Inhalt

Bei der Kinder- und Jugendliteratur der DDR handelt sich um ein spezifisches, sehr umfangreiches und vor allem bisher nur wenig beleuchtetes Forschungsgebiet. Auf der Grundlage dieses Forschungsdesiderats baut das Vorhaben von Eva Maria Kohl und Michael Ritter auf, nach den Besonderheiten jener von 1949 bis 1989 geschriebenen und heute scheinbar verloren gegangenen Kinder- und Jugendbüchern zu fragen. Der Band lässt sich in drei Abschnitte unterteilen, in denen auf die biografischen Hintergründe der Autor*innen, die politischen bzw. gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der Werke, Darstellungen und Erzählungen von Kindheit sowie Besonderheiten der jeweiligen Poetik eingegangen wird. Zur Einführung in die komplexe Thematik widmen sich die Autor*innen einer begrifflichen Einordnung der Kinder- und Jugendliteratur der DDR, welche anhand einer kompakten Umschreibung des Forschungsfeldes und einer näheren Beschreibung der historischen Entwicklungslinien der DDR vorgenommen wird.

Mit Blick auf diese Aspekte widmen sich alle drei Teile des Buches, inklusive einer ausführlichen Betrachtung von Schullektüren der DDR, einzelnen essayähnlichen Abhandlungen, die dem Verhältnis von Geschichte und Kindheit nachspüren. Vor diesem Hintergrund wird anhand literarischer Beispiele sichtbar gemacht, wie kultur- und gesellschaftspolitische Themen damals in Kinder- und Jugendliteratur verhandelt wurden und ob bzw. welche Stoffe kinderliterarischer Texte als Lerninhalte betrachtet wurden.

Mit Peter Hacks, Franz Fühmann, Sarah Kirsch, Benno Pludra, Christa Kozik oder Gerhard Holtz-Baumert werden für die damalige Kinder- und Jugendliteratur prägende Autor*innen aus allen Jahrzehnten der DDR vorgestellt, die mit ihren Werken Räume für Austausch, Diskussion und Interpretation von gesellschaftspolitischen Erfahrungen geschaffen haben. Auch der Arbeit von Illustrator*innen wie Josef Hegenbarth und Elizabeth Shaw wird in dem Band Rechnung getragen, indem erläutert wird, wie diese durch ihre Illustrationskunst Geschichten vom Aufwachsen in der DDR zum Leben erweckt haben.

Auf ein abschließendes Fazit wird mit der Begründung, das umfangreiche Feld der Kinder- und Jugendliteratur der DDR nicht vollständig abbilden zu können, verzichtet (vgl. S. 283). Stattdessen stellen Kohl und Ritter an dieser Stelle ihre persönlichen und fachlichen Bezugspunkte sowie Hintergrundwissen zu den einzelnen Beiträgen vor, wodurch Leser*innen weiterführende Informationen zu den Ursprungs- und Verbreitungskontexten der einzelnen Werke erhalten.

Kritik

Die Beiträge des Bands bilden anhand einer umfangreichen Darstellung von Werken der Kinder- und Jugendliteratur der DDR ab, welche Motive und Themen bedeutsam für diesen Bereich und die Autor*innen zu dieser Zeit waren. Mit einer verständlichen und ausführlichen Verhandlung von Werken unterschiedlichster Akteur*innen der Kinder- und Jugendliteratur der DDR schafft es das Buch, einen möglichst breiten, analytischen Blick auf die Entstehungshintergründe, Biografien und stilistischen Eigenheiten dieser Werke zu ermöglichen. Kohl und Ritter stellen in diesem Band Werke vor, die in ihrer Differenziertheit und Multiperspektivität ein umfangreiches Bild der Kinder- und Jugendliteratur zeichnen. Trotz der übersichtlichen Gliederung ist der rote Faden der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht immer nachvollziehbar und es wird aufgrund von Unterschieden hinsichtlich der Ausführlichkeit und Detailliertheit der analytischen Betrachtungen der einzelnen Werke nicht immer ersichtlich, warum bestimmte Beiträge oder Thematiken mehr Berücksichtigung erfahren als andere.

Insgesamt ist jedoch zu erkennen, dass immer wieder ein Zugang zu dem bisher vernachlässigten Forschungsfeld hergestellt wird, was zum Verständnis der bisher eher verhaltenen Auseinandersetzung mit Werken der Kinder- und Jugendliteratur der DDR beiträgt. Dies betrifft sowohl Märchen (Peter Hacks, Gerhard Holtz-Baumer, Franz Fühmann, Gert Prokop), (historische) Kinder- und Jugendromane (Peter Abraham, Judith Burger, Benno Pludra), Bilderbuchgeschichten (Rainer Kirsch, Günther Feustel, Fred Rodrian, Elizabeth Shaw) als auch Gedichte für Kinder und Jugendliche (Sarah Kirsch, Alfred Wellm, Adolf Holst).

Teilweise lassen die Überschriften der einzelnen Beiträge jedoch viel Interpretationsspielraum, wenn es darum geht, einzuordnen, welche gesellschaftspolitischen Umstände und Entwicklungen damals Eingang in die Kinder- und Jugendliteratur gefunden haben. Auch die Diskussion des Verhältnisses zwischen biografischen Bezugspunkten der Autor*innen dieser Werke und der jeweiligen literarischen Verarbeitung wird dabei immer wieder aufgegriffen. So wird deutlich, dass das biografische Schreiben für viele Autor*innen eine sehr zentrale Funktion im Hinblick auf die Abbildung realer Kindheits- und Jugenderfahrungen in der DDR eingenommen hat, was sich auch in der Themenauswahl und literarischen Analyse widergespiegelt (vgl. S. 39).

Wie anhand der näheren Betrachtung der einzelnen Werke deutlich wird, zog sich eine gewisse unterschwellig optimistische Grundhaltung durch viele Texte, die für Kinder und Jugendliche verfasst wurden. Wie Kohl und Ritter treffend herausarbeiten, zeigt sich diese besonders in solchen Geschichten, die die Absicht erkennen lassen, Kindern zentrale moralische Werte des Sozialismus (Pflichtbewusstsein, Hilfsbereitschaft oder Respekt vor der Arbeit anderer) zu vermitteln. Kohl und Ritter binden geschickt mehrere Beispiele ein, in denen sich Anstrengungen zur Einbindung solcher Botschaften wiederfinden lassen. Zu nennen ist hier beispielsweise das Bilderbuch Das Wolkenschaf (1958) von Fred Rodrian und Werner Klemke, welches eine Geschichte über die Bedeutung von Zusammenhalt und Solidarität erzählt: "Die von Rodrians Tochter 'bestellte' Mischung aus Phantastik und Realität funktioniert. So grundsätzliche Werte des menschlichen Zusammenlebens wie Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit und mutiges Handeln für eine gute Sache vermitteln sich umstandslos über die Narration" (S. 53).

So wird in der analytischen Auseinandersetzung mit diesem Beispiel herausgearbeitet, dass Kindheitsvorstellungen, die sich in den Werken wiederfinden lassen, teilweise einem ideologischen Erziehungsgedanken untergeordnet wurden. Auch an Klassikern wie Alfons Zitterbacke (1959) von Gerhard Holtz-Baumert werde nach Kohl und Ritter deutlich, wie literarische Charaktere als sozialistische Identifikationsfiguren präsentiert wurden: "So scheitert Alfons immer wieder daran, ein guter Pionier oder Schüler zu sein, was ihm nun nicht mehr nur Spott und Ärger, sondern auch formalisierte Verfahren der Rüge durch die Institutionen der Gleichaltrigen einbringt. Ein nicht unwesentlicher Teil des Humors entsteht eben hier auch in der Unfähigkeit des Kindes, die ihm […] altklug-erwachsenentümelnden Maßstäbe der Kinderorganisationen mit den eigenen, impulsiven Handlungen in Einklang zu bringen" (vgl. S. 252). So wird anhand der Ausführungen von Kohl und Ritter deutlich, dass die Kinder- und Jugendliteratur auch als Instrument dafür genutzt wurde, (gesellschafts-)politische Botschaften zu vermitteln, die der Erziehung junger Menschen zu 'nützlichen' Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft dienen sollten.

Es wird deutlich, dass die von Kohl und Ritter vorgestellten Werke der Kinder- und Jugendliteratur nicht nur als einfache Darstellungen vergangener Zeiten betrachtet werden können, sondern Möglichkeiten der Interpretation und Deutung der damaligen gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Verhältnisse liefern, die ein komplexes und vielschichtiges Bild der DDR zeichnen (vgl. S. 266). Dies lässt sich u.a. an der analytischen Auseinandersetzung von Kohl und Ritter mit ausgewählter Schullektüre der DDR beobachten. So kommen sie zu dem Schluss, dass mit der Einführung der Lebensgemeinschaftsfibel der Blick über die kindliche Erlebniswelt hinaus erweitert und Aspekte wie gesellschaftliche Transformationsprozesse und sich daraus ergebende Herausforderungen in die Literatur für Heranwachsende eingebunden wurden (vgl. S. 185). In den Schulbüchern der DDR wurde damit der Übergang von einem reformpädagogischen zu einem sozialistisch-realistischen Bildungskonzept deutlich (vgl. S. 243). Der fortschreitende Wandel der konzeptionellen Idee von Schule hatte schließlich wesentlich Einfluss auf die Bildungspolitik der DDR. Diese orientierte sich verstärkt an der gesellschaftlichen Realität, wie sie in der Lebensgemeinschaftsfibel dargestellt wird (vgl. S. 243f.). Kinder werden nicht mehr in einer isolierten Spielwelt, sondern in einer Welt des gesellschaftlichen und technologischen Wandels präsentiert. Dies hatte auch wesentlich Einfluss auf die schulische Sozialisation, die von da an stark darauf ausgerichtet wurde, Heranwachsenden sozialistische Werte und Grundprinzipien im Sinne der angestrebten Gesellschaftstransformation zu vermitteln.

Anstelle eines Resümees endet der Band mit einem Dialog zwischen Kohl und Ritter, in welchem sie darlegen, welche Interessen, Motivationen und biografischen Bezugspunkte sie dazu bewegt haben, sich im Rahmen des Buchprojekts mit einer solchen Bandbreite an 'vergessenen' Werken der Kinder- und Jugendliteratur der DDR zu widmen.  Abgerundet wird das Buch somit durch zahlreiche Gedankenanstöße, die zu einer Fortführung des Diskurses und zu einer vertieften Beschäftigung mit aufgezeigten – und nach wie vor aktuellen – Spannungsfeldern und offen gebliebenen Fragestellungen einladen.

Fazit

Insgesamt schafft es das Buch, einen umfassenden Überblick über zentrale Werke der Kinder- und Jugendliteratur zwischen den Jahren 1949 und 1989 zu geben und Leser*innen interessante Anregungen für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den Inhalten und Botschaften dieser Texte an die Hand zu geben. Spannend ist dabei vor allem die Fülle von Themen, welche die von Kohl und Ritter vorgestellten Autor*innen in ihren Werken aufgegriffen und bearbeitet haben. So ist dort von Aufbruch und Veränderungswillen, aber auch von zerrütteten Familien, Konflikten zwischen den Generationen und Zukunftsängsten die Rede. Insbesondere diese Darstellung unterschiedlicher Perspektiven zu dem bisher wenig beachteten Forschungsfeld macht die Publikation für verschiedenste Zielgruppen zu einer lohnenswerten Lektüre.

Titel: Kindheitsgeschichten. Eine Spurensuche in der ostdeutschen Kinder- und Jugendliteratur
Autor/-in:
  • Name: Eva Maria Kohl
  • Name: Michael Ritter
Erscheinungsort: Gransee
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: Edition Schwarzdruck
ISBN-13: 978-3-9661-1025-9
Seitenzahl: 292
Preis: 27,00€
Auf der Titelseite ist ein Kind mit orangener Mütze und einem Basketball unter dem Arm abgebildet. Es hat die Augen geschlossen und steht vor einer zerbrochenen Scheibe. Die Scherben liegen vor ihm auf dem Boden. Um diese Illustration herum sind Zeilen wie aus einem Schulheft abgedruckt. In den Zeilen stehen Namen von ostdeutschen Autor*innen. Auf dem Titelblatt sind die Informationen des Buchs abgedruckt: Autor*innen: Eva Maria Kohl und Michael Ritter. Titel: Kindheitsgeschichten. Eine Spurensuche in der ostdeutschen Kinder- und jugendliteratur.