Inhalt

In der Einleitung (11‒41) erläutert G. Gegenstand, Erkenntnisinteresse, Methodenspektrum und terminologische Grundlagen seiner Untersuchung. Er legt plausibel dar, dass es bislang zwar diverse Teiluntersuchungen zu Schwabs Sagensammlung gegeben hat (insbesondere die Monographien von Daniela Evers 2001 und Maria Rutenfranz 2004 aus dem Bereich der historischen Kinder- und Jugendliteraturforschung), jedoch keine systematische und alle wesentlichen Aspekte umfassende Analyse, die Schwabs Umgang mit seinen antiken Prätexten in den Blick nimmt. G. hilft mit seiner Arbeit also einem Forschungsdesiderat ab, indem er eine synoptische intertextuelle Analyse von Schwabs Sagensammlung mit Blick auf das breite Spektrum der klassischen und nachklassischen antiken Literatur unter Einbezug hermeneutischer Fragestellungen zur Textausdeutung unternimmt. In diesem Kontext will G. auch den spezifischen Umgang von Schwabs Sagenkompendium mit der antiken Tradition klären.

Kritik

Vor der "Quellenanalyse", dem Herzstück seiner Studie (42‒287), klärt G. in seiner Einleitung, die er Schwab und die Mythen überschrieben hat (11‒41), knapp die von ihm verwendeten Begriffe und Methoden. Zentrale Arbeitsinstrumente sind für G. die Konzepte der Intertextualität u.a. nach Manfred Pfister, Hypertextualität nach Gérard Genette und der Begriff des Mythos nach Walter Burkert und Udo Reinhardt. In diesem Kontext setzt sich G. zum zentralen Ziel seiner Monografie, die von Schwab verwendeten Prätexte ausfindig zu machen und dessen mögliche Hilfsmittel zur Erschließung der antiken Literatur zu ermitteln. In diesem Kontext wäre eine Definition des Begriffs "Adaption" sinnvoll gewesen, um diesen von dem der "Nacherzählung" abzugrenzen und präzise festzulegen, welche Umgangsweise mit den Mythen bei Schwab festzustellen ist. Zwischen diesen Definitionen erfährt der Leser in dem biographischen Abriss Gustav Schwab als Pädagoge und Autor (21‒28) von dem vielseitigen Schaffen Schwabs, das neben seiner Tätigkeit als Lehrkraft für alte Sprachen am Stuttgarter Oberen Gymnasium auch die Mitherausgeberschaft neuer Übersetzungen von griechischen und lateinischen Prosaikern ins Deutsche, das Beraten des Cotta-Verlags zur Förderung junger Nachwuchstalente und auch das eigene Verfassen von Texten, Gedichten und sogar einer Abhandlung, in der er für den Zugang von Frauen zur höheren Bildung plädierte, umfasste.

Im folgenden Unterkapitel Schwabs Sagenbuch: Aufbau und Textgeschichte (28‒34) geht G. auf die Disposition von Schwabs Sagenkompendium und seine Untergliederung in drei Bände ein, die sich wiederum nach antikem Vorbild in Bücher und Kapitel einteilen lassen. So umfasst Schwabs Sammlung die mythische Frühzeit der Menschen (Buch 1), für welche u.a. Ovids Metamorphosen den Prätext bilden, die Argonautensage (Buch 2), bei der u.a. die "Argonautika" des Apollonios von Rhodos als Prätext anzusehen ist, Helden und Antihelden (Buch 3) und die Sage um Herkules (Buch 4). Bei der Behandlung des epischen Kyklos, also der Sagen um Troja und der nachiliadischen Texte, finden sich im Literaturverzeichnis keine konkreten Quellen- und Buchangaben mehr. Mit insgesamt knapp 13 Seiten ist die methodische Vorentlastung ausgesprochen komplexer literaturwissenschaftlicher Begriffe und Konzepte wenig umfangreich. Neben der Analyse von Signifikaten von Schwabs Kompendium wäre es auch erhellend gewesen, auf die Discoursebene, also das "Wie?" der Darstellungsweise, bereits auch anhand eines eigenen Gliederungspunktes einzugehen.

In seinem Kapitel über frühzeitliche Mythen, Erster Teil, erstes Buch: Aus der mythischen Frühzeit der Menschheit (44‒98), arbeitet G. konzise heraus, dass sich Schwab nicht nur auf Ovids Metamorphosen beschränke, sondern auch auf mythographische und historiographische Texte wie Apollodor oder Diodor zurückgreife. Des Weiteren habe Schwab auch auf die von ihm besonders geschätzten griechischen Dichter wie Aischylos und Euripides Bezug genommen und Querverweise auf Horaz eingefügt. Nach G.s Einschätzung habe Schwab die Hauptstränge seiner Nacherzählung passagenweise zusätzlich mit Referenzen auf andere Prätexte wie die gerade genannten angereichert, weil ihm die Schilderungen mancher Quellen stellenweise zu wenig detailliert erschienen.

In dem nächsten Teilkapitel über die Argonauten, Erster Teil, zweites Buch: Die Argonauten (99‒158), dessen Erkenntnisse abweichend von den anderen Teilkapiteln in keinem Resümee zusammengefasst werden, stellt G. heraus, dass sich Schwabs Version neben einem dominanten Hauptstrang einer eng am hellenistischen Epos des Apollonios orientierten "Nacherzählung der Argonautenfahrt" (122) u.a. als Kontamination aus Euripides’ berühmter Tragödie Medeia (431 v. Chr.) und einigen Anspielungen an die Mythographen Apollodor und Diodor erweise.

In seinem Kapitel Erster Teil, drittes Buch: Helden und Antihelden (159‒181) behandelt G. nacheinander Meleager und die Eberjagd von Kalydon, Tantalus, Pelops, Niobe und Salmoneus. Er geht dabei auf die lockere genealogische oder motivische Verbindung der Einzelmythen ein und stellt am Beispiel des Königssohns Meleager heraus, dass Schwab diese Sage eher nach Ovids Vorbild und weniger nach der homerischen Version ausgearbeitet hat. In Bezug auf den Sagenkreis um den prominenten Heros Herkules, Erster Teil, viertes Buch: Aus der Herkulessage (182‒220) konstatiert G. erwartbar, dass Schwab "vom homerischen Epos bis zur spätantiken Mythographie (und neuzeitlichen Lexika)" (215) eine große Bandbreite verschiedenster Prätexte konsultiert habe. Für Schwabs Präsentation der Sagenelemente Tod und Apotheose des Herkules schreibt G. den Tragödien "Trachinierinnen" und "Philoktetes" des Sophokles eine Schlüsselrolle zu.

Zuletzt widmet sich G. noch im Kapitel Zweiter Teil (1839): Die Sagen Trojas (221‒287) dem Sagenkomplex um die Stadt Troja, dem trojanischen Krieg und dessen Nachwirkungen. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die von Schwab im Vorwort erwähnten Quellen nicht alle als Prätexte nachweisbar sind. Hierbei konnte G. vorwiegend Prätexte von Euripides und Ovid ausfindig machen, während sich Referenzen auf Sophokles und Horaz nur an je einer Textstelle belegen ließen. Es bleibt jedoch unbeachtet, dass die gerade erwähnten Dichter auch indirekt als Prätexte Verwendung finden konnten, ohne dass wörtliche Bezugnahmen auf diese vorliegen müssen. Es hätte sich hier also angeboten, einen weiteren Begriff von Intertextualität zugrunde zu legen und nach dem System von Texten zu fragen, anstatt sich auf lineare Einzelreferenzen zwischen Hypotexten und Hypertexten zu beschränken.

Im Gesamtfazit der Arbeit, das er auf Deutsch (Schlussbemerkung, 288‒291) und Englisch (Summary, 293‒297) vorlegt, führt G. schlüssig aus, dass Schwab nicht nur die von ihm erwähnten antiken Quellen konsultiert hat, sondern auch "auf ein breites Spektrum zusätzlicher, nicht gekennzeichneter Prätexte zurück[griff]" (288). Die Bandbreite ist dabei sehr groß und erstreckt sich vom archaischen Epos und der attischen Tragödie über die hellenistische Dichtung, die Geschichtsschreibung, Mythographie und die griechische wie römische Prosa der Kaiserzeit bis hin zu spätantiken Textkritikern, Kommentatoren und Dichtern. Besonders lobend hervorzuheben ist der Anhang 1 der Dissertation, der eine Schwabs Darbietung folgende Synopse aller aufgewiesenen antiken Prätexte der jeweils nacherzählten Sagen liefert (298‒305). Ergänzt wird dieser durch eine Häufigkeitsstatistik von Götternamen (306‒307) und genealogische Stammbäume von mythologischen Heldinnen und Helden, welche Schwabs Kompendium prominent behandelt.

Fazit

Insgesamt ist eine akribisch recherchierte, sorgfältig redigierte und viele Details hinsichtlich der Unterschiede zwischen Prätext und Schwabs Posttext enthaltende Arbeit entstanden, die sich z.T. etwas zu sehr mit Kleinigkeiten beschäftigt. Die Signifikatenebene analysiert G. hervorragend und sehr konzise, während er die Signifikanten, also die Art und Weise der Darstellung durch Schwab, eher stiefmütterlich behandelt. So geht er auch weniger auf den bekannten und ausgefeilten Prosarhythmus von Schwab ein, den dieser zur Nachahmung des Versmaßes antiker Dichter wie Homer und Ovid kreierte. Die daraus resultierende, bisweilen sperrige Satzstellung wurde in späteren Ausgaben geglättet. Bei dieser Analyse bleiben die neueren Ausgaben und deren Modernisierungstendenzen leider unberücksichtigt. So steht lediglich die Ausgabe von Schwabs Nacherzählungen aus dem 19. Jahrhundert im Fokus.

Die Hauptthese der Arbeit, dass Schwab weit mehr als die bislang in der Forschung herausgestellten bzw. von ihm selbst genannten Quellen verwendet hat, hat G. zwar deutlich und zielführend herausgearbeitet, jedoch weniger hypothesengeleitet, sodass sich der Aufbau seiner Arbeit als eher deskriptiv erweist. Deswegen und durch die tendenziell sehr knappe Abhandlung zentraler Begriffe (mit Ausnahme des Mythos-Begriffs) oder die Vernachlässigung von Konzepten wie "Adaption" im Theorieteil verschenkt G. viel Potenzial. Trotz dieser Defizite hat G. eine weiterführende Studie vorgelegt, in der er mit großem Fleiß zu zeigen vermag, dass Schwabs Kompendium keineswegs in seiner intertextuellen Differenziertheit unterschätzt werden sollte, nur weil es sich dabei letztlich um ein Werk der Populärkultur (v.a. für Heranwachsende) handelt.

Literaturhinweis

  • Stierstorfer, Michael: Rezension von Jonathan Gross: Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antiken Quellen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2020. In: Gymnasium, Heft 4 (2020), S. 400-402.
Titel: Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antiken Quellen
Autor/-in:
  • Name: Groß, Jonathan
Erscheinungsort: Göttingen
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: V&R Verlag Antike
ISBN-13: 9783-946317-432
Seitenzahl: 358
Preis: 70,00 €
Groß, Jonathan: Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antiken Quellen