Inhalt und Kritik

Während die englischsprachige Kinder- und Jugendmedienforschung mediales und literarisches Erzählen von Behinderung bereits seit den 1970er Jahren vergleichsweise umfangreich und systematisch bearbeitet, gibt es im deutschsprachigen Raum abgesehen von einzelnen Publikationen bisher noch kein etabliertes Feld der ‚Literary Disability Studies‘. Der folgende Forschungsüberblick dient der Kontextualisierung von Siercks hier rezensierter Publikation.

So zählen Ulrike Backofens bereits 1987 veröffentlichte „Strickmuster“ zu den bis heute im Feld etablierten Typologisierungsversuchen zur Darstellung von Figuren mit physischen oder psychischen Behinderungen. Erst jüngere Publikationen und Sammelbände erkunden wieder den Bereich zwischen Literaturdidaktik und -wissenschaft (vgl. Pattensen 2004, Frickel/ Kagelmann 2016, Dommes 2019, Frickel/Kagelmann/Seidler/von Glasenapp 2020, von Glasenapp 2020 sowie die Beiträge in der kjl&m 66/3 von 2014). Insbesondere zum erzählerischen Umgang mit Krankheit und Tod liegen lohnenswerte Studien vor (etwa zu Todesnarrativen in graphischen Erzähltexten vgl. Hopp 2015, Philippi 2022; zu Krankheitsnarrativen vgl. Holst/Schäfer/Ullmann 2016, Schäfer 2016). Dennoch: Bisher ist die erzählerische Vielfalt im Umgang mit dem, was unter dem Dachbegriff ‚Behinderung‘ versammelt ist, durch die KJM-Forschung weder in systematischer noch in historischer Hinsicht erschlossen.

In seinem 113 Seiten schmalen Band Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld. 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur sichtet der bekannte Behindertenaktivist Udo Sierck die Darstellung von Figuren mit Behinderungen in 91 deutschsprachigen Erzähltexten seit den 1890er Jahren und gibt dabei wertvolle Anregungen zu weiteren Untersuchungen. Der Diplom-Bibliothekar Sierck war langjähriges Mitglied der ‚Krüppelzeitung‘, die die deutsche Behindertenpolitik maßgeblich begleitet und beeinflusst hat. Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Bücher zu Themen der Behindertenpolitik und -hilfe, die teils in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen wurden, etwa Widerspenstig, eigensinnig, unbequem. Die unbekannte Geschichte behinderter Menschen (2017/2018) oder Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts (2012/2013, mit Christian Mürner). 

Sierck formuliert in der Einleitung verschiedene Anliegen seines Bands: Er konstatiert – ohne konkrete Eruierung der vorhandenen Forschung – ein Defizit in der deutschsprachigen Forschung zu literarischen Behindertenbildern und lenkt den Blick auf die Frage, in wie vielen Werken die von ihren überwiegend nicht-behinderten Autor*innen entworfenen „Behindertenbilder […] allein ihre Vorstellungs- und Gedankenwelt beschreiben“ (7) – und somit entgegen so mancher vordergründig vermeintlicher Innensichten entwerfenden Erzählstrategie eben nicht in genuiner Weise die Lebenswelten behinderter Menschen erzählen. 

Wichtig ist beim Blick auf diese Publikation, dass sie sich explizit nicht als wissenschaftliche Abhandlung über die literarische Darstellung von Behinderung in der deutschsprachigen Literatur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts versteht. Stattdessen liegt eine Art Lektüretagebuch eines profilierten Aktivisten der deutschen Behindertenpolitik des späten 20. Jahrhunderts vor, das in Auswahl und Kommentierung erkennbar persönlich gefärbt ist. 

Dementsprechend findet weder eine Auseinandersetzung mit dem (wie oben skizziert durchaus vorhandenen) Forschungsstand statt, noch ist die Auswahl und Kommentierung der Texte systematisch geleitet. Sie beinhaltet beispielsweise sowohl originär deutschsprachige Titel als auch Neuauflagen älterer Titel sowie Übersetzungen aus anderen Sprachen. So kommt es, dass die Kommentierung mit einem Blick auf die deutsche Übersetzung von Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel beginnt (Orig.: Treasure Island, 1883. Dt. Übers.: 1895), unter den Titeln der NS-Zeit auch eine Neuausgabe von Johanna Spyris Heidi kann brauchen, was es gelernt hat führt (Erstveröffentlichung: 1883, Neuauflage 1937) und Heinrich von Kleists ursprünglich 1810 unter dem Kürzel „mz“ veröffentlichte Erzählung Das Bettelweib von Locarno im Rahmen einer 1956 veröffentlichten Anthologie bespricht. Die Berücksichtigung von Neuauflagen ist allerdings konsequent, geht es in Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld doch weniger um Behinderung thematisierende Titel, die zu einer bestimmten Zeit entstanden sind, sondern um solche, die kanonisch seit dem frühen 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum rezipiert wurden und werden.

Die genannten Aspekte lassen sich mit Recht kritisieren, allerdings übersieht eine solche Kritik allzu leicht den wertvollen Beitrag, den Siercks Band zu den aktuellen kinder- und jugendmedialen ‚Disability Studies‘ leistet: Zum einen bemüht er sich überhaupt um einen umfassenderen Blick auf Behindertenbilder in der deutschsprachigen Literatur des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts, zum anderen zeigt er meines Erachtens treffend deren ‚große Linien‘ auf: Sind Figuren mit Behinderung in älteren Texten noch weitgehend negativ charakterisierte, defizitäre und fremdbestimmte Figuren, deren physische oder psychische Gebrechen erstaunlich oft mit ihren charakterlichen Eigenschaften korrespondieren, finden sich in aktuelleren Texten seit ungefähr den 1990er Jahren immer mehr komplexe, eigenständige Figuren. Ebenso verschwinden Erlösungsnarrative offensichtlich von der Bildfläche: Behinderung wird nicht mehr als gleichsam göttliche Strafe funktionalisiert, die es zu überwinden gilt oder von der die Figur wenigstens (mit ihrem Tod) erlöst werden muss.

Das geht auch damit einher, dass von Behinderung nicht mehr nur aus der Außenperspektive nicht-behinderter Autor*innen geschrieben wird. Geradezu paradigmatisch steht hier Max von der Grüns Vorwort zu den Vorstadtkrokodilen, in dem er erklärt, dass er das Buch geschrieben habe, weil „ich selbst einen zehnjährigen Jungen habe, der im Rollstuhl geschoben werden muss“ (von der Grün 2002 [1976], 2). Stattdessen treten Menschen mit Behinderung zunehmend selbst als Autor*innen in Erscheinung; zumindest aber wird differenzierter von einem Leben mit Behinderung erzählt. All diese Einsichten sind vereinzelt bereits in der Forschung herausgearbeitet worden (vgl. Rana 2017, Schmerheim 2017), in ihrer Zusammenschau entfalten sie bei Sierck aber eine eindrückliche Wirkung. 

Besprochen werden insgesamt 91 Titel, die in Kapitel 2 chronologisch gelistet und im dritten Kapitel besprochen werden. Ausgewählt wurden einschlägige Titel wie Der geheime Garten (1911), Das war der Hirbel (1973), Stolperschritte (1981), Wunder (2012) oder Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008), aber auch weniger bekannte Werke, etwa Birte Müllers Planet Willi (2012) oder Else Günthers Sonja braucht 400 Mark (1954)An eine zumeist halbseitige Synopsis schließen sich kurze Kommentare an, die zwischen einer Drittelseite und einer Seite lang sind und jeweils ein, zwei ausgewählte Aspekte hervorheben. So betont Sierck die für ihn einfühlsam und doch ohne glückliches Ende geschilderte Innensicht von Härtlings Hauptfigur (vgl. S. 66) oder verweist auf die letztlich doch ableistische Erzählstruktur von Der geheime Garten, da „körperliche und psychische Einschränkungen [des Jungen Colin, der von seinem Vater in einem abgesonderten Teil des Schlosses, das Schauplatz der Geschichte ist, gehalten wird,] sich gegen Ende des Romans in Wohlgefallen auflösen“ (S. 46). Ohnehin wird Colins ‚Behinderung‘ in der Erzähllogik erst durch väterliche und ärztliche Vernachlässigung hervorgebracht, woraus sich als behindertenpolitisch perspektivierte Interpretation ergibt: „Wer nicht das Glück hat, von jemanden aus umfassender Isolation geweckt und entführt zu werden, bleibt lebenslang in Abhängigkeit verwahrt.“ (S. 46) 

Siercks Zusammenstellung und Kommentierung spinnen einen konsequenten roten Faden: Die ausgewählten Werke bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine nachgerade penetrante Moralisierung von bereits sprachlich als ‚Krüppel‘ oder ‚Narren‘ gebrandmarkten Figuren aus, deren körperlich-geistige Devianz ein Spiegel ihrer moralisch-sittlichen Fehlbarkeit ist beziehungsweise aus ihr resultiert. Das vielleicht eindrücklichste Bild hierzu liefert wohl die (von Sierck bereits in der Einleitung herangezogene) Episode vom Daumenlutscher Konrad in der Erstausgabe von Heinrich Hoffmanns Moralsatire Der Struwwelpeter (1844 unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb noch mit dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ veröffentlicht): Als Konrad „trotz mütterlichen Verbots“ (S. 9) munter weiterlutscht, springt der Schneider mit der Schere in die gute Stube und schneidet dem Jungen kurzerhand beide Daumen ab. Satire hin, Satire her – Siercks trockener Kommentar: „Körperliche Behinderung als Folge und Strafe für Ungehorsam gegenüber den elterlichen Anordnungen, diese Botschaft vermittelt das ‚drollige‘ und ‚lustige‘ Erziehungsbuch.“ (S. 9) Diese aus der christlichen Morallehre erwachsene Koppelung von moralischem und körperlichem Gebrechen ist in der Forschung sattsam bekannt; dass sie sich bis in das neuzeitliche Erzählen zumindest in rudimentärer Form erhalten hat, das ist eine Einsicht der aktuellen Forschung zu Behinderungsnarrativen.

Siercks Buch regt zum eigenen Lesen, zum Wieder-Lesen, zum Weiter-Lesen und -Nachdenken an. In seinen kurzen Kommentaren verweist er auf offensichtliche Charakterisierungen von Behinderung, etwa am Beispiel der zahlreichen unsäglichen NS-Veröffentlichungen mit Titeln wie „Der Krüppel“ oder „Menschen mühen sich um lebendiges Erbgut“, zeigt aber auch eher unterschwellige negative Figurencharakterisierungen auf: So übernehmen in Stevensons Schatzinsel ausschließlich die körperlich defizitären Figuren die Rolle der Antagonisten. Und Lindgrens Klassiker Die Brüder Löwenherz (1973) liest Sierck als Erzähltext, der die dort skizzierten Paradieswelten Nangijala und Nangilima mit dem Wunsch verknüpft, von Krankheit und Lähmung befreit zu sein: 

Erst kommt der Tod, dann das Licht. Eine Welt ohne Leid und Behinderung anzustreben ist kein schöner, sondern ein bedrohlicher Traum. In der Realität gehören Leiden, Krankheit oder Behinderung zur Erfahrung von Existenz, zur – manchmal beschwerlichen – Vielfalt der Lebenssituationen. Dieser Wirklichkeit mit dem (Frei-)Tod auszuweichen, zeigt keine wünschenswerte Perspektive auf. (S. 68)

In dieser Einschätzung zeigt sich auch der Behindertenpolitiker Sierck, dessen Lebenserfahrung in die Kommentare einfließt. Schade ist, dass er nie über diese Interpretationsansätze hinausgeht, sondern sich konsequent mit kompakten Kommentaren begnügt. Vielleicht findet sich ja ein Weg, die Beobachtungen in späteren Publikationen zu vertiefen. Überhaupt: Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld würde sich wunderbar als Grundstock einer Datenbank zu ‚Disability Narratives‘ eignen, mit der sich umfassende Korpusanalysen vorbereiten ließen.

Fazit

Wer sich mit der erzählerischen Darstellung von Menschen mit Behinderung beschäftigt, sollte Siercks Werk zur Kenntnis nehmen. So sehr es aus wissenschaftlicher Perspektive kritisiert werden kann, bietet es doch zahlreiche kluge Einsichten zu bekannten und weniger bekannten Behinderungsnarrativen, die sich allesamt als Sprungbrett für weitere Untersuchungen eignen.

Homepage des Autors

https://www.udosierck.com/

Literatur

Primärliteratur

  • von der Grün, Max. Vorstadtkrokodile. Eine Geschichte vom Aufpassen. München: cbj, 2002 [1973]. 

Fachliteratur

  • Backofen, Ulrike: „Musterkrüppel, Tyrann, Held... Musterkrüppel, Tyrann, Held...“. und andere „Strickmuster“. In: Sorgenkinder - Kindersorgen. Behindert-werden, Behindert-sein als Thema in Kinder- und Jugendbüchern. Hrsg. von Wiebke Ammann, Ulrike Backofen und Klaus Klattenhoff. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1987. S. 18-23.
  • Der inklusive Blick. Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma. Hrsg. von Daniela A. Frickel und Andre Kagelmann. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016.
  • Dommes, Grit: „Hoffentlich [...] nicht normal“. Behinderung als Thema in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. S. 45–83.
  • Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Hrsg. von Daniela A. Frickel, Andre Kagelmann, Andreas Seidler und Gabriele von Glasenapp. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2020.
  • kjl&m – forschung.schule.bibliothek. Hirbel, Kurt und die Tiefbegabten. Behinderung in Kinder- und Jugendliteratur und Medien.  H. 3 (66) 2014.
  • Narrating disease and deviance in media for children and young adults: Krankheits- und Abweichungsnarrative in kinder- und jugendliterarischen Medien. Hrsg. von Nina Holst, Iris Schäfer, und Anika Ullmann. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016. 
  • Pattensen, Henryk: Behinderte in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Teil 6: Themen/Motive/Stoffe. Hrsg. von Kurt Franz und Franz-Josef Payrhuber. Meitingen: Corian 2004. S. 1–30.
  • Philippi, Birte Svea: Sterben, Tod Und Jenseits in Der Graphischen Literatur. Schlüsselbildanalysen in Bilderbüchern und Graphic Novels. Bielefeld: transcript Verlag, 2022.
  • Rana, Marion: Disability in Children’s Literature: Tropes, Trends, and Themes. In: interjuli 1/17. S. 26–45. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/75903/36/interjuli_2017_01.pdf#page=28
  • Schäfer, Iris: Von der Hysterie zur Magersucht. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016. 
  • Schmerheim, Philipp: Narrative Verschiebungen. Wonder und das Spiel mit Perspektiven auf Behinderung und Inklusion. In: interjuli 1/17. S. 46–68. https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/75903/36/interjuli_2017_01.pdf#page=48
  • Sierck, Udo/Mürner, Christian: Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Weinheim: Beltz Juventa 2012 (Lizenzausgabe der BpB 2013).
  • Sierck, Udo: Widerspenstig, eigensinnig, unbequem. Die unbekannte Geschichte behinderter Menschen. Weinheim: Beltz Juventa 2017 (Lizenzausgabe der BpB 2018).
  • von Glasenapp, Gabriele: Kinder- und Jugendliteratur. In: Behinderung. Hrsg. von Susanne Hartwig. J.B. Stuttgart: Metzler, 2020. S. 352–356. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05738-9_63
Titel: Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld. 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur
Autor/-in:
  • Name: Sierck, Udo
Originaltitel: 2021
Erscheinungsort: Weinheim
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Beltz
ISBN-13: 978-3-7799-6332-5
Seitenzahl: 113
Preis: 17,95€
Buchcover von Udo Siercks