Inhalt

In ihrer Einleitung problematisieren die Herausgeber Sebastian Bernhardt und Thomas Hardtke, dass es aufgrund der Probleme der Methodisierung fraglich sei, „wie Interpretieren (als Methode) lehrbar gemacht werden sollte“ (S. 9). Ausgehend von dieser Feststellung legen sie zunächst den literaturdidaktischen Forschungsstand dar und leiten daraus u. a. die Schlussfolgerung her, dass das Anfertigen der Interpretation im (Deutsch-)Unterricht nicht die analoge Anwendung literaturwissenschaftlicher Interpretationsmethoden verlangt, sondern das Resultat einer vorangegangenen Interpretation des literarischen Gegenstandes durch die Lehrkraft ist. Aus dieser wird ein „Interpretations-Arrangement“ (S. 15) für den Unterricht entwickelt. D. h., die Herausforderung für die Lehrkraft bestehe darin, aus der vorangegangenen Interpretation spezifische Aufgaben zu entwickeln, die einerseits den Interpretationsprozess bei den Schüler*innen initiieren und andererseits die dem literarischen Gegenstand eingeschriebenen Ambivalenzen, Sinnverweigerungen und Leerstellen berücksichtigen. Diese Form der Interpretation bedeute jedoch nicht, die durch die Lehrkraft durchgeführte Interpretation allein didaktisch zu reduzieren, sondern ausgehend von der analytisch-interpretativen Aufbereitung unterschiedlicher Perspektiven Unterrichtarrangements zu modellieren (vgl. S. 15-16).

Das Ziel des Sammelbandes besteht folglich darin, theoretische Möglichkeiten des Modellierens einer didaktisch orientierten Interpretation für die Primar- und Sekundarstufe herauszuarbeiten. Dies erfolgt in insgesamt zwölf Beiträgen, die in drei Sektionen untergliedert sind: wissenschaftstheoretische Perspektiven, literaturdidaktische Theorie-Applikationen und die Spezifik literaturdidaktischer Interpretation. Im ersten Bereich werden in drei Artikeln jeweils unterschiedliche wissenschaftstheoretische sowie -historische Skizzierungen vorgenommen, um aktuelle literaturdidaktische Konzepte des Interpretierens konzeptionell zu verorten. Im zweiten Bereich werden in vier Beiträgen literaturdidaktische Überlegungen mit Konzepten wie der Intertextualität, der psychoanalytischen Märchendidaktik, der Autorschaft oder der Literaturwissenschaft verbunden. Im dritten Bereich werden abschließend exemplarische literaturdidaktische Konzepte und Lehrwerke untersucht. Das Ziel des Sammelbandes ist es, mit dieser heterogenen Zugriffsweise die Facetten des Interpretierens in der Literaturdidaktik zu perspektivieren.

Kritik

Im ersten Teil – wissenschaftshistorische Perspektiven – stellt Mark-Oliver Carl in seinem Beitrag eingangs fest, dass zwar „bis heute nirgends eine ‚Interpretationskompetenz‘ formuliert worden ist“ (S. 25), jedoch die Arbeiten über den Begriff des Interpretierens sich in zwei Diskursstränge verorten ließen: Methodizität und Genialität, die er im weiteren Verlauf chronologisch und unter Berücksichtigung etablierter Ansätze von Platon, Sokrates, Augustinus, Schleiermacher, Dilthey und Gadamer vorstellt. In seiner historischen Skizzierung stellt er u. a. fest, dass Interpretieren über den systematischen Wissenserwerb, die rhetorische Schulung bis hin zur Bildung reiche. Der kursorische und versierte Überblick stellt damit das Interpretieren in ein „ganz neue[s] Netz von Begrifflichkeiten“ (S. 43). Bietet der Artikel zwar einen fundierten Überblick über die verschiedenen historischen Ansätze, sind die literaturdidaktischen Übertragungen nicht in der gleichen Hinsicht ergiebig wie der historische Überblick, da der Artikel abschließend in einer vagen Gegenüberstellung feststellt, dass die Voraussetzungen für das gelingende Interpretieren zwischen der „Inspiration“ und der systematisch vermittelten „Methoden und Strategien“ (S. 47) verharren. Während Carl wissenschaftshistorisch argumentiert, entwickelt Florian Schultz-Pernice plausibel – ausgehend von dem dissonanten Verhältnis der Komplexitätsverweigerung der Disziplinen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik –, inwieweit diese Komplexitätsverweigerung herangezogen werden kann, um die Leistung der einzelnen Disziplinen zu profilieren (vgl. S. 54). Er stellt fest, dass sich die Literaturwissenschaft der Aufgabe der Vermittelbarkeit und einer Interpretierbarkeit entziehe (S. 62), wohingegen die Literaturdidaktik sich auf die Prozesse des Lehrens und Lernens fokussieren sollte (vgl. S. 64). Aus dieser „operativen Naivität“ (S. 63) schlussfolgert er, dass es die „vordringliche Aufgabe der Literaturdidaktik“ sei, „Wege einer für ihre Vermittlungsarbeit anschlussfähigen und produktiven Konstitution ihres Gegenstandes ‚Literatur‘ zu suchen“ (S. 65). Konkrete Vorschläge für eine mögliche Ausgestaltung werden nur marginal vorgestellt. Der dritte und letzte wissenschaftshistorische Beitrag von Martin Kasch legt die „medialen Möglichkeitsbedingungen“ (S. 72) der Interpretationsverfahren offen. Dazu zieht er als Untersuchungsgegenstände u. a. die Rollenspiel-Klausuraufsätze heran, an denen er „eine Doppelung von Textinterpretation und Subjektinterpretation“ (S. 83) feststellt.

In den vier Beiträgen der zweiten Sektion – der literaturdidaktischen Theorie-Applikationen – wird das Interpretieren mit weiteren Theoriekonzepten verbunden, um die Weiterentwicklung der Interpretationsmöglichkeiten zu modellieren. Ausgehend von verschiedenen Konzepten der Intertextualität entwickelt Andreas Wicke anschaulich mögliche didaktische Perspektiven für das Interpretieren in einem intertextuellen Literaturunterricht. Angelehnt an Broichs (1985) Formen der Markierung von Intertextualität stellt Wicke en passant drei Strategien vor: die Markierung im Nebentext, die Markierung im inneren sowie im äußeren Kommunikationssystem (vgl. S. 105-106). Abschließend reflektiert er die Funktionen der Intertextualität für den Deutschunterricht, indem er vier nachvollziehbare Thesen aufstellt, die Anreize für weitergehende Überlegungen bieten (vgl. S. 109). Johanna Tönsing untersucht hingegen – explizit zugeschnitten auf den Deutschunterricht in der Grundschule – die Leistung eines psychoanalytischen Zugriffs in der Beschäftigung mit den Hausmärchen der Brüder Grimm. Ausgehend von den Überlegungen zur Märchendidaktik nach Drewermann (1985) stellt sie die These auf, dass für „die Grundschuldidaktik […] seine Interpretationen deshalb wertvoll sind, weil sie den Lehrer*innen verdeutlichen, inwiefern diese Märchen Bilder und Versprachlichungen von Urängsten für die Kinder anbieten“ (S. 116). Als didaktische Konsequenz buchstabiert sie mit Rückgriff auf die Konzepte des identitätsorientierten Literaturunterrichts (Frederking 2010) das Potential der Märchen in Abgrenzung zu anderen literarischen Texten heraus, wobei der spezifische psychoanalytische Zugriff nicht eindeutig wird. Methodisch schlägt Tönsing aber nachvollziehbar als didaktisches Arrangement das Vorlesen, handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben oder das literarische Gespräch vor, das sie aus fachdidaktischer Perspektive beurteilt und abwägt.

Einen Beitrag für den Sekundarstufenbereich II stellen Marisa Eifler, Carolin Führer und Daniela Matz vor. Sie reflektieren in ihrem Beitrag stichhaltig aus fachdidaktischer Perspektive die Bedeutung der Autorschaft für die Interpretationen im Unterricht. Die leitende These ist, mittels der Autor*innenkategorie „literarische Texte im Sinne einer Ästhetik der Distanz als Reflexions- und Möglichkeitsraum“ (S. 138-139) betrachten zu können. Am Beispiel ausgewählter Gegenwartstexte bzw. abiturrelevanter Aufgaben arbeiten Eifler, Führer und Matz mit Bezug auf Arbeitsaufgaben in Schulbüchern heraus, welche Rolle Autor*innenkonzepte einnehmen. Sie zeigen eindrücklich, dass diese in abiturrelevanten Aufgaben längst eine etablierte Herangehensweise darstellen, wodurch eine weitergehende Beschäftigung mit dem Zusammenspiel zwischen Autorschaft und Konzepten der Interpretation im literaturdidaktischen Diskurs unumgänglich scheine. Auch Friedemann Holder und Bastian Strauch untersuchen am Beispiel von 24 Unterrichtvorschlägen aus den Praxis Deutsch-Heften, welcher Literaturbegriff diesen Unterrichtsvorschlägen zugrunde liegt. Eingangs stellen sie zunächst fest, dass innerhalb der Literaturdidaktik ein „unzureichend profilierter Literaturbegriff“ (S. 163) vorliege und der Gegenstand ‚Literatur‘ aus diskursiven Praktiken erzeugt werde. Daraus leiten sie die These ab, dass literaturdidaktische Unterrichtsvorschläge „nur peripher – auf direkte Bezugstheorien“ (S. 164) zurückgreifen, sodass es notwendig sei, aus Lehrmaterialen die impliziten Konzepte über den Gegenstand der Literatur herauszuarbeiten (vgl. S. 167). Sie eruieren in ihren akribisch ausgerichteten Analysen, dass sich die Praxis Deutsch-Hefte dem Gegenstand der Literatur über Fragen der Ausgestaltung der Perspektiven annähern (vgl. S. 184). Ob die Schlussfolgerung, dass die Repräsentativität der Ergebnisse durch das Peer-Review-Verfahren „von einflussreichen Literaturdidaktiker*innen“ (S. 186) gesichert sei, plausibel ist, müsste man wohl ausführlicher erörtern.

Der dritte Teil des Sammelbandes ist mit „Zur Spezifik literaturdidaktischer Interpretation“ weiter gefasst als die anderen beiden Bereiche. Johannes Windrich moduliert in seinem Beitrag plausibel, dass die didaktische Interpretation grundsätzlich von der subjektiven Textlektüre abhängig ist (vgl. S. 193). Bezugnehmend auf lesedidaktische Studien von Cornelia Rosebrock (2014) konkludiert er, dass der Leseprozess nicht allein das Decodieren textueller Codes umfasst, sondern ebenso aus den affektiven Leseerfahrungen – im Sinne der Embodied Cognition – resultiert (vgl. S. 197). Am Beispiel von Franz Kafkas Das Urteil (1913) veranschaulicht er schlüssig das kongruente Zusammenspiel zwischen objektiver und subjektiver Literaturinterpretation, sodass das Ausklammern affektiv-persönlicher Bedeutungszuschreibungen das Interpretieren zu einem „sinnentleerte[n] Unterfangen“ (S. 210) macht. Auch Daniela Matz erweitert in ihrem Beitrag den Interpretationsvorgang, indem sie für „ein Nachdenken über die im Unterricht vollzogenen Lernwege und ihren Ertrag für das Lernen“ (S. 217) als literaturdidaktische Kategorie plädiert. Ihre leitende These ist, dass mithilfe eines metareflexiven Zugangs „Schüler*innen durch eine Einsicht in Verstehensprozesse und Geltungsbedingungen von Interpretationsaussagen in ihrem literarischen Lernen unterstützt werden“ (S. 218) können. Angelehnt an Kaspar H. Spinners elf Aspekte literarischen Lernens (2006) skizziert Matz überzeugend, warum ein metareflexiver Interpretationsunterricht bisherige Vermittlungsstrategien ergänzt (vgl. S. 237). Eine weitere Reflexion möglicher Vermittlungsstrategien bietet Thomas Ganns Beitrag, der das Verhältnis zwischen Interpretation und Kontext reflektiert, indem er unter Hinzunahme der Studie von Candel Bormanns (2013) Deutungsansätze skizziert. Der letzte Beitrag der Sektion von Ina Henke setzt sich – anders als die vorangegangen Beiträge – weniger mit theoretischen Erweiterungen auseinander, sondern zeigt konsequent und anschaulich, wie verschiedene Ausgaben des Lehrwerkes „Texte, Themen, Strukturen“ – aus den Jahren 1999, 2009 und 2018 – die Begriffe des Interpretierens und Analysierens verwenden. Festgestellt wurde, dass in der Ausgabe von 1999 der Interpretationsbegriff ein „Oberbegriff“ (S. 271) ist, während in der Ausgabe von 2009 die Interpretation eine werkimmanente Analyse umfasst (vgl. S. 273). In der Ausgabe von 2018 fungiert dagegen die Analyse als Oberbegriff (vgl. S. 275). Einleuchtend ist ihre Schlussfolgerung, dass der Begriff der Analyse neutraler erscheine. Das Ergebnis weist darauf hin, wie wichtig verstärkte und intensive Konturierungen, Differenzierungen bzw. Spezialisierungen der Interpretationsverfahren für den (schulischen) Umgang mit Texten sind.

Fazit

Insgesamt deckt der Sammelband eine große Bandbreite des Interpretierens in unterschiedlichen Diskursen, Bezugswissenschaften und konkreten Beispielen ab, indem durchaus disparate Sachverhalte nebeneinander verhandelt werden, um so literaturdidaktische Konzepte des Interpretierens zu vervielfältigen sowie zu perspektivieren. Eindrücklich wurde in der Gesamtlektüre dargelegt, dass die heterogenen Bezugsdisziplinen zur Differenzierung der Interpretationen beitragen. Insbesondere dieser heterogene Zugriff macht die Publikation für unterschiedliche Zielgruppen außerordentlich interessant, da das bereits aufbereitete Themenspektrum Anknüpfungspunkte für weiterführende Recherchen und Forschungsarbeiten anregt, was nicht zuletzt durch die bibliographische Sorgfalt garantiert ist.

Literaturverzeichnis

Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985. S. 31-47.

Candel Bormann, Daniel: Literatur interpretieren. Ein Analyse-Tool. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013.

Drewermann, Eugen: Tiefenpsychologie und Exegese. Die Wahrheit der Formen. Traum, Märchen, Mythos, Sage und Legende. Olten: Walter, 1985.

Frederking, Volker: Identitätsorientierter Literaturunterricht. In: Literatur- und Mediendidaktik. Hrsg. von Volker Frederking, Axel Krommer und Christel Meier. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2010. S. 414-451.

Rosebrock, Cornelia: Literale Sozialisation, Lesekompetenz und Leseförderung. In: Deutschdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Hrsg. von Michael Kämper-van den Boogaart. Berlin: Cornelsen. S. 166-187.

Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 200 (2006). S. 6-16.

Titel: Interpretation – Literaturdidaktische Perspektiven
Herausgeber:
  • Name: Sebastian Bernhardt
  • Name: Thomas Hardtke
Erscheinungsort: Berlin
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Frank & Timme
ISBN-13: 978-3-7329-0818-9
Seitenzahl: 292
Preis: 49,80€
Vor einem türkisen Hintergrund ist in weißer Schrift der Buchtitel,