Kurt Franz: Kinderlyrik. Geschichte-Formen-Rezeption

Franz, Kurt: 
Kinderlyrik. Geschichte-Formen-Rezeption.
Hrsg. von Franz Payrhuber und Bernhard Meier.
Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2016.
359 Seiten. 24,00 €
ISBN 978-3-8340-1609-6.
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Kurt Franz: Kinderlyrik 1979; und nun Kurt Franz Kinderlyrik 2016. Bei dem zuletzt genannten Titel handelt es sich – etwas verwirrend – nicht etwa um eine überarbeitete Neuauflage, sondern um einen Sammelband von Aufsätzen und Beiträgen aus der Feder von Kurt Franz, den ihm seine Kollegen zum 75. Geburtstag geschenkt haben. Es handelt sich vorwiegend um Beiträge aus den letzten 20 Jahren (teilweise in überarbeiteter Fassung) sowie zwei Originalbeiträge, die in ansprechendem Layout mit einer Fülle von farbigen Cover- und Illustrationsbeispielen erscheinen. In der Einführung wird Franz’ Engagement in etwa 20 Verbänden und Organisationen gewürdigt, vor allem als Präsident der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach. Die zwölf unter seiner Federführung herausgegebenen Tagungsbände werden einzeln aufgeführt; nur teilweise finden sie sich auch in der umfangreichen Bibliographie (S. 357-390). Die Nachweise der Schriften des Autors scheinen kein vollständiges Verzeichnis zu sein.

Bis dahin unveröffentlicht war der knappe Überblick über die Kinderlyrik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 60-76), der vor allem wegen der Leseliste für bayerische Schulen aus dem Jahr 1986 interessant ist, an der Franz demonstriert, wie weit sie hinter dem Angebot jener Zeit zurückblieb. Neu ist auch die völlige Überarbeitung eines Vortrags aus dem Jahr 2009 zum Thema "Tod im lyrischen Gewand", der unter die Überschrift "Gugummer geht über den See …" gestellt wird, weil er in Irsee, dem Wohnort von Josef Guggenmos gehalten wurde. Wiederholt weist Franz in dem detailreichen Beitrag darauf hin, dass dieses Thema in der Kinderlyrik nur am Rande vorkomme.


Franz-Josef Payrhuber: Gedichte entdecken. Wege zu Gedichten in der ersten bis sechsten Klasse

Payrhuber, Franz-Josef:
Gedichte entdecken.
Wege zu Gedichten in der ersten bis sechsten Klasse.

Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2015.
392 Seiten. 24,00 €
ISBN 978-3-8340-1527-3.
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Franz-Josef Payrhuber konnte seine Gedichtdidaktik für das 5. - 10. Schuljahr von 1993 kurz vor seinem Tod (2017) mit dem Band für das 1. - 6. Schuljahr vollenden. In einer knappen Einleitung erklärt er zunächst, "Warum Gedichte wichtig sind" (S. 1), setzt dann dem wiederholt erhobenen Vorwurf, die Schule zerstöre die Freude am Gedicht, sein Credo entgegen: "Durch Interpretation die Freude am Gedicht mehren" (S. 6) und entwirft anschließend seine Konzeption. Den drei großen Kapiteln "Formen", "Methoden" und "Themen" folgt noch eines mit dem "Blickpunkt: Autoren", in dem er Gedichte von Goethe und Guggenmos bündelt.

Der wenig präzise Begriff ‘Kinderlyrik‘ verführt immer wieder dazu, neue Gliederungen zu versuchen. Payrhuber setzt dem Kindergedicht das erzählende Gedicht gegenüber (Ballade, Versfabel und Märchenerzählgedicht) und ergänzt Konkrete Poesie und ‘Artistische‘ Formen. Selbst unter der Voraussetzung, dass sich der Textbestand von dem der Erwachsenenliteratur stark unterscheidet, scheint dieser Versuch auch für sein eigenes Vorgehen wenig hilfreich. Richtig an dem Ansatz ist, dass er die besondere Bedeutung der erzählenden Texte hervorhebt, und ein Blick in die Bibliographie scheint neue Aspekte der Kinderlyrik aufzuzeigen. Dort gibt es ein eigenes Kapitel "Bilderbücher"; sie werden bisher als eigenständiges Genre der Kinderlyrik in der Forschung gar nicht thematisiert. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass von den 37 Titeln 16 von Droste-Hülshoff, Fontane (3x Herr von Ribbeck), Goethe, Rilke und Schiller sind. Wer tatsächlich die Leserinnen und Leser etwa von Die Bürgschaft (Poesie für Kinder) im Kindermann Verlag sind, darüber muss man nicht lange rätseln! Weder hier noch im ganzen Buch kommen typische Bilderbücher vor. Von diesen ‘klassischen‘ Balladen die Kinderballade (oder das ‘balladische Kindergedicht‘) abzugrenzen dient nicht der Klärung, wie Payrhuber selbst einräumt. Auch bei der Konkreten Poesie verheddert man sich, wenn man die verschiedenen Formen aus unterschiedlichen Definitionsversuchen ableitet: Der Apfel von Döhl unter Figurengedichte, der Apfel von Rigg unter Visuelle Texte.

Ähnliche Unschärfen begegnen auch im zentralen Kapitel des Buches (Kap. III: Methoden). Zunächst bleibt unverständlich, warum die Darstellung des Textkorpus von der didaktischen Bearbeitung abgetrennt wird, widerspricht das doch dem Grundverständnis des Autors, dass beides eng zusammengehört. Dem ersten Abschnitt Textbegegnungen folgt Handelnde Zugänge sowie Handelndes und produktionsorientiertes Erschließen, eine missliche Doppelung der Begriffe. Der vierte und fünfte Abschnitt von Kap. III, Selberschreiben von Gedichten und Gedichte szenisch interpretieren sind eigentlich Teil des dritten. Der sechste schließlich empfiehlt, Gedichte zu vergleichen. Das folgende Kapitel Blickpunkt: Themen will sich ebenfalls schwer in eine schlüssige Gesamtkonzeption fügen. Ich-Gedichte, Wetter, Stadt und Land, Kalenderblätter heißen die Themen und werden teilweise unterschiedlichen Schulklassen zugeordnet.

Das produktionsorientierte Erschließen beherrscht heute den Markt (vgl. unten zu den Kopiervorlagen) und die schulische Praxis. Ziel des didaktischen Herangehens an einen Text ist dabei weniger der Text selbst als die Frage: Was lässt sich daran malen oder spielen oder ‘bosseln‘. Auch wenn positiv vermerkt werden muss, dass die meisten Vorschläge Payrhubers in der Praxis (mit Nennung der beteiligten Lehrerinnen) überprüft wurden, so muss häufig doch die didaktische Relevanz in Frage gestellt werden: Inwiefern trägt die Schüleraktivität zum Verstehen des Textes bei und wird nicht nur zum Spaßfaktor? Wenn man sich bei diesem Verfahren immer wieder gern auf Waldmann beruft, so muss darauf hingewiesen werden, dass sein Produktiver Umgang mit Lyrik (1988, zuletzt 2001) eine systematische Einführung in die Lyrik ist und nicht mit ‘produktionsorientiertem‘ Agieren verwechselt werden darf. Waldmann wehrt sich dezidiert dagegen, "Lyrikunterricht solle nun ausschließlich produktionsorientiert sein". Daneben muss "ein analysierender und interpretierender Umgang" stehen (Waldmann S. 275). Payrhuber stimmt Waldmann zu, dass "produktiver und analytisch-interpretativer Umgang mit Lyrik nicht als Gegensätze aufgefasst werden" (Waldmann S. 275). Genau da liegt aber die Crux bei Payrhuber: Die Methoden, speziell die produktiven Verfahren lassen sich leicht darstellen, während Analyse und Interpretation – und das muss das Zentrum des Unterrichts sein – in seinem Konzept nur von den Lehrenden und nicht von den Schülerinnen und Schülern geleistet werden. Nur am Rande sei bemerkt, dass Waldmann dafür plädiert, dass "Lyrik einfach nur gehört werden" solle (vgl. unten bei Pecher u.a. den Vorschlag von Gutzschhahn). Von der Wichtigkeit her sollten das Hören und das Sprechen der Gedichte den größten Raum des Buches einnehmen.

Besonders beim szenischen Umsetzen von erzählenden Gedichten kommt es zu geradezu kuriosen Ideen, wohl wissend: "Die Hauptschwierigkeit dürfte darin bestehen, die Erzählpassagen in Handlung umzusetzen." (Payrhuber S. 201) Ein Prosatext bzw. ein erzählendes Gedicht wird nicht dadurch zum Spieltext, dass man die Dialoge oder die wörtliche Rede von verschiedenen Kindern sprechen lässt. Bei Goethes Lied des Bettlers aus Faust I sollen die Schülerinnen und Schüler zunächst Reimwörter finden (z.B. "backenrot"), weil "ihm nicht zu allen Versen gleich ein Reimwort eingefallen" ist (Payrhuber S. 300 ff.). (Es muss gerechterweise ergänzt werden, dass diese Idee von Gerhard Haas korrekt nachgewiesen wird. Überhaupt fällt auf, dass die meisten Urteile im Buch nicht vom Autor selbst stammen, sondern in teilweise langen Zitaten akkurat übernommen werden). Dann sollen die Kinder entsprechende Kleidung mitbringen und den Text spielen. Was könnte man in der Zeit an effektiven Einsichten zutage fördern, wenn es denn überhaupt dieser Text sein muss. Dass er von Goethe stammt, reicht als didaktische Begründung nicht aus. Um es zuzuspitzen: Alle Gedichte verlangen von den Lehrenden eine gründliche Analyse und Interpretation sowie eine didaktische Überlegung, was die Schülerinnen und Schüler an dem Text lernen sollen, aber der Methodenteil versammelt nur jene Texte, an denen sich ein spezifisches Verfahren am besten demonstrieren lässt – und der grundlegende Zugriff tritt in den Hintergrund oder fehlt. Wer sich mit dieser Konzeption anfreunden kann, findet ein umfangreiches Kompendium detailliert ausgearbeiteter Beispiele sowie eine opulente Literaturliste (Werkausgaben, Bilderbücher, Anthologien, Sekundärliteratur).


Claudia Maria Pecher, Kurt Franz, Mirjam Burkard (Hrsg.): "Was die weißen Raben haben". Gedichte für Kinder und Jugendliche von 1945 bis heute.

Pecher, Claudia Maria, Kurt Franz, Mirjam Burkard (Hrsg.): 
"Was die weißen Raben haben".
Gedichte für Kinder und Jugendliche von 1945 bis heute.

Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2016.
(= Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur 46).
251 Seiten. 22,00 €
ISBN 978-3-8340-1683-6.
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"Was die weißen Raben haben" ist die Anfangszeile eines Gedichts von Jutta Richter, das zusammen mit Texten von Maar, Gutzschhahn u. a. im Anhang des Bandes abgedruckt wird, der die Vorträge einer Tagung der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur im Herbst 2015 versammelt. Er ist dem Homme de lettres par excellence Erich Jooß zum 70. Geburtstag gewidmet, einem Förderer der Akademie, der leider 2017 gestorben ist. Der Akademie ist es schließlich zu verdanken, dass es nach dem österreichischen Staatspreis endlich wieder einen Kinderlyrik-Preis im deutschsprachigen Raum gibt: den Josef-Guggenmos-Preis, der 2016 an Arne Rautenberg ging.

Im ersten Teil des Sammelbands, der Beiträge "Zur Entwicklung der Kinderlyrik seit 1945" enthält, begegnet einem nochmals der Aufsatz von Kurt Franz aus seinem Sammelband mit leichten redaktionellen Varianten, danach resümieren zwei Darstellungen die Kinderlyrik in Österreich (Riedl) und in der Schweiz (Lötscher); schließlich wird die aktuelle Situation in Deutschland dargelegt. Im zweiten Teil folgen zehn Beiträge über Kinderlyriker von Jandl über Guggenmos und Krüss, Bolliger, Kruse, Hohler bis zu Maar (auffällig ist die völlige Abwesenheit von Frauen in dieser Liste). Bei dezidiertem Ausblenden der DDR-Kinderlyrik, in der sich die unverständliche, aber weit verbreitete Missachtung eines ganzen Bereichs der deutschen Kulturentwicklung zeigt, meint man, an Brecht denn doch nicht vorbeikommen zu können.

Was kann man in einem lexikonartigen Beitrag auf zehn bis zwanzig Seiten mehr tun als Titel aufzählen und Beispieltexte abdrucken? Selten gibt es einen konzisen Zugriff oder den erhellenden Vergleich im Kontext eines erkennbaren theoretischen Konzepts. Ein undankbares Unternehmen, kann doch nicht jeder so authentisch über seine Zusammenarbeit mit Guggenmos berichten wie Hans-Joachim Gelberg und nicht jede hat Zugriff auf seinen Nachlass wie Mirjam Burkard.

Auch die Länderartikel bleiben schließlich ergebnislos, weil sie nur Material ausbreiten, ohne nach spezifischen Kriterien zu fragen: Ist die nationale Abgrenzung überhaupt sinnvoll? So referiert Katrin Riedl einfach ausgiebig, was bereits Gasperi (2009) oder Pichler (1989) über die Kinderlyrik Österreichs geschrieben haben und hängt drei Personenportraits über Gerda Anger-Schmidt, Georg Bydlinski und Gerald Jatzek an. Hätte man wenigstens komplette Werklisten im Literaturverzeichnis und wäre dort die richtige Erstveröffentlichung beim Sprachbastelbuch von Domenego angegeben (1975 und nicht 2005).

Erhellend ist hingegen der Beitrag von Uwe-Michael Gutzschhahn über "Kindergedichte – eine vergessene Kunst im neuen Jahrtausend?" Nachdem er gebührend die Bedeutung der Gelbergschen Anthologien herausgearbeitet hat, zeichnet er nicht nach, was der Markt anbietet, sondern warum es kaum neue Kindergedichte mehr gibt. Aus genauer Kenntnis der Verlagslandschaft beschreibt er den Kreislauf von mangelndem Interesse der Lesenden/ Kaufenden, daraus folgendem Desinteresse der Verlage und ausbleibendem Angebot der Autorinnen und Autoren. Greift die seit einigen Jahren grassierende "Anthologitis" deshalb zunehmend auf Erwachsenengedichte zurück? Dabei sieht er deutlich die veränderte Situation in den Schulen, geht aber mit den Lehrenden eher freundlich um. Man könnte einen zweiten Kreislauf skizzieren: Immer wieder wird beklagt, dass Studierende der Germanistik weder über ausreichende Literaturkenntnisse verfügen, noch bereit sind, sie während des Studiums zu erwerben. Wenn Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer nicht mehr selbst lesen gelernt haben, können sie auch nicht Leserinnen und Leser erziehen. Um seinem Vorschlag zu folgen, jede Deutschstunde mit einem Gedicht zu beginnen, müsste man vom Wert der Dichtung überzeugt sein. Wo bei den Lehrenden die Kenntnis und das Engagement für das Kindergedicht fehlen, greifen sie zu den `Rezeptbüchern` mit ihren Kopiervorlagen. Und noch eine Ergänzung: Wo früher jeder Schulbuchverlag eine Anthologie mit Kindergedichten im Programm hatte, wundert man sich heute, dass Klett es wagt, wieder eine Anthologie anzubieten – ebenfalls mit einem Methodenanhang.


Bunk, Hans-Dieter (Hrsg.): Gedichte für die Grundschule

Bunk, Hans-Dieter (Hrsg.): Gedichte für die Grundschule.
Illustrationen Nina Hammerle u.a.
Klett Verlag Stuttgart, Leipzig 2011.
137 Seiten. 17,95 €
ISBN 978-3-12-310500-5.
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Gedichte für die GrundschuleKopiervorlagen.
Klett Verlag Stuttgart Leipzig 2011.
3 Seiten und 29 Kopiervorlagen. 11,25 €
Klett Verlag Stuttgart, Leipzig 2011.
ISBN 978-3-12-310499-2.
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Fünfzehn Jahre liegen zwischen den beiden Gedicht-Anthologien für die Schule des Klett Verlags. 1996 trug sie den poetischen Titel Wann Freunde wichtig sind, in der neuen Ausgabe von 2011 trägt sie den schlichten Titel Gedichte für die Grundschule. Brauchen Lehrende neben den Gedichten im Lesebuch ein Reservoir an weiteren Texten? Warum dann die Illustrationen, die sich eindeutig an Kinder wenden? In der früheren Ausgabe sucht man vergeblich nach dem Namen des Illustrators, nun werden Nina Hammerle und Anke Rauschenbach sogar mit eigenen Kurzportraits vorgestellt. Ergänzt werden die Gedichte durch 20 Kurzportraits mit Fotos, die auf das ganze Buch verteilt sind, auch wenn (wie bei Payrhubers Autorenkapitel) nicht ganz erkennbar wird, welche Funktion sie für die Kinder haben. Immerhin können die Kurzportraits doch wie Autorinnen- und Autorenlesungen die Einsicht vermitteln, dass sich hinter den Texten Personen verbergen, die in einer bestimmten Zeit so und nicht anders geschrieben haben, aus einer Fülle von Möglichkeiten auswählend. Da auf ein alphabetisches Verfasserverzeichnis verzichtet wurde, kann man schwer vergleichen, welche Änderungen es zwischen den Ausgaben von 1996 und 2011 gegeben hat. Immerhin, damals war kein Goethe und kein Eichendorff, kein Mörike und kein Heine vertreten. Die Kinderlyrik der DDR fehlte 1996 fast komplett; es gab nur je einen Text von Brecht und Mucke. Auch jetzt wird sie nicht angemessen repräsentiert, aber immerhin wurden Dichter wie Hacks, Fühmann, Petri und Könner aufgenommen. (Vgl. meine umfangreiche Textsammlung mit den Originalillustrationen unter www.kinderlyrik.com).

Es gibt einen klassischen Bestand an Autoren, neben Guggenmos und Krüss ist inzwischen Bydlinski präsent. Fast immer sind allerdings im Vergleich zu der alten Ausgabe andere Gedichte ausgewählt worden – und da wird deutlich, die Zeiten haben sich geändert. An zwei Beispielen soll die Trendwende verdeutlicht werden: Früher wurde Halbeys Gedicht Trotzdem mit der provozierenden Schlusszeile: "Kinder, schützt eure Eltern" abgedruckt, nun Kleine Turnübung im Kapitel "Ein Sack voll Blödsinn"; von Nöstlinger gab es früher sechs ihrer sozialkritischen Texte, nun nur wieder Mein Rad, aber im Kapitel "Verkehr", ergänzt um ein Frühlingsgedicht. Die Gliederung des Buches orientiert sich weitgehend an den bekannten Themen, neu ist "Gedichte über Gedichte" und ein Kapitel "Märchen". Ungewöhnlich und offenbar dem Bedarf der Lehrerinnen und Lehrer folgend, wie die große Zahl an "Handreichungen" auf dem Markt zeigt, ist die zehnseitige "Gedichte-Werkstatt" im Anhang. Bei knapp der Hälfte der Texte findet sich ein Arbeitsauftrag und ein Verweis in die Werkstatt. Die bekannten Verfahren sind das Auswendiglernen der Gedichte, spielen, malen, "untersuchen und über sie nachdenken" (S. 128).

Zum Gedichtband sind Kopiervorlagen erschienen. Ihnen ist ein Vorwort vorangestellt, das Konzept und Zielsetzung, Struktur und didaktische Grundlage der Gedichtanthologie darlegt. Auffallend ist die verhältnismäßig hohe Zahl von fünf Blättern zum Reim und sechs zu recht ausgefallenen Sonderformen wie Bildgedicht, Elfchen, Haiku, Rondell, Akrostichon und Konstellation. Da neben den Aufgaben präzise Kommentare zu einzelnen Texten fehlen, muss man davon ausgehen, dass es bei ottos mops bei dem bekannten Austauschen der Vokale bleibt und den Kindern lediglich eine didaktische Gehhilfe geboten wird , statt dass man ihnen klar macht, wie sich ihre Versuche von dem genialen Text Jandls unterscheiden.


Kritischer Blick auf Materialsammlungen

• Antje Hemming und Frauke Koeppen: Gedichte in der 3. und 4. Klasse

• Ute Hoffmann: Vom Gedicht zum Dichten

• Nicole Weber: Gedichte-Werkstatt

Hemming, Antje und Frauke Koeppen:
Gedichte in der 3. und 4. Klasse.
Materialien für den Unterricht.

Illustrationen Christine Hohenberger.
Hase und Igel Verlag Garching, München 2009, 2. Auflage 2016.
136 Seiten. 23,95 €
ISBN 978-3-8670-838-1.
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Hoffmann, Ute:
Vom Gedicht zum Dichten.
Lyrische Texte kennenlernen, gestalten und selber schreiben.

Illustrationen Ingrid Hecht (Bergedorfer Unterrichtsideen).
Persen Verlag, Hamburg 2009, 4. Auflage 2016.
125 Seiten. 23,95 €
ISBN 978-3-8344-3346-6.
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Weber, Nicole:
Gedichte-Werkstatt.
Materialien für einen handlungs- und produktionsorientierten Deutschunterricht.

Illustrationen Ingrid Hecht (Bergedorfer Unterrichtsideen).
Persen Verlag, Hamburg 2002, 9. Auflage 2016.
100 Seiten. 22,95 €
ISBN 978-3-8344-3847-8.
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Auf dem kleinen Markt der fachdidaktischen Literatur zur Kinderlyrik nehmen die DIN A4-großen Hefte für die Hand der Schülerinnen und Schüler einen verhältnismäßig großen Raum ein. In keinem der Arbeitsmaterialien fehlt die Reimschule (etwa in Hemming/Koeppen) oder ein "Kleiner Kurs für werdende Dichter" (in Hoffmann), nach dem Motto "Ein Gedicht ist, wenn sich‘s reimt". Frantz Wittkamp, der mit mehreren Texten in der Klett-Anthologie vertreten ist, bringt es satirisch auf den Punkt:

Der Dichter macht mir ein Gedicht.

Gedichte kosten Geld, ich weiß.

Er macht mir eins, das reimt sich nicht.

Das lässt er mir zum halben Preis.

Während in allen Arbeitsheften detailliert das Metrum beschrieben wird, sind Kürze und Zeilenbildung als Definitionsmerkmale der Lyrik völlig ausgeblendet. Über die anderen Elemente der Lyrik neben dem Reim, nämlich Klang und Rhythmus, herrschen sehr unklare Vorstellungen. Beim Rhythmus beginnt bereits die Konfusion. "Durch die regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Silben entsteht ein Rhythmus. Bei Gedichten heißt dieser Rhythmus Metrum oder Versmaß" (Hemming/ Koeppen, S. 9). Und das metaphorische, das Sprechen in Bildern wird weitgehend durch das Malen von Bildern ersetzt. Im Aufbau unterscheiden sich die DIN-A4-Hefte voneinander. Die Materialien von Hoffmann ähneln am meisten einer Textsammlung mit didaktischem Kommentar in den zwei großen Kapiteln "Gedichte lesen und kennenlernen" – bestehend aus acht Themenabschnitten – und "Gedichte selber schreiben und (um)gestalten".

Nicole Weber entwickelt auf einem Drittel ihrer Gedichte-Werkstatt das didaktische Konzept des Werkstattunterrichts und überträgt es auf die Arbeit mit Gedichten. Die restlichen Seiten sind Kopiervorlagen, z.B. "Gedicht im Stabfigurentheater vorspielen. Gruppenarbeit… Lest euch das Gedicht mehrere Male durch und besprecht, welche Figuren ihr braucht…" (Weber, S. 73) Das lässt sich in 45 Minuten mal eben unterbringen! Kein Wort zum Text, kein Wort zum Sprechen – auch nichts in den fünf Zeilen des einleitenden Kommentars für die Lehrerinnen und Lehrer. Hemming/Koeppen lassen auf die einleitende Reimschule sechs Themenkapitel und ein Kapitel mit englischen Gedichten folgen. Den Kopiervorlagen geht jeweils ein Absatz Lehrplanbezug: Deutsch, Sachunterricht voraus sowie eine knappe Erläuterung zum Inhalt des Textes und schließlich die Lösung zu den Aufgaben. Beim Gedicht Wenn die Nebelfrau kocht von Hanna Hanisch soll den Kindern erläutert werden, was Nebel ist. Auf der Kopiervorlage ist ein Topf abgebildet, auf dem Zettelchen mit richtigen und falschen Zutaten auseinanderzuhalten sind, und eine Strichzeichnung der Hexe. Sinnvoll wäre, dass sich die Kinder die Hexe selbst vorstellen, darüber sprechen. Stattdessen dürfen sie sie anmalen und schließlich aus dem Kessel Nebel steigen lassen. "Schneide dafür Butterbrotpapier zurecht und klebe es am Kesselrand fest. Lass den `Nebel` über das Gedicht wabern." (Hemming/Koeppen, S. 41) Wozu ein fächerübergreifender Unterricht führen kann, zeigen die Aufgaben zu Brechts unverwüstlichem Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster. Zwar heißt es in der biographischen Notiz, "Brecht erschuf das sogenannte ‚epische Theater‘, in welchem er sich des Verfremdungseffekts bediente, um die Zuschauer zum aktiven Nachdenken über die aufgedeckten Missstände zu bringen". (Hemming/Koeppen, S. 34) Die Kinder sollen jedoch nur die Vögel in den Abbildungen richtig zuordnen und anmalen und ein Gedichtfenster aus Pappe basteln.

Die richtige Einsicht, dass Kinder an Gedichten Freude haben sollen, führt leider dazu, dass ihre Freude an Spaß und Spiel, am Malen und Basteln missbraucht wird zu sachfremden Aktionen. Selbst wo die akustische Dimension von Lyrik erkannt wird, wo das Sprechen zum Ziel des Unterrichts gemacht werden müsste, geraten Nebensachen ins Zentrum. Beispiel Das Gewitter von Guggenmos. (Übrigens hat er nicht Die Schatzinsel von Stevenson übersetzt, sondern, was viel näherliegt, Mein Königreich [A Child’s Garden of Verses]). Ziel: "Ein Gedicht mit Musikinstrumenten begleiten". Die Kinder sollen sich "mit dem Inhalt dieses Gedichts mit Hilfe von Musikinstrumenten auseinandersetzen" (Weber, S. 22). Jedoch geht es nicht um den lauten Trommelschlag, um den Donner darzustellen, sondern darum, die Kunst des Autors zu erfassen und sich sprechend zu vergegenwärtigen. Auch Hemming/Koeppen haben Das Gewitter im Repertoire. Bevor die Kinder sich dem Text zuwenden, müssen sie erst lernen, wie Blitz und Donner entstehen. Auch hier sollen sie bei der ersten Strophe "mit den Fingerspitzen auf dem Tamburin herumfahren" (S. 88) usw. Dann werden die vier Strophen in sechs Teile zerschnitten und einem vorgegebenen Bild zugeordnet, ein "Gedichtbild" (S. 93-95) nennt man das! Es gehe um Vergleiche mit den Wolken in dem Gedicht, die Mäuse fehlen allerdings auf dem Bild, und die Elefanten auch. 


Xochil A. Schütz: Slam Poetry mit Grundschulkindern. Kurze Texte schreiben und vortragen

Schütz, Xochil A.:
Slam Poetry mit Grundschulkindern. Kurze Texte schreiben und vortragen.
Illustrationen Stefan Lucas
(Bergedorfer Unterrichtsideen).
Persen Verlag, Hamburg 2012.
40 Seiten. 17,95 €
ISBN 978-3-403-23117-2.
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Bei dem Heft Slam Poetry mit Grundschulkindern müsste der Verbraucherschutz wegen Irreführung der Käuferinnen und Käufer angerufen werden. Diese neue literarische Form erkennt man nach allgemeinem Verständnis an vier Merkmalen. Im Unterschied zur Dichterlesung (jemand trägt eigene Texte vor einem Publikum vor) sind im Slam zwei und mehr Autorinnen und Autoren nötig und das Publikum agiert als Jury. Schütz blendet (mit gutem pädagogischen Grund) den Wettstreit aus und möchte kein Publikum haben; auch die Lehrenden müssen einen Text vortragen. Das ist nichts anderes als das sattsam bekannte "Kinder schreiben eigene Gedichte". Im Unterschied zu den anderen Arbeitsmaterialien gibt es fast keine Kopiervorlagen für den Unterricht. Das Heft richtet sich eindeutig an die Lehrerinnen und Lehrer; jede Aufgabe beginnt stereotyp mit der Vorbereitung: "Die Kinder brauchen Stift und Papier". Man fragt sich, warum überhaupt das DIN A4-Heftformat gewählt wurde und für wen die kindischen Illustrationen gedacht sind.


Salome Mithra: 77 Methoden für den aktiven Umgang mit Gedichten

Mithra, Salome P.:
77 Methoden für den aktiven Umgang mit Gedichten.
Verlag an der Ruhr, Mühlheim an der Ruhr 2010.
94 Seiten. 14,95 €
ISBN 978-3-8346-0688-4.
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Salome Mithras 77 Methoden für den aktiven Umgang mit Gedichten verzichtet vollständig auf den Abdruck von Texten. Zunächst muss man definitorische Unschärfen in Kauf nehmen, denn das Lernziel "Metaphern erklären" ist natürlich keine Methode und "Konkrete Poesie" auch nicht. Jede Seite folgt der gleichen Gliederung: erst das Lernziel, dann die Klassenstufe, die Sozialform, zuletzt das Material und der Hinweis, dass die Methode für alle oder die meisten Gedichte geeignet sei. Es fehlen Hinweise zum Arbeiten mit der gesamten Klasse. Manchmal werden Texte empfohlen. Dann folgen die Abschnitte "Das bereiten Sie vor" und "So geht es". Zwei Beispiele: "Metaphern erklären… So geht es: Erklären Sie den Kindern, dass in vielen Gedichten in besonderen Bildern gesprochen wird, um Ereignisse, Gefühle, Stimmungen oder Orte zu beschreiben." (Mithra, S. 26) Dem Hinweis "Die ‚konkrete Poesie‘ konzentriert sich auf den 'Eigensinn' der sprachlichen Elemente" folgt: "So geht es. Stellen Sie den Kindern einige Beispiele vor, und lassen Sie Kinder kreativ werden." (ebd., S. 89) Dann wird als Beispiel 'Fisches Nachtgesang' von Morgenstern abgedruckt.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen: In allen Materialien fehlen Überlegungen zu Lernschritten und Lernfortschritten. Die Gliederung folgt den Themenkreisen der Texte oder dem Methodenkanon, ohne zu sagen, was eigentlich gelernt werden soll. Gedichte wollen mit dem Kopf wahrgenommen werden, wenden sich aber auch an das Gemüt, an die Phantasie, an die Vorstellung. Kinder müssen befähigt werden, ästhetische Eindrücke wahrzunehmen und sich sprachlich dazu zu äußern. Das ist die Aufgabe des Unterrichts.

Die meisten Gedichte müssen gesprochen und gehört werden. Das geht nicht in der Stillarbeit. Da die Lehrerin bzw. der Lehrer fördernd eingreifen können muss, ist auch die Gruppenarbeit nur bedingt geeignet. Interpretieren ist ein Austausch von unterschiedlichen Verständnisprozessen. Gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, die selbst von Gedichten angesprochen werden, brauchen keine Kopiervorlagen und Arbeitsmaterialien. Sie nehmen ihnen nur wichtige Unterrichtszeit weg.

Mit einem Wort: Das Schreiben und Verstehen von Lyrik ist zwar auch ein handwerklicher Prozess, oder wie es wieder Wittkamp auf den Punkt bringt:

Dass
er
leime
oder
löte,
wenn
er
reime,
sagte
Göthe.

(aus: Wittkamp, Papageien zu verleihen, 2016)

Aber in seiner Werkstatt wurde mit Sprache gearbeitet und nicht mit Kleister und Butterbrotpapier!

Titel: Sammelrezension: Aktuelle Forschung zu Kinderlyrik