Inhalt

Joachim Schulze-Bergmanns Auseinandersetzung mit dystopischen Texten und realpolitischen Krisen ist genuin literaturdidaktisch gestaltet. Er greift in seinem 310 Seiten umfassenden Band auch Konzepte aus anderen Didaktiken mit auf, sichtet methodische Fragestellungen, bespricht eine Vielzahl von Texten aus beinahe hundert Jahren und stellt Überlegungen zu Anknüpfungspunkten zu Krisenkonstellationen der Gegenwart an. 

Dafür liefert er nach einer übersichtlichen Einleitung literaturwissenschaftliches und literaturdidaktisches Grundwissen, wobei er sich auf historische und gegenwärtige Konzepte aus der Literaturdidaktik bezieht. Für den Teilabschnitt zu der hochrelevanten Frage der Ideologie im Kontext der literarischen Gattungen Utopie und Dystopie geht er von Jürgen Krefts Konzepten aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts aus und streift damit auch Fragen zu der Werteerziehung im Literaturunterricht. 

An diese allgemeineren Betrachtungen schließt er mit Kapitel zwei einen einordnenden Abschnitt an, der die genrespezifische und thematische Ausrichtung des Bandes in Einklang mit geläufigen Kompetenzmodellen (Schilcher/Pissarek), dem Referenzrahmen Literatur (LifT-2) und mit unterrichtspraktischen Fragestellungen bringt. Dabei darf auch nicht das konzise und kenntnisreiche Teilkapitel zu Genderfragen vergessen werden, dessen besondere Relevanz für diesen Zusammenhang Schulze-Bergmann herausstellt. Der Autor bietet hier eine Übersicht mit biographischen Hintergründen von fünf kanonischen Autoren (Samjatin, Orwell, Huxley, Bradbury und Golding), liefert Erklärungsansätze für die in ihren Werken vertretene Sexualmoral und kontrastiert dies mit neueren Texten. Dabei lässt er auch intersektionale Fragen und den Euro-bzw. USA-Zentrismus der gewählten Texte nicht unbeachtet. Insgesamt finden sich in Kapitel zwei also durchdachte und vielfältige Punkte zur Legitimation der Textsorte für den Unterricht.

Im folgenden Kapitel gibt Schulze-Bergmann methodischen Fragen Raum und dekliniert nach einer Einführung in die Methoden der Werteerziehung allgemeine Methoden der Politikdidaktik, der Philosophiedidaktik sowie der Literaturdidaktik durch. 

Der größte Teil des Bandes ist aber den literarischen Gegenständen gewidmet. Drei verschiedene Kategorien literarischer Texte werden in Kapitel vier vorgestellt, nämlich „systemkritische Dystopien“ (S. 161-190), „Dystopien als Fabel und Robinsonade“ (S. 191-204), und „Dystopien jugendlicher Helden“ (S. 205-247). Die Texte werden jeweils nach einem festen Muster vorgestellt: Auf eine kurze biographische Vorstellung der Autorys[1] folgt eine knappe Betrachtung der Textintention mit einer Auflistung der sozialen Regeln und Werte in der literarischen Welt. Daran schließt eine konkretere Auseinandersetzung mit den ‚Warnungen‘ des Textes, eine Betrachtung der Ideologie, etwaigen Verständnisvoraussetzungen bei jugendlichen Lesys und ein Überblick über methodische Ansätze. Abschließend führt Schulze-Bergmann für jede der drei dystopischen Gattungen die Erkenntnisse für die Kompetenzmodelle zusammen.

Das fünfte Kapitel widmet sich einer aktuellen Krisenkonstellation, dem Klimawandel. Dieser wird aus der Perspektive der Wasserknappheit, der „Anti-Kampagne“ (S. 262ff.) zum Klimawandel und der Corona-Pandemie betrachtet. Schulze-Bergmann macht die Verbundenheit der Krisenthematik sichtbar und stellt, im Unterschied zu den vorgestellten fiktionalen dystopischen Texten, heraus, dass die Klimakrise aktueller und für Jugendliche nachvollziehbarer ist als beispielsweise primär demokratiegefährdende dystopische Szenarien wie in George Orwells 1949 erschienenen Roman 1984

Die dystopischen Texte haben für die Lesenden den Reiz, im Rahmen von Fiktionalität ein sachliches und normatives Problem zu thematisieren, das zwar nah an die Lebenswirklichkeit der Rezipienten heranreicht, aber noch so viel Abstand hält, dass eine unmittelbare Entscheidung nicht notwendig ist. […] Eine solche Freiheit [jene, sich sachlich und normativ zu einer Krisenkonstellation zu orientieren] gegenüber der Entscheidung, ob die Lesenden die Tatsache des Klimawandels akzeptieren oder nicht, besteht nicht mehr. Vielmehr lässt sich an diesem Thema […] rekonstruieren, wie die sachlichen Warnungen vor einer realen globalen Bedrohung in der Öffentlichkeit wahrgenommen bzw. konterkariert werden. (S. 249) 

Hier geht Schulze-Bergmann über bisherige Ansätze des Literaturunterrichts hinaus, indem er das Feld der Fiktionalität verlässt und eine reale Krise in den Fokus der literaturunterrichtlichen Behandlung rückt. Dafür referiert er zunächst einen historischen Überblick über die Klimaforschung von Arrhenius bis zur ersten Klimakonferenz 1979, bevor er aktuelle Daten vorlegt, wobei er sich neben naturwissenschaftlichen Daten auf Mojib Latifs 2020 erschienenes Buch Heißzeitbezieht. Anschließend bricht er den Komplex Klimawandel auf das lebensweltlich nachvollziehbare Thema Wasser herunter, das er von den Perspektiven der Ozeane, der Gletscher, des globalen Wasserkreislaufs, der Süßwasserreserven, dem Wasserhandel, Überschwemmungen und Dürren, Wasserversorgung und sanitärer Versorgung durchaus vielfältig und komplex auf der Basis von UNESCO-, WHO- und UNICEF-Daten beleuchtet. Etwas weniger Raum gibt er nachfolgend der Anti-Kampagne, wobei Schulze-Bergmann Argumentationsmuster vor allem großer Ölkonzerne offenlegt. Ein kurzes Schlaglicht wirft der Text auch auf die CoViD-19-Pandemie und Komplexe und Verwobenheiten, die an dem Umgang damit international sichtbar wurden. Der anschließende didaktische Teil geht über traditionelle Ansätze des Literaturunterrichts hinaus. Nicht nur werden Reden Greta Thunbergs analysiert und ihre Argumentationsmuster deutlich gemacht, sondern auch frei verfügbares weiterführendes Onlinefortbildungsmaterial und Ansätze für die fächerübergreifende Weiterbildung mit Massive Open Online Courses (MOOCs) oder auch die aktive Partizipation bei Zusammenschlüssen wie Fridays For Future und anderen angeregt. Diese Überlegungen visionieren einen thematisch ausgerichteten und medial breit aufgestellten integrativen (Deutsch-)Unterricht, und vermittelt für diesen praxisnah relevante Informationen und didaktische Ansätze. 

Kritik

Der Band versammelt große Wissensbestände aus mehreren (Teil-)Disziplinen, die in einfacher Form aufbereitet sind. Die Gestaltung ist dabei (abgesehen von ein paar strukturellen Ungleichmäßigkeiten) übersichtlich und nachvollziehbar. Dafür findet der Autor ein gutes Maß an Komplexitätsreduktion. Das wichtige Kapitel zu Krisen und Katastrophen hätte sicherlich ein wenig ausführlicher in Bezug auf didaktische Ansätze und unterrichtliche Legitimation ausfallen können. Ergänzt werden könnte dieser Band noch durch eine Aufnahme von gegenwartsliterarischen Primärtexten und eine Perspektive auf die Vermarktungsprozesse und Strategien gerade im Bereich der Dystopien, was aber beides vielleicht eher Aufgabe fachdidaktischer Periodika ist. Insgesamt eignet sich dieses Buch besonders für die Vorbereitung von Unterrichtseinheiten und ersetzt in seiner Grundständigkeit manche Einführungen in die Gattung Dystopie. 

Fazit

Insgesamt bildet Zwischen Dystopie, Klimawandel und Pandemie aktuelle und historische literaturdidaktische Überlegungen zu einer im Unterricht beliebten Textgattung ab, erläutert wesentliche Grundsatzüberlegungen, gibt praxisnahe Überlegungen zur Didaktik und zur Methodik auch für den fächerübergreifenden Unterricht und für die Lehre über Schul- und Fachgrenzen hinaus. 

 

[1] In dieser Rezension entgendere ich nach Phettberg. Für eine Übersicht siehe bspw. Kronschläger, Thomas: Entgendern nach Phettberg. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2022) 72 (5-7), S. 14–15. Onlinezugriff unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geschlechtergerechte-sprache-2022/

Titel: Zwischen Dystopie, Klimawandel und Pandemie. Zur Wertebildung mit dystopischen Texten (1920-2015) und realpolitischen Krisen für die Sekundarstufen I und II
Autor/-in:
  • Name: Joachim Schulze-Bergmann
Erscheinungsort: Hamburg
Erscheinungsjahr: 2021
Verlag: Dr. Kovač
ISBN-13: 978-3-339-11892-9
Seitenzahl: 310
Preis: 99,80€
Schulze-Bergmann, Joachim: Zwischen Dystopie, Klimawandel und Pandemie. Zur Wertebildung mit dystopischen Texten (1920-2015) und realpolitischen Krisen für die Sekundarstufen I und II