Inhalt
Lampariello beginnt mit einem Definitionskapitel zur Frage, was literarisches Übersetzen sei. Danach folgt ein weiteres Definitionskapitel, diesmal zu Konzepten der KJL und der Übersetzung von KJL sowie zu Text-Bild-Beziehungen.
Der Hauptteil des Buches behandelt Alice’s Adventures in Wonderland, zunächst als Ausgangstext, dann in verschiedenen Übersetzungen. Lampariello analysiert Handlungsstruktur, Erzählperspektive, die Figuren, kulturelle Verweise und Parodien, Sprachspiele und Text-Bild-Beziehungen (auf der Basis von Tenniels Illustrationen). All diese Kategorien spielen bei Übersetzungen eine Rolle und werden von den Übersetzern unterschiedlich interpretiert.
Als Zieltexte werden ausschließlich Übersetzungen ins Deutsche aus dem 20. Jahrhundert analysiert. Lampariello kommt so auf 29 Übersetzungen, teilweise mit neuen Illustrationen.
Kritik
Der Versuch, auf neun Seiten zu definieren, was denn nun eine literarische Übersetzung sei, ist zum Scheitern verurteilt. Übersichtswerke wie das Handbuch Translation oder die Encyclopedia of Translation Studies werden leider nicht zu Rate gezogen. Das Unterkapitel zum literarischen Übersetzen in der KJL taucht weiter unten im Kapitel "Kinder- und Jugendliteratur – allgemein" auf, hätte oben aber besser gepasst. Insgesamt wird wenig translationswissenschaftliche Literatur genutzt. Der Autor greift nur auf Reiss, Nord und O’Sullivan zurück, Literatur zur Übersetzung von Sprachspielen oder Eigennamen bleibt unberücksichtigt. (Die verwendete Fachliteratur aus dem Bereich KJL ist solide; die zu erwartenden Titel werden angeführt. Agnes Blümers hervorragende Dissertation erschien vermutlich zu spät für eine Auswertung.)
Das Problem bei beiden Einführungskapiteln ist, dass eine große Menge an Informationen angeführt wird, die für die vorliegende Arbeit irrelevant sind. Das betrifft die Bibelübersetzung Luthers ebenso wie die Hinweise auf die KJL des Mittelalters. Weit wichtiger ist die Charakterisierung der neueren englischen Kinderliteratur und ihrer Doppeltadressiertheit, die in diesem Kapitel ein wenig untergeht.
Die Analyse der Übersetzungen selbst beginnt erst auf Seite 177. Vorher werden die Eigenheiten des Buches von verschiedenen Gesichtspunkten her dargelegt; es ist tatsächlich schwer zu entscheiden, welche Informationen besser vor den Analysen und welche direkt bei den einzelnen Analysen eingefügt werden sollten. Die in den Hauptteilen verwendeten Analysekriterien sind ergiebig und passend zum Ausgangstext ausgewählt. Sie sind einerseits sprachpaargebunden, andererseits kulturgebunden. Der besseren Lesbarkeit halber wäre es sinnvoll gewesen, vor jede Teilanalyse den jeweiligen Ausgangstext zu stellen und nicht nur die Übersetzungen zu zitieren. Die meisten Einzelanalysen sind gut und interessant. Manchmal schießt der Autor über das Ziel hinaus, z. B. wenn er eine Übersetzung als "wörtlich und korrekt" bezeichnet (S. 193) und andere Lösungen nur als "vertretbar". Auch bei den Namensübersetzungen der Cheshire Cat erstickt die Analyse in Details und ist inkohärent. "Harzer Katze" spielt auf den Harzer Käse an, Chester-Katze kommt daher, dass Cheshire Cheese auf Deutsch oft Chester heißt; nur bei Enzensbergers Edamer Katze wird ein Bezug zu einer Käsesorte erkannt, was etwas verwirrend wirkt (S. 213). Andererseits ist bei diesen Überlegungen die Frage relevant, ob die Zielgruppe mit diesen Käse-Lösungen etwas anfangen kann, und die wird von Lampariello zu Recht verneint.
Die Beschränkung der Analyse auf Übersetzungen, die in einem bestimmten Zeitraum erschienen sind, ist sinnvoll. Ein Jahrhundert ist trotzdem sehr lang; in diesem Zeitraum haben sich die Vorstellungen von Kindheit und Kinderliteratur stark verändert. Das wird in den Einleitungskapiteln angesprochen, spielt bei den Übersetzungsanalysen jedoch keine Rolle mehr. Eine Einordnung der Übersetzungen nach entsprechenden Kriterien vor den Detailanalysen wäre hilfreich gewesen. Auch die Zeitgebundenheit der Illustrationsstile und ihre Verwandtschaft zu anderen illustrierten Werken der Kinderliteratur im Erscheinungszeitraum wird nicht thematisiert. Das zusammenfassende Kapitel zur Kategorisierung der Übersetzungen schuldet O’Sullivan viel; Kapitel 4.4.1 wurde fast ausschließlich aus O’Sullivan übernommen. Es ehrt den Autor, dass er gewissenhaft arbeitet und zitiert. Man merkt hier aber auch, dass manche Teilaspekte der Arbeit schon recht erschöpfend behandelt wurden.
Fazit
Die Arbeit ist leider anstrengend zu lesen, das Sprachlektorat könnte besser sein. Die Arbeit weist sehr gute Ansätze auf, angefangen von dem Gedanken, eine auch quantitativ orientierte Untersuchung der Alice-Übersetzungen durchzuführen. Die Idee, die Vergleiche tabellarisch darzustellen, erleichtert den Überblick erheblich und hätte konsequenter eingesetzt werden sollen. Schließlich ist die Liste der Sekundärliteratur mit sieben Seiten vergleichsweise kurz. Wer sich speziell für Alice-Übersetzungen interessiert, findet in dieser Arbeit nützliche Informationen. Insgesamt will die Arbeit jedoch zu viel. Eine Beschränkung auf einen Analyseaspekt und ein Verzicht auf Teile der Einleitung hätten der Arbeit gut getan.
Eine Anmerkung kann allerdings nicht unwidersprochen bleiben: "Wem Gott will rechte Gunst erweisen / den schickt er in die Wurstfabrik / Und lässt ihn in die Würste beißen / und gibt ihm einen Zipfel mit" (bzw. Varianten) stammt nicht aus der Übersetzung von Wachsmuth/Horn von 1948. Der Vers wird schon in Deutsches Kinderlied und Kinderspiel von Lewalter und Schläger als bei Kindern in Hessen beliebte Parodie angeführt, Erscheinungsjahr 1911, dort Nr. 582. Der Hinweis bei Jacoby ist also korrekt.
- Name: Lampariello, Sandro