Inhalt
In den einleitenden Seiten des Bandes skizzieren die Herausgeberinnen zunächst ihren eigenen Ansatz in Bezug auf die Definition bzw. Systematisierung mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur, welche sie anhand des Bildes einer Skala mit zwei Polen veranschaulichen. Der eine Pol umfasst überwiegend einsprachige Texte, die nur einzelne Einschübe aus weiteren Sprachen enthalten, während dagegen am anderen Ende der Skala Übersetzungen stehen, die noch erkennbare Zeichen des sprachlichen Übertragungsprozesses beinhalten. Zwischen den beiden Polen dieser Skala seien vielfältigste Erscheinungsformen literarischer Mehrsprachigkeit möglich. Hieran anschließend wird die Struktur des Sammelbandes erläutert, die sich an den im Untertitel genannten Aspekten der Systematik, Didaktik und Verbreitung mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur orientiert, denen jeweils ein Unterkapitel gewidmet ist. Ein viertes Kapitel zielt auf den "Blick über den Tellerrand" und thematisiert internationale mehrsprachige Publikationen sowie ausgewählte Werke der Migrationsliteratur.
Kritik
Den ersten Beitrag des Bandes bildet ein literaturhistorischer und -theoretischer Exkurs von Hans-Heino Ewers zur Bedeutung einer für viele Erscheinungsformen der (Kinder- und Jugend-)Literatur immanenten Redeform: der bildlichen Rede. Das nicht direkt dem Titel des Sammelbands verpflichtete Ziel von Ewers Ausführungen ist es, auf das didaktische Potential von Literatur bei der Entwicklung der Fähigkeiten Heranwachsender in Bezug auf die Entschlüsselung von Bilderwelten hinzuweisen. Dies sei eine in erster Linie intellektuelle Fähigkeit, deren Vermittlung gerade im Hinblick auf die heutige, symbolisch überformte Lebenswelt eine dringliche Aufgabe von Bildung darstelle. Einen zweiten weiträumigen Bogen um das engere Thema des Sammelbandes spannt der musikpädagogische Beitrag von Alexandra Kertz-Welzel und Franz Comploi zur klanglichen Dimension von Sprache. Sie verstehen das Thema Mehrsprachigkeit als Mehrstimmigkeit und beleuchten, diesem Ansatz folgend, die Überschneidungsbereiche zwischen den Phänomenen Musik und Sprache. Hierbei konzentrieren sie sich insbesondere auf die Bedeutung der an dieser Schnittstelle zu erwerbenden klanglich-musikalischen Sprachbewusstheit (audio literacy) für den (Fremd-) Sprach(en)unterricht sowie die in der klanglichen Dimension von literarischen Texten zu machenden ästhetischen Erfahrungen. Antworten zu Fragen der Systematisierung mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur, wie in der Kapitelüberschrift des Bandes angekündigt, können diese beiden Aufsätze nur entfernt anklingen lassen. Die weiteren beiden Beiträge in diesem Teil des Sammelbands zu "systematischen Zugriffen auf mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur" richten ihren Blick dann gezielt auf Qualitätsmerkmale, Erscheinungsformen und Funktionen dieses Genres. Sabine Anselm entwirft in ihrem Beitrag eine Bewertungskategorie, mit der sich gute mehrsprachige Literatur einordnen lässt. Solche qualitätsvollen Texte thematisieren nach Anselm ästhetische und ethische Fragen gleichermaßen und ermöglichen den Rezipierenden den Ausbau ihrer Wertreflexionskompetenz (reflective literacy). Sprachen werden in diesen Werken nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern als Teil der kulturellen Identität erfahrbar.
Der das Systematisierungskapitel des Bandes abschließende Beitrag Jana Mikotas verdeutlicht, in Rekurs auf Ulrike Eder, zunächst die grundlegende Unterscheidung mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur in additiv bzw. integrativ mehrsprachige Texte. Anhand zahlreicher gelungener Beispiele aktueller mehrsprachiger Kinder- und Jugendromane zeigt Mikota die wichtigsten Funktionen dieser literarischen Gattung auf: die Sensibilisierung für Sprachenvielfalt, Sprachenlernen, Sprachlosigkeit, unterschiedliche Sprachprestige und mehr-sprachige Lebenswelten sowie die literarische Gestaltung der Bedeutung von Sprache(n) u.a. in Bezug auf (hybride) Identitäten, Gefühle von Geborgenheit/Fremdsein und Macht/Machtlosigkeit.
Das zweite Teilkapitel des Bandes zu didaktischen Überlegungen in Hinblick auf mehrsprachige Kinder- und Jugendliteratur eröffnet ein Beitrag von Uta Hauck-Thum, in dem über die positiven Ergebnisse aus einem schulischen Erzählprojekt berichtet wird, das auf die Aus- und Fortbildung von Grundschullehrkräften zielt. Die Autorin stellt die didaktischen Potentiale eines integriert mehrsprachigen (freien) Erzählens von Märchen in sprachlich heterogenen Grundschulklassen argumentativ überzeugend dar. Mündliches Erzählen ermöglicht in diesem Projekt einen gemeinsamen Erfahrungsraum, in dem unterschiedliche Herkunftssprachen das integrativ literarisch-sprachliche Lernen bereichern.
Im Anschluss stellt die Projektgruppe der LMU-München, vertreten durch Carina Ascherl, Anja Ballis, Christian Riepl, Lisa Schwendemann, Christina Ulbricht, Axel Wisiorek und Marlene Zöhrer, die theoretische Einbettung und didaktischen Zielsetzungen ihrer digitalen Lernumgebung "Mehrsprach-O-Mat" vor. Die inzwischen unter https://lesefenster.de zugängliche Datenplattform eröffnet Lehrkräften, Lernenden und anderen Interessierten die Möglichkeit zur multimedialen und multimodalen Auseinandersetzung mit mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur.
Der literaturdidaktische Aufsatz von Renata Behrendt fokussiert das Bilderbuch "Zugvögel" des österreichischen Autors und Illustrators Michael Roher, das im Spektrum kinderliterarischer Mehrsprachigkeit einen Sonderfall darstellt, da es sprachliche Andersartigkeit durch die Konstruktion einer Vogelsprache inszeniert. Behrendts Bilderbuchanalyse macht deutlich, dass durch die integrierte Fantasiesprache in Kombination mit der bildlichen Inszenierung von Othering-Prozessen im unterrichtlichen Einsatz vielfältige Ansatzpunkte zum Ausbau sowohl von Language Awareness als auch (transkulturellem) literarischen Lernen vorhanden sind.
Nazli Hodaie verweist in ihrem das didaktische Unterkapitel abschließenden Beitrag auf das überholte Verständnis von Mehrsprachigkeit als binären Nebeneinander klar abgrenzbarer Sprachen (mit einem Machtgefälle zwischen Deutsch und den jeweiligen andere Sprachen). Jenes scheint für Hodaie in vielen, überwiegend additiv mehrsprachigen Bilderbüchern und den diese publizierenden Verlagen vorzuherrschen. Auch in ihrer Analyse der dazugehörigen Unterrichtsmaterialien erkennt sie, bis auf einzelne Ausnahmen, kaum Einbezug einer dynamischen Sicht auf das Phänomens Mehrsprachigkeit.
Das dritte Kapitel des Sammelbands wirft den Blick auf die Sichtbarkeit von Mehrsprachigkeit in kinderliterarischen Übersetzungen sowie auf das Interesse und die Motivation deutscher Kinderbuchverlage, mehrsprachige Publikationen zu lancieren. Hierbei kommen Experten wie Ulrich Störiko-Blume zu Wort, der die einschlägigen Verlagshäuser nach ihrer Haltung zu mehrsprachiger Kinderliteratur befragt hat und in seinem Beitrag resümiert, dass diese Textsorte nach wie vor ein Nischendasein fristet. Auch werden mehrsprachige Publikationen von der maßgeblichen Zielgruppe oft nicht ausreichend wahrgenommen bzw. nachgefragt, um noch stärker in den allgemeinen Buchmarkt vorzudringen. Oxane Leingang nimmt die Leserinnen und Leser mit auf einen spannenden Streifzug durch die deutsch-russische Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte von Hoffmans Struwwelpeter und vergleicht die erste deutsch-russische Ausgabe von 1848 mit der viele Jahre später, im Jahr 2010, entstandenen zweiten deutsch-russischen Version des weltberühmten Kinderbuch-klassikers. Agnes Blümer konstatiert in ihrer Analyse von einer Auswahl kinderliterarischer Übersetzungen aus dem Englischen, dass trotz der Tendenz zu mehr sprachlicher Hybridität in aktuellen Neuübersetzungen, die dort enthaltene Mehrsprachigkeit immer noch zu kaschieren versucht wird.
Die letzten drei Beiträge von Christian Raabe, Michael Penzold und A. Vefa Akseki erfüllen im abschließenden Kapitel des Sammelbandes "Ein Blick über den Tellerrand" eben diesen Anspruch, indem sie sich mehrsprachigen Publikationen im internationalen Raum zuwenden bzw. deutschsprachige Werke von Autorinnen und Autoren mit türkischer Migrationsgeschichte und deren didaktisches Potential analysieren.
Fazit
Der eklektizistische Ansatz des Sammelbandes ist vor allem für die im Feld der mehrsprachigen Kinder- und Jugendliteratur bereits eingearbeiteten Leserinnen und Leser von Interesse. Einführendes und Grundlegendes wird hier nur stellenweise geboten.
Ergänzungen zur Theorienentwicklung im Bereich der Systematisierung mehrsprachiger Kinder- und Jugendliteratur (im engeren Sinne) bilden im entsprechenden Unterkapitel eine Leerstelle. Darüber hinaus kommt die für den aktuellen Diskurs um Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Literatur wichtige migrationsgesellschaftliche Perspektive nur in Nazli Hodaies und Jana Mikotas Ausführungen zum Tragen.
Die im Sammelband präsente Berücksichtigung der Interessenlage innerhalb der deutschen Verlagslandschaft und der Entwicklungen auf dem internationalen Buchmarkt ist insbesondere bei mehrsprachiger Literatur lohnend, denn diese Sichtweise spiegelt die Tatsache wider, dass gesellschaftspolitische Einflüsse und Veränderungen bei dieser Textgattung sowohl in Bezug auf Erscheinungs- und Gestaltungsformen als auch hinsichtlich Angebot und Nachfrage in besonderem Maße interagieren.
- Name: Ballis, Anja
- Name: Pecher, Claudia Maria
- Name: Schuler, Rebecca