Inhalt
Vom Erzählen besteht aus drei Großkapiteln mit insgesamt 14 Beiträgen, die teils neu veröffentlicht sind, teils auf umgearbeiteten Fassungen älterer Beiträge beruhen: „Erzählen im Alltag“, „Traditionsbestand: Erzählmuster“ sowie „Sprache – Starthilfe und Stilbestimmung“. Die Beiträge sind so arrangiert, dass sie thematisch ineinander übergehen.
Die Beiträge im Großkapitel „Erzählen im Alltag“ fokussieren Spielarten des Erzählakts. Beispielsweise reflektieren sie private Gesprächsrunden unter Freunden und Bekannten als zeitgenössische Beispiele mündlicher Erzählkultur. Derlei Gesprächsrunden neigen dazu, sich auf bestimmte Leitmotive einzupendeln, etwa auf Anekdoten bzw. Geschichten über den Fluch und Segen von Mobiltelefonen im Alltag. Die Geschichten, die man hier einander erzählt, werden oft im Überbietungsmodus beigesteuert, die eine Geschichte ist außergewöhnlicher als die andere, wie Bausinger am Beispiel eines Gesprächs über einen Fallschirmspringer, den beim Sprung das Mobiltelefon aus der Tasche fällt, illustriert.
Die Beiträge des Kapitels kreisen auch um die befreiende Wirkung, die es haben kann, in einem solchen Setting endlich die Geschichte, die einem auf dem Herzen liegt, zu erzählen, und sie eruieren die Kunst, scheinbar beiläufig die eigenen Geschichten einzufädeln.
Der Beitrag über den „Sinn sinnloser Erzählungen“ (S. 49–57) wiederum lotet am Beispiel von Nonsensgeschichten und von Geschichten, die (exzessiv) wiederholt erzählt bzw. rezipiert werden, das Feld zwischen der reinen Inhaltsvermittlung und der kommunikativen Funktion von Erzählungen aus. Und in „Man erzählt immer von sich selbst“ reflektiert Bausinger den geradezu therapeutischen Wert dieser Idee:
Mit Erzählungen wird am eigenen Image gearbeitet, also an der Sicht von außen. Aber die zurechtgebogenen Geschichten, die oft mehrfach wiederholt werden, haben auch einen unmittelbaren Effekt der Stabilisierung; sie verbessern das Selbstbild und stärken die Selbstsicherheit der Erzählerinnen und Erzähler. (S. 37)
Das Großkapitel „Erzählmuster“ enthält Beiträge, die sich mit dem Spielcharakter von Märchen beschäftigen, mit dem Zusammenhang von Märchen und Lüge, aber auch mit der Frage nach der Vermittlung von moralischen und anderweitig ‚nützlichen‘ Einsichten qua Erzählungen mit Märchencharakter. In „Der Glaube ans Unglaubliche“ schlägt Bausinger den Bogen zu einer Erkundung des Wörtchens „unglaublich“ im Spannungsfeld zwischen „Aberglaube“ und „Übertreibung“, zwischen historischen phantastisch-übernatürlichen Geschichten und solchen, die eher ‚tall tales‘ oder ‚urban legends‘ in zeitgenössischem Setting zu erzählen scheinen. Bisweilen bewegt sich Bausinger dabei inhaltlich wie stilistisch im unbequemen Grenzbereich zwischen Witz, Parodie und Ressentiment. So gibt er im Kontext einer Reflexion über erzählerische Normalitätserwartungen die „wirkliche oder erfundene“ (S. 126) Geschichte eines Touristenpaars zum Besten, das mit seinem Hund in Asien Urlaub macht: In einem Restaurant bitten diese mit Händen und Füßen um ein wenig Erfrischung für den Hund, der prompt vom zuvorkommenden Restaurantbesitzer mitgenommen wird – um vom gewinnend lächelnden Gastronomen nach einer gewissen Wartezeit „auf einer großen Platte, der Braten schön garniert mit buntem Gemüse“ (S. 127) zurückgebracht zu werden… Dieses Beispiel ist zwar eingebettet in einen Diskurs über Normalitätserwartungen, benennt und problematisiert aber den hier offensichtlichen anekdotenhaften Rassismus nicht. Stattdessen listet Bausinger scheinbar deskriptiv mögliche Reaktionen auf die Anekdote auf:
Mitleid mit dem gutwilligen Paar, […] Schadenfreude über den Schock für naive Ferntouristen [sowie] […] ernsthafte Überlegungen zu den Bedingtheiten unbedingter Tabus mit Berücksichtigung der Normen im eigenen Land, wo Fremden ohne Berücksichtigung ihrer Gewohnheiten und Glaubensvorstellungen Schweinebraten angeboten wird. Im Vordergrund stehen aber die kuriosen Bilder einer makabren, das Gewohnte und Gewöhnliche übersteigenden Geschehens. (S. 127).
Dies sind sicherlich faktisch mögliche Reaktionen, ihnen zu Grunde liegt aber die – hier von Bausinger entweder nicht bemerkte oder aber bewusst nicht thematisierte – Verinnerlichung struktureller Rassismen.
Das Kapitel über „Sprache“ widmet sich Überlegungen zum Sprachwitz, zu der erzählerischen Rolle von Steigerungen, Pointierungen und Begrenzungen (im Sinne defizitärer Kommunikation infolge von Spracherwerbsbarrieren, Tabus oder Missverständnissen) sowie zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Kontext von Online- und Offlinekommunikation.
Kritik
In der Tat bündeln die Beiträge des Bands einen guten Teil der Themen, die Bausinger ein Leben lang begleitet haben, allen voran die „Poesie des Alltags“, wie es im Untertitel heißt: Im Fokus stehen nicht (nur) die Erzeugnisse der Hochkultur, sondern der wissenschaftlich geschulte Blick auf die Geschichten, Witze, Anekdoten, die wir uns im Alltag erzählen, auf die Rolle der Sprache, auf die Funktion des Erzählens im kommunikativen Zusammenhang. Vermittelt werden diese Überlegungen in verständlicher, ein allgemein interessiertes Publikum adressierender Wissenschaftsprosa. Dementsprechend legen die Beiträge jeweils das für die Reflexion nötige begriffliche Fundament, sind aber zugleich garniert mit zahlreichen Beispielen, die bisweilen der Lust des Autors am wissenschaftlichen Fabulieren entsprungen zu sein scheinen. Wenn man so möchte, ist Vom Erzählen eine Studie seiner selbst, denn Bausinger betreibt hier nicht einfach nur Wissenschaft im populärwissenschaftlichen Gewand, sondern erzählt gleichsam selbst vom Nachdenken über das Erzählen.
Der Band schöpft aus Bausingers mehr als ein halbes Jahrhundert umspannendem Forschungsrepertoire, bewegt sich zugleich aber auf der Forschungshöhe der Zeit. Man kann anschaulich mitlesen, wie Bausinger reichlich unsentimental seine volkskundlichen, erzählforscherischen Erkenntnisse mit Blick auf die kommunikative Situation des 21. Jahrhunderts aktualisiert, wie er auch über die Auswirkungen von Online-Kommunikation, von Social Media und der damit einhergehenden zunehmend indirekten Kommunikation reflektiert. Dabei ist er sehr, sehr weit weg vom Geschrei der Manfred Spitzers dieser Welt, sondern nähert sich digitalen Phänomenen mit einem neugierigen, offenen Blick.
Aber mit 95 Jahren hat man natürlich einen etwas weiteren Zeithorizont. Dementsprechend atmen Witze und Anekdoten bisweilen den Geist der Bonner Republik, wie in dem im Inhaltsteil besprochenen Beispiel. Dementsprechend tauchen in den zeitgenössischen Anekdoten und Beispielen nicht nur Smartphones und Facebook auf, sondern auch Orson Welles, Helmut Kohl, Dinner for One oder Viki Leandros‘ Schlager Theo, wir fahr’n nach Lodz. Und dementsprechend wird der digitale Stakkatostil so pfiffig wie einsichtsvoll mit einstigen Ferntelefonaten am Wählscheibentelefon bei der Nachbarin kontrastiert, denn es gab ja Zeiten, in denen zum einen nicht Jede/r ein Telefon hatte und zum anderen gerade Ferntelefonate ungebührlich teuer waren, sodass man sich besser kurzfasste. Gerade in diesem erweiterten Zeithorizont liegt auch eines der Verdienste dieses Bands: Er verbindet in der Person Bausingers nicht nur theoretische Überlegungen, sondern auch eine Auswahl der Forschungsgegenstände der Erzählforschung seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Fazit
Vom Erzählen ist sowohl eine Rückschau auf Bausingers umfassendes Wirken in der Erzählforschung als auch eine leserfreundliche Reflexion über das Erzählen auf der Höhe der Zeit. Und zugleich ein Lesevergnügen, das eigentlich allen ans Herz gelegt sei, die sich auch nur ansatzweise mit erzähltheoretischen und kulturwissenschaftlichen Fragen beschäftigen.
- Name: Bausinger, Hermann