Inhalt

Konkret interessiert sich Kißling für "die Interferenzen zwischen (kolonial-) rassistischen Diskursen und Literatur sowohl auf Basis der Primärtexte als auch auf Grundlage ihrer Kommentierungen im Literaturunterricht in Form von Lehr- und Lernwerken" (S. 14).

Was genau die Autorin unter dem Terminus Rassismus verstanden wissen möchte, eine ordnungsstrukturierende Diskurslogik und ein Alltagsphänomen nämlich, klärt sie gleich zu Beginn ihrer Überlegungen unter Bezugnahme auf ihre theoretische Grundlage, die kritische Weißseinsforschung. Kißling nennt in diesem Rahmen Rassismusformen im deutschsprachigen Raum und nimmt eine terminologische Reflexion vor, die sowohl Weißsein als kritische Analysekategorie als auch den People of Color-Ansatz ins Zentrum stellt (vgl. Kapitel 2). An diese terminologische Klärung schließen sich allgemeine theoretische Überlegungen zur Interferenz von Rassismus und Literatur an. Im Rückgriff auf Theoretiker wie Wolfgang Welsh möchte Kißling Ästhetik im Sinne von Aisthesis verstehen und damit Literatur "als ein historisches Produkt [...], das sowohl affirmativ als auch subversiv von spezifischen Tätigkeiten und Kontrollformen kolonial-/rassistischen Wissens, Hörens und Denkens durchzogen ist. [...] Literatur subvertiert und reflektiert über ihre ästhetische Faktur Alteritätskonstruktionen, sie reproduziert aber auch kulturalisierte und rassifizierte Differenzkonstruktionen" (S. 67). Ausgehend von diesem Literaturverständnis fragt Kißling danach, wie sich weiße Ästhetik in literarischen Texten identifizieren lässt, und bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung mit Repräsentationsverhältnissen vor allem auf die Spivak’schen Analysebegriffe Rhetorik-als-Trope und Rhetorik-als-Überzeugung (vgl. Kapitel 3).

Schließlich überführt Kißling ihre theoretischen Überlegungen in einen methodischen Ansatz, der Literatur als Spannungsfeld zwischen Affirmation und Subversion wahrnimmt und das scheinbar Normale und Unmarkierte gezielt in den Blick zu nehmen vermag: den Ansatz der postkolonialen Diskursanalyse. In einem eigenen Kapitel erläutert Kißling zunächst sehr detailliert das methodische Vorgehen der Diskursanalyse im Allgemeinen sowie den Stellenwert des Diskursfeldes Literatur im Besonderen. Sie exponiert sich innerhalb des Feldes der postkolonialen Diskursanalyse vor allem durch ihre Entscheidung, Bildungsmedien im Kontext ihrer Analysen zu berücksichtigen, was sie damit begründet, durch diese "Aufschluss über den öffentlichen Umgang mit Rassismus und Kolonialismus in einer Gesellschaft" (S. 137) zu erhalten.

Im Mittelteil ihrer Studie zu Weißer Normalität nimmt die Autorin auf Basis der vorgestellten theoretischen Grundlagen Beispielanalysen vor, um ihre These von der Verflechtung von Rassismus und Literatur zu überprüfen. Für die Analysen werden drei Texte aus dem (Schul-) Kanon herangezogen, die zudem verschiedenen Phasen deutscher Kolonialgeschichte entstammen: dem späten 18. Jahrhundert als "Phase kolonialer Phantasien in Deutschland" (S. 360)), der Hochphase kolonialer Beteiligung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie der postkolonialen Ära. Repräsentativ für die erste Phase liest Kießling Goethes Iphigenie auf Tauris als ein Stück, das einen weißen Normalitätsraum vorzeichne, weil es ausgehend von der Verflechtung von Iphigenies Asexualität mit Konlonialfantasien einen weiße Norm präfiguriere. Dem Drama sei eine implizite Form kulturrassistischer Rhetorik inhärent, die eine Kontextualisierung durch historische Diskurse erfahren müsse. Die zweite Phase wird durch Fontanes Effi Briest repräsentiert. Auch bei der Lektüre dieses Romans wird das Verhältnis von literarischem Text und zeitgenössischen kolonialrassistischen Diskursen in den Fokus gerückt. Für Koeppens Roman Tauben im Gras als Text der postkolonialen Ära wird schließlich ebenfalls eine diskursive Kontinuität nachgewiesen, die von der Nachkriegszeit über das Dritte Reich bis in die Zeit des Kolonialismus reiche. Zusätzlich zu diesen Primärtexten werden relevante Unterrichtsentwürfe und Materialien in die diskursanalytische Betrachtung einbezogen, da Schulbuchmaterialien zum einen ein "gesellschaftlich akzeptables Wissen" (S. 134) präsentierten und damit einen Kontrast zu literarischen Texten bildeten, denen Kißling im Rekurs auf Foucault zuspricht, Diskurslogiken nicht einfach abzubilden, sondern diese zu transformieren und zu irritieren. Zum anderen seien kommentierende Texte und Unterrichtsentwürfe unbedingt in die Betrachtung einzubeziehen, weil "Bildungsmaterialien in den letzten Jahren eine Funktionserweiterung von der Planungsanregung hin zum Planungsersatz" (S. 367) erfahren hätten und ihnen somit ein immenser Einfluss auf didaktische Entscheidungen und die Gestaltung des Deutschunterrichtes zukomme.

Mit ihren Analysen nimmt Kißling die Aspekte der Figurenkonstellation, der Figurenrede und Repräsentation sowie der Sprache in den Blick und kann in allen drei untersuchten Werken Diskursspuren zum deutschen Kolonialismus nachweisen, wobei sich diese in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen (discours/histore) zeigten.

Die Bildungsmaterialien analysiert Kißling im Hinblick auf die vier zentralen Aspekte Thema (Auf welche Inhalte fokussieren Aufgaben- und Fragestellungen?), vorgeschlagene Methoden und Sozialformen (Wie wird methodisch aufgefangen, dass die Texte u.a. rassistische Stereotype verhandeln?), Interferenz von Sprache und Rassismus (Umgang mit rassistischen Begriffen, die im Werk vorkommen) sowie Aufgabenkultur (Beschaffenheit der Aufgabenstellungen und Wechselbeziehungen mit den Bildungsstandards und Vorgaben). Die Tatsache, ob Rassismen eher implizit in den Werken verhandelt würden (z.B. bei Goethe oder Fontane) oder ob sie klar zu erkennen seien (wie bei Koeppen), wirke sich sowohl auf die Thematisierung in der Forschung als auch auf die Gestaltung der Bildungsmaterialien aus. Es gebe eine Tendenz, dass implizites Wissen zu Nicht-Thematisierung führe. Räume weißer Normalität würden demnach nicht ausschließlich in den Primärtexten produziert oder parodistisch unterlaufen, sondern in Folge eines unbewussten Umgangs mit Rassismus auch sekundär in den Bildungsmaterialien bzw. im Unterricht inszeniert und stabilisiert.

Kißling zieht aus ihren Analysen für die Literaturdidaktik das klare Fazit, dass sich eine postkoloniale und rassismussensible didaktische Ausrichtung nicht primär an der Auswahl der Texte festmache, sondern vor allem auch die Art und Weise der Vermittlung entscheidend sei. Diese Feststellung überführt sie im anschließenden Perspektiven-Kapitel in Handlungsvorschläge für die Literaturdidaktik.

Die Autorin plädiert zunächst für eine Erweiterung des Deutungskanons um die postkoloniale Diskursanalyse sowie für eine Erweiterung des Methodenrepertoires um diskriminierungssensible Verfahren wie die Anti-Bias- und Social-Justice-Ansätze (vgl. 327ff.). Schließlich gehöre auch die sprachliche Reflexion, d.h. eine sprachsensible Lektüre, die sich der Verstrickung von Sprache und Verletzbarkeit bewusst sei und Sprache als Speicher kolonialen Wissens betrachte, zu den Aufgaben einer rassismussensiblen Literaturdidaktik (vgl. S. 301ff.).

Um nicht Gefahr zu laufen, ausschließlich ein weißes Bildungssubjekt zu adressieren oder nur einen weißen Blick anzubieten und zu tradieren, erarbeitet Kißling "Leitfragen zur Reflexion und / oder Erstellung von Bildungsmaterialien", die einen praxistauglichen Leitfaden für Lehrkräfte im Unterrichtsalltag liefern sollen (vgl. S. 353f.).

Eine rassismussensible Literaturdidaktik im Sinne Kißlings erhebt Rassismus keineswegs explizit zum Unterrichtsgegenstand, sondern zeigt sich aufmerksam sowohl für die soziale Situierung von Figuren in diegetischen Räumen als auch von Schülerinnen und Schülern im Klassenraum. Darüber hinaus bilde sie eine Sensibilität für die Verletzbarkeit durch Sprache heraus und verbinde bestehende methodisch-literaturtheoretische Zugriffe systematisch mit rassismustheoretischen Überlegungen. Damit beschreibt Kißling eine Erweiterung der allgemeinen Literaturdidaktik, der sie zutraut, adäquat auf die Herausforderungen von Schule in der Migrationsgesellschaft reagieren zu können.

Kritik

Tatsächlich ist Kißlings Arbeit für den schulischen Alltag hochaktuell, denn Rassismus hat – wie sie selbst auch betont - spätestens seit dem PISA-Schock 2001 im Hinblick auf das Schulwesen seinen Status als marginales Problem verloren und ist zu einer Herausforderung auch für den Literaturunterricht geworden. Dem naheliegenden Vorwurf, Literatur werde in einer postkolonial ausgerichteten Literaturdidaktik (politisch) instrumentalisiert, begegnet Kißling mit einem Rückblick auf die Genese der Literaturdidaktik, in welcher sie darstellt, "dass Literatur im Schulunterricht von Beginn an und mit nur wenigen Ausnahmen im Interesse pädagogischer und (bildungs-) politischer Zwecke stand" (S. 304). Da sich vermeintliches Wissen bestätigt und Benachteiligung entstehe, wenn sich Fragen- und Aufgabenstellungen einseitig auf ein weiß imaginiertes Bildungssubjekt richteten, komme Literaturdidaktik nicht umhin, ethische Maßstäbe an die Unterrichtsplanung und Gestaltung anzulegen (vgl. S. 307). Der Literaturunterricht stehe vor der Herausforderung, literarische Verfahrenstechniken zu reflektieren, die – affirmativ oder subversiv – historisches, soziales und kulturelles Wissen auf spezifische Weise verarbeiteten (vgl. S. 308) Kißlings Kritik richtet sich hier auch gegen eine Standardisierung von Bildungsinhalten, die sie als "permanente Wiederherstellung von Übereinstimmung darüber, wie man denkt, handelt und bewertet" (S. 310) versteht. Es gehe darum, – und dies ist eine Referenz auf Spivak – ein "Lernen von unten" zu ermöglichen, d.h. "ein Lernen von Marginalisierten, deren Perspektiven das standardisierte Wissen hinterfragen und Grenzen der eigenen Episteme vorführen" (S. 311). Durch die mit der Standardisierung einhergehende Outputorientierung würden reflexive Bildungsräume marginalisiert. Schülerinnen und Schüler würden bisher bezüglich kanonischer Texte nicht in einer diskriminierungssensiblen Lektüre ausgebildet, weil die fachspezifischen Kompetenzen einer diversitätssensiblen Lektüre nur für pragmatische und populärliterarische Texte vorgesehen seien (S. 313). Diese deutliche Lenkung des kritischen Blicks auf scheinbar etablierte Unterrichtsgegenstände sowie das Insistieren auf rassismussensibler Aufmerksamkeit als Grundhaltung des Literaturunterrichtes sind das Herzstück von Kißlings Überlegungen.

Ihre theoretischen Darstellungen sind in Bezug auf die postkoloniale Diskursanalyse sowie die kritische Weißseinsforschung sehr ausführlich und ermöglichen es auch bisher in diesen Bereichen wenig versierten Lesern, einen Zugang zu finden. Das literarische Korpus der Arbeit wird schlüssig begründet und die gewählten Texte ermöglichen es Kißling, ihren Punkt sehr deutlich zu machen, dass ein rassismussensibler Deutschunterricht nicht von der Textauswahl abhängig sei, sondern sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für Diversitäten und Sprachpraktiken auszeichne.

Methodisch ist vor allem Kißlings Entscheidung hervorzuheben, auch Bildungsmaterialien in ihre Analysen einzubeziehen. Tatsächlich scheint diese Erweiterung vor dem Hintergrund der von der Autorin skizzierten und als "dürftig" (S. 139) bilanzierten Schulbuch- und Lehrbuchforschung innovativ und notwendig.

Die Ansatzpunkte für eine postkoloniale Literaturdidaktik, die Kißling formuliert, sind konkret und übersichtlich: Die gängigen Lektüreverfahren sollen um die postkoloniale Diskursanalyse ergänzt, die analytischen, handlungs- und produktionsorientierten sowie spielbezogenen Methoden  um diskriminierungssensible Verfahren erweitert werden, Sprachreflexion soll als Gegenstand der Literaturdidaktik begriffen und schließlich soll im Kontext der Aufgabenkultur die Frage nach dem Bildungssubjekt gestellt werden. In Bezug auf die Aufgabenkultur entwickelt Kißling eine nach eigener Beurteilung praxistaugliche 'Checkliste'. Diese formuliert konkrete Aspekte , auf die Aufmerksamkeit zu richten sei. In ihren Fragestellungen fasert diese dann aber dennoch ein wenig aus, etwa wenn zum Punkt Umgang mit Wissen konkretisiert wird:

Auf welche Quellen wird Bezug genommen? Auf welche Forschungsperspektiven im Bereich der Sekundärliteratur rekurrieren die Materialien und welche Interpretationsansätze (postkoloniale, intersektionale, diskursanalytische Theorien) bleiben ausgeklammert? Welche Begriffe und Konzepte werden in den Materialien erläutert und welche als allgemein bekannt vorausgesetzt oder als weniger wichtig erachtet? [...] (S. 353).

Hier erscheinen die Leitfragen, die eine "Zusammenfassung zentraler Aspekte" seien sollen, "die es in der Planung, Durchführung und Reflexion eines rassismussensiblen Literaturunterrichts zu berücksichtigen gilt", eher als assoziative Sammlung.

Insgesamt gewinnt man bei der Lektüre trotz aller Stimmigkeit und Konsequenz in Konzeption und Argumentation gelegentlich den Eindruck, dass mit schwerem theoretischem Geschütz der postkolonialen Theoriebildung operiert wird, der Ertrag für die Unterrichtspraxis dabei aber überschaubar bleibt. Die Perspektivierungen eines rassismussensiblen Literaturunterrichts lassen sich etwas zugespitzt auf den Grundsatz eines "differenzierten Angebots" reduzieren, das keine Identitäten fremd- und festschreibt (vgl. S. 352) und ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Sensibilität für Figurenkonstellationen im diegetischen Raum einerseits und soziale Konstellationen im Klassenraum andererseits sowie für die Sprachverwendung in beiden Räumen aufbringt.  Es stellt sich die Frage, ob zum Erreichen dieses Ziels im Unterricht tatsächlich ein spezifisches Lektüreverfahren oder eine besondere Methodik notwendig ist oder ob sich hier nicht vielmehr eine generelle Herausforderung an die Gesprächskultur im Literaturunterricht präsentiert. Eine offene Gesprächskultur vorausgesetzt, sollte es im literarischen Unterrichtsgespräch unabhängig von einer gewählten Methode jederzeit möglich sein, sowohl ästhetische Brüche zu analysieren und verschiedenen Spuren des Textes zu folgen als auch ein Unwohlsein oder eine Betroffenheit zu artikulieren.

Anders gesagt: Aufmerksamkeit – z.B. für die im Text impliziten Rassismen – lässt sich gewiss durch eine spezifische Fragestellung oder Methodik generieren, sie wird durch diese jedoch auch fokussiert und damit eingeschränkt. Kißling selbst bemerkt abschließend kritisch, dass dem theoretischen Ansatz der Studie neben seinem Potenzial, eine rassismussensible und machtkritische Literaturdidaktik zu perspektivieren, "auch die Gefahr zugrunde liegt, das Gegenteil, das heißt die Determinierung kultureller Alterität, zu bewirken" (S. 369).

Fazit

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Lektüre von Weiße Normalität den Blickwinkel auf scheinbar Bekanntes verändert und eine Sensibilität im Umgang mit Literatur, aber auch mit Schülerinnen und Schülern sowie mit Sprache anmahnt. Darüber hinaus zeichnen sich Kißlings Überlegungen durch eben jene permanente Theorie- und Selbstreflexion aus, die sie von einer kritischen und diversitätssensiblen Literaturdidaktik einfordert, um Alterität offen zu halten. Eine Herausforderung, die es in Theorie und Praxis anzunehmen gilt.

Titel: Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik
Autor/-in:
  • Name: Kißling, Magdalena
Erscheinungsort: Bielefeld
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Aisthesis
ISBN-13: 978-3-8498-1333-8
Seitenzahl: 432
Preis: 45,00 €
Kißling, Magdalena: Weiße Normalität. Perspektiven einer postkolonialen Literaturdidaktik