus Beobachtungen innerhalb der Narrative und Spielwelt. So steht man bspw. im ersten Level vor der Herausforderung, ein Buch einzuräumen, das aber scheinbar nicht im Bücherregal platziert werden kann. Da sich an diesem Buch ein kleines Schloss befindet, kann aber geschlussfolgert werden, dass es sich dabei wohl um ein Tagebuch handeln könnte. Und da ein sehr privater Gegenstand wie ein Tagebuch natürlich nicht für alle zugänglich im Freien rumliegen sollte, muss er hier stattdessen in einer Schreibtischschublade oder einem geschlossenen Schrank verstaut werden. Darüber hinaus müssen ab und zu auch Gegenstände kombiniert werden, um die richtigen Ablageplätze überhaupt erst zu schaffen. So gibt es in der Küche oftmals nicht genug Platz, um das gesamte Geschirr einzeln einzuräumen. Stattdessen müssen so Teller aufeinandergestapelt werden oder im Schlafzimmer erst einmal Kleiderbügel aufgehangen werden, um später genug Platz für alle Kleidungsstücke zu haben.
Abb. 2: Das vollständig eingeräumte Kinderzimmer inklusive dem sicher in der Schreibtischschublade verstauten Tagebuch. Screenshot aus Unpacking (2021).
Ist ein Gegenstand doch einmal am falschen Ort, dann kommuniziert das Spiel dies nicht sofort. Erst sobald alle Kartons in der Wohnung vollständig ausgeräumt wurden, werden die Fehler mit roten Markierungen kenntlich gemacht und können so nach und nach korrigiert werden.
Seine Geschichte erzählt Unpacking dabei auf eine stets sehr abstrakte Weise, die vielen Spieler*innen auch völlig verborgen bleiben könnte. Denn die gesamte Handlung wird fast ausschließlich über environmental storytelling vermittelt, also durch die Spielwelt selbst. Spieler*innen müssen sich eigenständig über Beobachtungen der Wohnräume und vor allem der Gegenstände in ihnen erschließen, im welchem Stadium ihres Lebens sich die Protagonistin befindet und wie sich ihr Leben seit ihrem letzten Umzug gewandelt hat. Welche Gegenstände sind möglicherweise dazugekommen und welche sind verschwunden? Wieso zieht man bspw. mitten im Spiel wieder in das eigene Kinderzimmer aus dem ersten Level, obwohl man vorher noch mit einer anderen Person zusammengewohnt hatte?
Diese Art des Storytellings ist einzigartig für das Medium Videospiel. So findet bspw. dadurch eine Absonderung zum Film statt, dass den Spieler*innen völlig freisteht, in welchem Tempo und auch in welcher Reihenfolge sie diese "narrative[n] Spuren" (Bodden, Madeheim: demn.) untersuchen und ob sie überhaupt mit ihnen interagieren. Handlung und Gameplay werden somit geschickt miteinander verwoben und letzteres durch die zusätzliche Kontextualisierung sogar noch in seiner Wirkung gestärkt.
Auf diese Weise formt sich im Laufe der fortlaufenden Kapitel ein immer klarer werdendes Bild unserer Protagonistin, in welchem die Entwicklungen ihres Lebens beobachtet werden kann, ohne die eigentliche Person je selbst zu Gesicht zu bekommen. Während z. B. im Kinderzimmer zu Beginn der Handlung eine Menge an Stiften und kindlichen Malutensilien zu finden sind, wandelt sich dieses Hobby im fortschreitenden Spielverlauf immer weiter und zeigt sich letztendlich im Studium und Beruf der Protagonistin, der sich aus den nun vorhandenen Zeugnissen und dem professionellen Zeichenequipment schlussfolgern lässt.
Abb. 3: Ein eingeräumtes Büro zu einem späteren Zeitpunkt im Spiel. Die Bilder an den Wänden sind hier völlig frei platzierbar und können auch auf andere Räume verteilt werden. Screenshot aus Unpacking (2021).
Kritik
Besonders hervorzuheben ist das fantastische Sounddesign von Unpacking. Jeder Gegenstand macht beim Platzieren einen eigenen, authentischen Sound. Dieser hängt dabei völlig davon ab, auf welcher Oberfläche der Gegenstand platziert wird. Eine kleine Keramiktasse macht also genau wie in der Realität ein völlig anderes Geräusch, je nachdem, ob sie in einem Holzschrank oder auf einem Waschbecken im Bad abgestellt wird. Laut einem Interview einer Entwicklerin von Unpacking bei Kotaku (2021) enthält das Spiel insgesamt über 14.000 völlig einzigartige Sounds für die Gesamtheit der verschiedenen Gegenstände und Oberflächen. Auch kann mit vielen Gegenständen zusätzlich per Knopfdruck interagiert werden, wobei immer wieder kleine Details zum Vorschein kommen. So können bspw. Klospülungen betätigt, Radios angeschaltet oder Zauberwürfel gelöst werden. Das dadurch erreichte Spielgefühl ist aufgrund seiner Authentizität und Abwechslung nicht nur überaus befriedigend, sondern lädt auch gemeinhin zum Experimentieren ein. Hier ist es auch in Kombination mit dem charmanten visuellen Stil und der entspannten Musik möglich, sich in eine Art Trance zu spielen und – so verrückt es auch für manche klingen mag – tatsächlich beim Auspacken und Einräumen von Umzugskartons zu entspannen. Passend dazu bezeichnen sogar die Entwickler*innen von Witch Beam selbst ihr Spiel auf ihrer Website als ein "zen puzzle game about unpacking a life".
Die Vorgehensweise und damit auch schließlich die Spielzeit können sich je nach Spieler*in drastisch unterscheiden. Denn Unpacking lässt einem oft völlig offen, wie akribisch und ordentlich man die Gegenstände einräumen möchte. Wer schlichtweg schnell durch das Spiel durchkommen will, kann z. B. problemlos sämtliche Kleidungsstücke ohne viele Hintergedanken in einen naheliegenden Kleiderschrank feuern. Hier lässt das Spiel einem die freie Wahl: Solange alle Gegenstände irgendwo im für sie bestimmten Bereich platziert wurden, kann in das nächste Level fortgeschritten werden.
Jannis Grimberg und Fabian Mehmel (demn.) unterscheiden diesbezüglich zwischen verschiedenen Archetypen von Spieler*innen, welche Videospiele jeweils unterschiedlich rezipieren (bspw. Casual-Spieler*innen) und dahingehend einen anderen Grad an Authentizität in Bezug auf die Ertfahrung der Spielwelt erreichen. Unpacking stellt hier aufgrund seiner offenen Spielgestaltung zwar für wohl alle Arten von Spieler*innen ein potenziell befriedigendes Erlebnis dar, eignet sich aber besonders für diejenigen, die mit wirklich allen Spielinhalten in Kontakt treten und interagieren wollen. So ist es deutlich spaßiger und belohnender, sich tatsächlich Gedanken über die Platzierung von sämtlichen Gegenständen zu machen und somit noch tiefer in die Spielwelt sowie das Leben und die Geschichte der Protagonistin einzutauchen. Wer bspw. Zeit und Mühe in eine 'logische' und ordentliche Sortierung der Kleidungsstücke im Schrank steckt, stellt nicht nur eine deutlich tiefere Bindung zu den Narrativen her, sondern lässt sie auch viel eher ihr volles, einzigartiges Potenzial entfalten.
Abb. 4: Eine Küche mitten im Auspack- und Einräumprozess. Screenshot aus Unpacking (2021).
Fazit
Unpacking ist ein charmantes und einzigartiges Puzzle-Spiel, dem der Balanceakt zwischen spielerischer Herausforderung und emotionaler Geschichte hervorragend gelingt. Obwohl es über seine gesamte Länge von 2–3 Stunden ein konstantes Wohlgefühl ausstrahlt, wird es in seinem Spielablauf und seinen Rätseln niemals monoton oder belanglos. Zwar können ab und an Frustrationen ob so mancher nicht ganz eindeutiger Platzierungen von Gegenständen auftreten, diese halten aber nie lange an. Als Casual Game bietet es sich für Spieler*innen aller Altersgruppen für einen entspannten Nachmittag vor dem Bildschirm an. Jedoch ist ein zumindest grundlegendes Verständnis für die erzählte Geschichte und gewisse Dynamiken der analogen Welt notwendig, um die Lösungen der Puzzles verstehen und immer nachvollziehen zu können. Zwar eignet es sich aufgrund seiner vielen oftmals kleinen auswählbaren Gegenstände besonders gut für ein Spielen auf dem PC mit einer Maus, ist aber auch auf den Konsolen mit einem Controller ein wunderbares Erlebnis.
Literatur:
Ari Notis: Hit Puzzle Game Unpacking Features 14,000 (!) Audio Files Replicating Ordinary Sounds (04.11.2021). Kotaku. Abruf: 02.01.2024. Hier online abrufbar.
Bodden, Tamara u. Madeheim, Marvin: „But now I had questions about my family that only the house knew the answers to.“ – Zur Funktion von Häusern in Videospielen. In: Standke, Lison (Hrsg.): Poetische Häuser. Variationen und Funktionen des Hauses in der Kinder- und Jugendliteratur und anderen Medien der Gegenwartskultur. (Demn.)
Grimberg, Jannis u. Mehmel, Fabian: Historische Authentizität im Videospiel –(Un)realisierbare Authentisierungspotenziale in Assassin’s Creed II und Kingdom Come: Deliverance. In: Bachmann, Bodden: New skills unlocked? Kulturwissenschaftliche Theorien und Analysen von Games. Glücksstadt: Verlag Werner Hülsbusch. (Demn.)
Witch Beam: Unpacking. 2021. Microsoft Windows (PC) und Playstation 5.
Witch Beam: Homepage Unpacking. Abruf: 10.02.2024. Hier online abrufbar.
