Inhalt

Der Band besteht aus einem Theorieteil A und einem Praxisteil B und – vor allem für die Forschung bedeutend – einer kommentierten Bibliografie. Die Hauptautorinnen verorten das Werk in ihrer Einleitung explizit im Bereich der heterogenitätsorientierten Literaturdidaktik und sprechen Identitätsentwicklung und das Hinterfragen gesellschaftlicher Normen und Rollenmuster als Aufgaben des Literaturunterrichts ebenso an wie imaginatives Probehandeln. Dabei nehmen sie auch die Problematik der Exklusion männlicher Schüler aus dem Literaturunterrichtsin den Blick.

Zu Beginn wird der theoretische Rahmen gesteckt. In den vier Beiträgen des Theorieteils A werden also zunächst jene Grundsätze erörtert, die später praktisch ausgeführt werden. Dabei stellt Nicola König zunächst die "Grundgedanken", i.s. Demokratisierung, Differenzierung und Entdramatisierung vor. Literaturdidaktik könne zu einer Demokratisierung beitragen, indem einerseits Schülys[1] Handlungsmacht erwerben und vor allem für die Umsetzung grundgesetzlicher Forderungen mehr gendersensible Pädagogik und geschlechtergerechte Bildung zu erfolgen habe. Der Differenzierungsbegriff bezieht sich einerseits auf eine grundlegende Fragestellung des gendersensiblen Unterrichts: Wie können wir Rollenstereotype behandeln, ohne diese damit zu zementieren? Nicola König wirbt hier für eine differenzierte Betrachtung in Forschung und Praxis. Andererseits hat der Begriff der Differenzierung auch methodische Konsequenzen, nämlich im Bereich des differenzierenden Unterrichts. Gerade, weil Genderthemen Schülys besonders persönlich berühren, sei es notwendig, die ‚Gender-Brille‘ immer wieder auf- und absetzen zu können: Im gendersensiblen Literaturunterricht  wird mit Irritation gearbeitet, mit Dramatisierung und transformativer Wirkung, deshalb ist der Aspekt der Entdramatisierung von besonderer Bedeutung.

In einem zweiten Schritt nimmt sich Ines Heiser der Frage der Intersektionalität im Literaturunterricht an. Dieses Feld, das durch die Arbeiten von Andreas Kraß  eine besondere germanistische Tradition hat, wird hier einerseits forschungsmethodisch angesprochen, weil Heiser die Grenzen der geschlechtsorientierten empirischen Forschung in den Blick nimmt, andererseits werden Konsequenzen für die Unterrichtspraxis aufgezeigt. Für den ersten Bereich wirbt sie für eine differenziertere Betrachtung und bietet mehrere Modelle an, für den zweiten bringt sie das Konzept des Pluralitätsbewusstseins ins Spiel und macht gleichzeitig auf die Bedeutung der Repräsentation im Literaturunterricht aufmerksam.

Der Rezeptionshaltung als genderkodierte Praxis wendet sich Ina Brendel-Perpina zu. Sie kontextualisiert die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien (u.a. PISA 2019, PEER-Studie 2010, TaMoLi 2019) einem historischen Blick auf Lesen und Literaturunterricht. Zusätzlich erstellt sie eine kenntnisreiche und informative Zusammenschau mehrerer genderspezifischer Leseinteressens- und Lesesozialisationsuntersuchungen und erläutert ausführlich das Anschlusspotenzial für den Unterricht, u.a. im Kontext der Jungenförderung und des identitätsorientierten Literaturunterrichts.

Eva Maus setzt sich grundsätzlich mit methodischen Aspekten unter Berücksichtigung des Selbstkonzepts auseinander. Auch sie greift den Aspekt der Leseförderung bei männlichen Heranwachsenden auf und skizziert nachvollziehbare methodische Grundbedingungen für die praktische Umsetzung eines gendersensiblen Unterrichts. Dabei spricht sie die Planungsebene ebenso an wie die Ebene der Umsetzung, das erwartete Lehry- ebenso wie das erwartete Schülyverhalten und macht dadurch nach Meinung des Rezensenten die hohe Bedeutung von Selbstreflexion und inhaltlicher Auseinandersetzung deutlich.

Der Praxisteil ist grundsätzlich so aufgebaut, dass in den acht Beiträgen zumeist erst die Relevanz des jeweiligen Themas dargelegt wird und anschließend durch Fragen, Aufgaben oder Beispiele konkrete Anknüpfungspunkte für den Unterricht verdeutlicht wird.

Ines Heiser widmet sich im ersten Kapitel der gendersensiblen Textauswahl. Dafür kehrt sie zunächst die Relevanz von Textauswahl an sich heraus, widmet sich anschließend dem dürftigen Forschungsstand in diesem Feld und macht über den Punkt der genderspezifischen Zugänglichkeit die Signifikanz der Textauswahl gerade für einen gendersensiblen Literaturunterricht deutlich. Sie skizziert wichtige Ansätze für eine diesbezüglichen Textdiagnose, die die formalästhetische Beschaffenheit und den Textstatus in den Blick nimmt, die Fiktionalität und die narrative Gestaltung aber ebenso wie die Ebene der Figurengestaltung konturiert.

Nicola König betrachtet produktionsorientierte Schreibarrangements und füllt damit eine Lücke in der bisherigen Forschung zu genderorientiertem Literaturunterricht. Mit Verfahren wie "Perspektivwechsel" (S. 63), "Geschlechtsmarkierungen verwenden und erkennen" (S. 64), "Experimentieren mit Erzählhaltung und Erzählebenen" (S. 65), der gerade in diesem Kontext so bedeutenden "Mehrperspektivität" (S. 66), dem "Schaffen sprachlicher Rückzugsräume" (S.68) und der Betrachtung von "Textsortenvarianz und Adressatenbezug [sic!] als Erweiterung der Schreibkompetenz" (S. 69), einem Beitrag zum materialgestützten Schreiben schafft sie eine breite Basis mit deutlich erkennbarem Anschlusspotenzial.

Sebastian Tatzels Beitrag zum Film im gendersensiblen Literaturunterricht beginnt mit einer fundierten Betrachtung von genderrelevanten Aspekten im kulturellen Handlungsfeld Film und einer klar formulierten Zielstellung für einen gendersensiblen Filmunterricht. Dabei geht er auf die Filmauswahl, bzw. das Erkennen geeigneter Filme ebenso ein wie auf Analyseverfahren. Ein großer Teil des Beitrags wendet sich auch der didaktischen Begründung der Nutzung des Mediums Film für einen gendersensiblen Literaturunterricht zu, bevor schließlich an einem Beispiel (Das Mädchen Wadjda, SAU/D 2012) Potenziale für die unterrichtliche Behandlung aufgezeigt werden.

Nicola Königs breit angelegter Beitrag Gender und digitale Medien betrachtet Gender vor allem in Hinblick auf den Beitrag zum Erwerb der Digitalkompetenzen. Dabei nimmt sie ausgehend von Zahlen zur jugendlichen Mediennutzung zehn Dimensionen (z.B. Textbegriff, Schreiben, Produzieren etc.) eines digitalen Literaturunterrichts in den Blick und bespricht dabei sowohl die Chancen von Metareflexion mit Schülys als auch konkrete Beispiele für den Unterricht.

Ina Brendel-Perpina wendet sich in ihrem ersten Praxisbeitrag diversen Social Media-Kanälen zu. Dabei widmet sie sich ständig bedeutsamer werdenden Plattformen wie Buchblogs, Booktube und Bookstagram zu und beschreibt anhand einer Vielzahl von Beispielen wesentliche Strukturmerkmale, die für den Literaturunterricht sehr anschlussfähig sind.

Den genderrelevanten Aspekten von Computerspielen widmet Eva Maus einen Beitrag. Darin bespricht sie zum einen wesentliche inhärente Aspekte wie Gamification und die Narrativität von Computerspielen und zeigt andererseits die dadurch entstehenden Potenziale für den Literaturunterricht auf. Gerade das komplexe Verhältnis von Spielerinnen und Spielern zu dem Avatar legt den Einsatz von Computerspielen wie bspw. Minecraft, Temple Run und Sims besonders für einen gendersensiblen Unterricht nahe.

In Brendel-Perpinas zweitem Praxisbeitrag geht es um außerschulische Lernorte, wie Bibliotheken, Leseclubs und auch Fußballplätzen, die nicht nur zur geschlechtsspezifischen Leseförderung einladen, sondern auch Marktmechanismen in den Blick nehmen.

Ines Heisers zweiter Praxisbeitrag widmet sich einem der wichtigen Bereich des gendersensiblen Literaturunterrichts zu, nämlich dem der Unterrichtspraxis. Darin legt sie gut strukturierte wesentliche Reflexionsebenen und Grundsätze dar, die Lehrkräfte insbeondere für einen gendersensiblen Literaturunterricht beachten sollten.

Im Anhang zu diesem Sammelband findet sich eine gut zusammengestellte kommentierte Bibliographie relevanter Literatur, die von Dominik Achtermeier erstellt wurde. In wenigen Sätzen werden hier bedeutende Aspekte älterer und neuerer Texte herausgestellt, die für den gendersensiblen Literaturunterricht sicherlich hilfreich sind.

Kritik

Ein ausführlicherer theoretischer Beitrag, der Aspekte genderspezifischen literarischen Lernens fokussiert, hätte den Band wesentlich bereichert. Dennoch bietet der Sammelband insgesamt spannende und konkrete Ansatzpunkte für einen gendersensiblen Literaturunterricht, nur der angesprochene Demokratisierungsaspekt ist eher unkonkret formuliert. Die zeitgemäße Ausrichtung auf soziale Medien und auch der Einbezug von Filmanalysekonzepten sprechen sehr für diesen Band und machen ihn geradezu beispielhaft für einen modernen Literaturunterricht.

Fazit

Insgesamt bildet Literaturunterricht gendersensibel planen den aktuellen Forschungsstand zur genderorientierten Literaturdidaktik ab, skizziert wesentliche Grundsatzüberlegungen und ergänzt diese durch praxisorientierte und intermediale Ansätze für einen gelungenen  gendersensiblen Unterricht.

 

[1] In dieser Rezension entgendere ich nach Phettberg. Für eine Übersicht siehe bspw. Kronschläger, Thomas: Entgendern nach Phettberg. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2022) 72 (5-7), S. 14–15. Onlinezugriff unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geschlechtergerechte-sprache-2022/

Titel: Literaturunterricht gendersensibel planen. Grundlagen//Methoden//Unterrichtsvorschläge
Herausgeber:
  • Name: Ina-Brendel Perpina
  • Name: Ines Heiser
  • Name: Nicola König
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2020
Verlag: Klett
ISBN-13: 978-3-12-688089-3
Seitenzahl: 180
Preis: 30,00 €
Brendel-Perpina, Ina/Heiser, Ines/König Nicola (Hrsg.): Literaturunterricht gendersensibel planen