Inhalt und Gameplay

Chants of Sennaar setzt mit seiner Story in gewisser Weise da an, wo die Geschichte um den Turmbau zu Babel endet: Die Menschen (hier: die Bewohner*innen des Turmes) sprechen unterschiedliche Sprachen, die eine Kommunikation zwischen den verschiedenen Völkern unmöglich machen. Als ein nicht näher beschriebener Reisender übernehmen die Spielenden nun nicht nur die Aufgabe, die Sprachen zu lernen und durch gezielte Übersetzungen den Austausch zwischen den Völkern wieder zu beflügeln, sondern sie müssen auch in Erfahrung bringen, wie es eigentlich zu den Sprachbarrieren kam.

Das Spielprinzip von Chants of Sennaar ist dabei so einfach wie bestechend: Die Spieler*innen werden immer wieder in Situationen versetzt, in denen nur die Kenntnis der vom jeweiligen Volk gesprochenen Sprache einen Fortschritt in der Narration ermöglicht. Dabei können die Sprachen auf unterschiedliche Art und Weise erlernt werden. Beispielsweise müssen die Spielenden am Anfang des Spiels die (zunächst unverständlichen) Anweisungen eines Fremden befolgen, um diesem den Weg durch ein Kanalsystem zu bahnen. Dessen Äußerungen werden den Spieler*innen als schriftsprachliche Zeichen in Sprechblasen dargeboten (Abb. 1). Durch genaue Beobachtung wird deutlich, dass der Fremde den Spielenden zunächst mit einer Verneigung begrüßt und dann um Hilfe bittet, die verschiedenen Tore per Hebel zu öffnen.

Abb. 1: Ansprache der Spielfigur durch einen Fremden. Screenshot aus Chants of Sennaar (2023).

Während zu Beginn des Spiels die zu übersetzenden sprachlichen Zeichen noch überschaubar sind und oft beobachtbare Handlungen, Gegenstände oder Eigenschaften bezeichnen, müssen im Mid- und Endgame häufig komplexere Schlussfolgerungen gezogen werden. Um den fremden Sprachen auf die Schliche zu kommen, muss etwa herausgefunden werden, dass sprachliche Zeichen untereinander visuelle Ähnlichkeiten aufweisen, wenn sie derselben 'Wortart' angehören. Zum Teil müssen aber auch Interlinearübersetzungen dechiffriert oder Dialoge zwischen verschiedenen NPCs rekonstruiert werden.

Ein wesentliches Spielelement, das den Prozess des Sprachenlernens unterstützt, ist das Tagebuch der Spielfigur (Abb. 2). In diesem tauchen potenziell erschließbare sprachliche Zeichen immer dann auf, wenn man diesen erstmalig in der Spielwelt begegnet. Diese können dann Tagebuchskizzen zugeordnet werden, die die Spielfigur auf Basis ihrer Beobachtungen anfertigt (z. B. kann der Skizze eines winkenden Mannes ein Zeichen zugeordnet werden, das "Begrüßung/Verabschiedung" bedeutet). Insbesondere zu Spielbeginn lassen sich die Zeichen meist direkt in der Situation erschließen und den Skizzen zuordnen. Später im Spiel wird man allerdings ad hoc mit so viel unbekanntem Sprachmaterial konfrontiert, dass dieses meist erst durch eine aufmerksame Exploration der Spielwelt entschlüsselt werden kann. Bis man sich der Bedeutung eines Zeichens gewiss ist, ermöglicht das Tagebuch, vermutete Bedeutungen als Anmerkungen zu hinterlegen. Ist man sich der Bedeutung sicher, kann man das sprachliche Zeichen der jeweiligen Skizze im Tagebuch zuordnen. Sobald alle Zeichen einer Tagebuchseite korrekt den entsprechenden Abbildungen zugeordnet wurden, ist die Übersetzung abgeschlossen. Auch die von Spielenden vermutete Bedeutungen werden durch die von der Spielwelt intendierten 'richtigen' ersetzt. Hat man die Sprachen aller Völker gemeistert, gilt es, an extra dafür vorgesehenen Terminals auf jeder Ebene durch Übersetzungen von einer in die andere Sprache die Kommunikation zwischen den Völkern anzukurbeln und dadurch der Ursache von deren Entfremdung auf die Schliche zu kommen.

Abb. 2: Tagebuch der Spielfigur. Screenshot aus Chants of Sennaar (2023).

Kritik

Chants of Sennaar bietet ein reichhaltiges Spielerlebnis für all jene, die Puzzle-Games mögen oder sich als Hobby-Linguist*innen versuchen möchten. Besonders zu würdigen ist dabei die Liebe zum Detail, mit der das Entwicklungsteam die zu übersetzenden Sprachen entworfen hat. Statt hier ausschließlich auf nette Optik und schnell durchschaubare ikonische Zeichen zu setzen, folgen die Zeichensysteme durchweg einer klar erkennbaren Systematik, die nicht nur das Spielerlebnis stimmig erscheinen lässt, sondern Potenziale für den Einsatz des Spiels in schulischen Kontexten mit Blick auf den Kompetenzbereich "Sprache und Sprachgebrauch untersuchen" (KMK, 2022) ermöglicht. Besonders beeindruckend ist, dass die Entwickler*innen auch vor morphologischen Kategorien wie Numerus- oder Tempusmarkern nicht zurückschrecken, die in den jeweiligen Sprachen dann auch unterschiedlich realisiert werden. So kann der Plural beispielsweise in der einen Sprache durch Reduplikation von Zeichen (z.B. "Ich ich" für "Wir") und in der anderen Sprache durch ein separates Zeichen ausgedrückt werden, das dem Zeichen vor- oder nachzustellen ist. Darüber hinaus verfügen die jeweiligen Sprachen über unterschiedliche Wortstellungsregeln, die im Rahmen der Übersetzung zwischen den Sprachen zu beachten sind und für eine zusätzliche Erhöhung des Schwierigkeitsgrades sorgen.

Äußerst positiv zu beurteilen ist auch die Ästhetik des Spiels. Hier punktet Chants of Sennaar mit satten Farbschemata, die dem Wesen der jeweiligen Völker gut angepasst sind. So ist die Welt der Krieger*innen in metallenem Grau-Blau gehalten, während die Welt der Bard*innen in sonnig-leuchtende Farben gehüllt ist. Aber auch die Raumgestaltung ist überzeugend, wenn etwa die Alchemist*innen hauptsächlich in Bibliotheken in Steam-Punk-Optik verweilen und sich dort den Studien dubioser Formeln widmen.

Für Abwechslung im Spiel sorgen neben den Übersetzungsaufgaben zahlreiche knifflige Puzzle und kleinere Minispiele. Gelegentlich werden die Spielenden auch mit Stealth-Elementen konfrontiert, wenn etwa einem menschenfressenden Monster oder Wachen ausgewichen werden muss. Da in diesen action- und spannungsgeladenen Spielszenen nur bedingt auf taktisches Gespür zurückgegriffen werden muss, stehen sie in einer gewissen Spannung zu der sonst beobachtend-explorativen und vorwiegend narrationsfokussierten Spielweise. Hier will das Spiel unserer Meinung nach zu viel und hätte besser daran getan, sich ausschließlich auf die Mischung aus spannender Erzählung und systematischer Spracherschließung zu konzentrieren.

Fazit

Chants of Sennaar verfolgt ein auf dem Spielemarkt gegenwärtig einzigartiges Spielprinzip. Durch die Mischung aus Übersetzungsaufgaben, Puzzles, Minispielen und seiner farbenfrohen Ästhetik hat es das Potenzial, Spielende nachhaltig für die Beschäftigung mit Sprache und sprachlichen Strukturen zu begeistern. Die spannende Narration in Anknüpfung an die biblische Geschichte um den Turmbau zu Babel bietet zudem reichhaltige Potenziale für literarästhetisches und religiöses Lernen, die mit dem sprachlichen Lernen integrativ verwoben werden können. Gerade in Verbindung mit letzterer Dimension scheint sich das Spiel vor allem für Jugendliche ab 15 Jahren (Jahrgang 9–10) zu eignen. Rückt man vorrangig die sprachliche Ebene in den Mittelpunkt, dürften allerdings auch schon jüngere Kinder (ab 12 Jahren) Spaß am Spiel finden.

Literatur

KMK: Bildungsstandards für das Fach Deutsch: Erster Schulabschluss (ESA) und Mittlerer Schulabschluss (MSA). Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004 und vom 04.12.2003, i.d.F. vom 23.06.2022. Hier online abrufbar. 

Titel: Chants of Sennaar
Plattformen: Steam Deck, Sony Playstation 4, Microsoft Windows (PC), Nintendo Switch, Microsoft Xbox Series s/x, Microsoft Xbox One
USK: Unter 2 Jahre
Entwicklungsstudio: Rundisc
Erscheinungsjahr: 2023
Altersempfehlung Redaktion: 15 Jahre
Rundisc: Chants of Sennaar