Inhalt
Mitten in der Nacht wird der 13-jährige Ollie Turner, dessen Eltern vor Jahren bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen sind, aus dem Bett gezerrt und gemeinsam mit seiner Pflegemutter Nancy entführt. Nancy wird schon bald brutal ermordet, während Ollie seinen Peinigern mit unbekannter Hilfe entfliehen kann. Die Helferinnen und Helfer sind jugendliche Mitglieder einer geheimen Gruppe im heutigen London, die sich "Haven" nennt. Auf verschlungenen Wegen im Großstadt-Untergrund wird Ollie in die Haven-Zentrale gebracht. Es ist der geheime Zufluchtsort von Straßenkids, Waisen und Flüchtlingskindern. Eigentlich will Ollie so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse bei Konflikten mit der Straßengang der Razors. Deren Anführer Danny würde sie eigentlich sofort umbringen lassen; doch er wird sie verschonen, wenn sie seinen entführten Sohn Harvey innerhalb von 24 Stunden aufspüren und zu ihm zurückbringen. Falls dies nicht gelingen sollte, wird Erik, den Danny als Geisel festhält, sterben müssen. Ollie beteiligt sich an der Suche, und tatsächlich finden sie Harvey, der mit vielen anderen Bandenkids von Maddy Sikes, einer machtbesessenen Mörderin, festgehalten wird. Sikes plant, ganz London mit Giftgasbomben zu terrorisieren, um die Stadt zu unterwerfen. Eigentlich spricht alles dagegen, dass es Ollie und den Raven-Kids gelingen könnte, diese menschenverachtende Tat zu verhindern. Aber aufgeben ist keine Option; sie wollen auch die allerkleinste Chance nutzen. Es kommt zum dramatischen Showdown...
Kritik
Simon Lelic hat sich bislang vor allem als Autor von Krimis und Thrillern für Erwachsene einen Namen gemacht. Mit The Haven – Im Untergrund hat er einen rasanten Actionroman für Jugendliche vorgelegt, in dem auch Themen wie Freundschaft, Vertrauen und Verlässlichkeit unter Teenagern thematisiert werden. Der Plot spielt in einer weitgehend abgeschlossenen Gemeinschaft junger Menschen, die sich in London als eine geheime Untergrundorganisation zusammengeschlossen haben; diese kümmert sich um Obdachlose, Flüchtlinge, Waisen, Kids, die es mit Banden zu tun bekommen oder anderweitig benachteiligt sind. Erwachsene sind in diesem als "Haven" bezeichneten "Zufluchtsort" (S. 113) quasi unerwünscht:
Das ist das Coolste an der ganzen Sache. Hier gibt es keine Erwachsenen. […] Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass sich Erwachsene nicht immer für die Interessen von Kindern und Jugendlichen einsetzen. (S. 51)
Hast du jemals einen Erwachsenen getroffen, der nicht glaubt, dass Erwachsene alles besser wissen? (S. 118)
Im "Haven" bekommen alle zu essen, eine Unterkunft, eine Ausbildung und eine Art Familie. Schulische Bildung findet in Eigenregie und ohne Frontalunterricht statt: Die Älteren unterrichten die Jüngeren. Die finanzielle Unterstützung erfolgt durch Ehemalige aus der Gemeinschaft, die es zu Geld, Amt und Würden gebracht haben. Ein Seitenhieb gegen die Politiker, die eine derartige Wohltätigkeit "in reinster Form" (S. 118) eigentlich unterstützen müssten, bleibt nicht aus:
Wenn die Regierung herausfinden würde, was wir hier tun […], wäre es mit dem Haven vorbei. Die Regierung würde die Kinder in Heime oder Flüchtlingszentren oder zurück in die Kriegsgebiete schicken, aus denen sie geflohen sind. (ebd.)
Derartig stereotype Pauschalierungen werden dadurch unterstrichen, dass es – abgesehen von der alten, blinden Tante Fay – vor allem Erwachsene sind, die im Roman das Böse in ausgeprägter Form vertreten. In erster Linie ist dies Maddy Sikes, eine machtgierige, gänzlich skrupellose Massenmörderin, über deren Beweggründe nahezu nichts mitgeteilt wird, abgesehen davon, dass sie als Schülerin wohl heftig gemobbt wurde. Ihr zur Seite stehen mehr oder weniger gesichtslose Schergen, dazu der verrückte Wissenschaftler Dr. Kurt Gruber (der u.a für das Regime in Nordkorea gearbeitet und ein tödliches Giftgas entwickelt hat) sowie ein blutrünstiger Husky, der auf Kommando Menschen tot beißt.
Gegen diese geradezu satanische Phalanx muss sich Ollie Turner, der ungefragt zunehmend in die Rolle eines Führers und Erlösers gedrängt wird, mit seinen zunächst noch ungeahnten Fähigkeiten behaupten. Dass er eigentlich keinerlei Ambitionen auf diese Position hat, spricht für ihn, so wie es Tante Fay ausdrückt: "Meiner Erfahrung nach sollte jeder, den es danach verlangt, die Führung zu übernehmen, automatisch für den Job disqualifiziert werden" (S. 298).
Eine solche, wie comicartig überzeichnete Schwarz-Weiß-Szenerie der Protagonisten wäre in einem Fantasy-Roman einigermaßen problemlos; die Tatsache, dass Lelic seinen Roman jedoch nicht in einem fiktiven Raum, sondern explizit in London spielen lässt, dazu unterstreichend auch mit einem direkten historischen Hinweis auf das Kriegsjahr 1941 (S. 111) versehen, vermittelt unpassend den Eindruck eines reichlich realen Geschehens.
Besonders fatal ist dies im Hinblick auf die sich über viele Seiten erstreckenden Schilderungen brutaler Handlungen und nahezu sekundengenau aufgeführter, zumeist akut lebensgefährlicher Ausnahmesituationen, die Schlag auf Schlag folgen und in ihrer Dramatik ständig weiter gesteigert werden. Jedes Mal ist dabei mit nahezu 100%iger Sicherheit ein tödliches Ende zu erwarten, doch im wirklich allerletzten Augenblick ergibt sich dann – zumindest für den Bruchteil einer Sekunde – doch noch ein Ausweg, jedenfalls für die „Guten“. In seinem Bestreben, den Spannungsbogen um keinen Preis einbrechen zu lassen, hat Lelic ihn in einer geradezu unerträglichen Weise maßlos überstrapaziert. Seine um jeden Preis vor allem auf spektakuläre Effekte setzende, dabei nicht selten wenig jugendgerechten Darstellungen konterkarieren den eigentlich guten literarischen Ansatz, mit dem junge Leserinnen und Leser u.a. zu Eigenverantwortung aufgerufen werden.
Dass am Ende die "Bösen" (darunter auch der Jugendliche, der aufgrund von Sikes Lügen zum Verräter wurde) alle sterben müssen, während die "Guten" mit weitgehend harmlosen Blessuren davon kommen, wirkt als ein reichlich simples dramaturgisches Konstrukt.
Die Beschreibung der nur sich knapp über zwei Tage erstreckenden Handlung wirkt insgesamt sehr straff, weist aber einige logische Ungereimtheiten auf.
Hinsichtlich der Geschlechterverteilung sind weibliche Figuren deutlich unterrepräsentiert. Dies wird auch nicht gemindert durch die clevere Computerspezialistin, die im Rollstuhl sitzt und mit Hochbegabten-IQ punkten kann; sinnigerweise hat sie den (männlichen!) Rufnamen Jack.
Genauere Hintergrundinformationen zu den einzelnen, zumeist klischeehaft verwendeten Hauptfiguren, die deren Verhaltensweisen für die Leserinnen und Leser näher erklären oder nachvollziehbarer machen könnten, sind nur spärlich oder gar nicht vorhanden.
Fazit
Simon Lelics erster Band der Reihe The Haven (weitere Bücher sollen folgen) ist zweifellos außerordentlich spannend geschrieben, wirkt aber über weite Strecken hin eher wie ein Drehbuch für einen Horror- oder Katastrophenfilm, bei dem Effekthascherei um jeden Preis betrieben wird. Es ist daher kaum möglich, guten Gewissens eine Empfehlung für ein derartiges, im Hinblick auf pädagogische Einfühlsamkeit unausgewogenes Buch auszusprechen, schon gar nicht für Leserinnen und Leser ab 12 Jahren, wie dies vom Verlag angegeben wird. Ob Lelic einen ansprechenderen Folgeband dieser Action-Reihe vorlegen kann, sei dahingestellt.
- Name: Lelic, Simon
- Name: Lecker, Ann