Inhalt und Kritik

Thielking, Hofmann und Esau attestieren der Literaturdidaktik in der Einleitung ein literatur- und kulturwissenschaftliches Theoriedefizit (vgl. S. 9), da sich die Literaturdidaktik "ihre Forschungsperspektiven nicht von der Literaturwissenschaft vorgeben lassen will" (S. 9), damit aber die Frage aufwerfe, "ob die skizzierten Tendenzen der literaturdidaktischen Forschung nicht Gefahr laufen, das genuine Potenzial der Literatur für die schulische Bildung, die Persönlichkeitsentwicklung und die Sozialisation und Enkulturation junger Menschen zu verfehlen." (S. 9) Die in der Einleitung erfolgende Positionierung gegen eine rein empirisch ausgerichtete Literaturdidaktik ist insofern zu begrüßen, als damit die Position der gegenstandsorientierten Literaturdidaktik gestärkt und gesichert wird.

Der 332 Seiten starke Sammelband verspricht, neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Didaktik zu entwickeln und geht auf eine Tagung zurück, die im Jahre 2018 in Paderborn stattgefunden hat. Die dem Sammelband zugrundeliegende Tagung lässt sich mit Fug und Recht als Bestandteil eines Paradigmenwechsels in der disziplinären Ausrichtung der Literaturdidaktik werten, die bis weit über die Mitte der 2010er Jahre eine starke Tendenz zu einer bildungswissenschaftlichen Orientierung aufwies. Insofern leisteten die Veranstalter*innen der Tagung dankenswerte Arbeit in Zeiten einer sich verstärkenden Neuorientierung am Gegenstand. Heute, fünf Jahre später, ist dieser disziplinäre Umbruch vollzogen: Beide Zweige der Literaturdidaktik arbeiten produktiv zusammen und stellen so zwei elementare Säulen der Disziplin dar.

In der Theorie stützen sich die Herausgeber*innen auf zentrale und programmatische Texte beispielsweise Nicola Mitterers, Michael Baums, Ulf Abrahams/Matthis Kepsers, Kaspar Spinners, Heidi Röschs und Werner Wintersteiners, womit zentrale und gewichtige Positionen einer kulturwissenschaftlich fundierten Literaturdidaktik die Referenzgröße darstellen. Auch wenn die Herdfeuer der in der Einleitung beschriebenen Grabenkämpfe zwischen rein empirischer, von der Literaturwissenschaft abgekoppelter Literaturdidaktik und der gegenstandsorientierten Literaturdidaktik längst erloschen sind, bleibt der Band anregend, facettenreich und inspirierend.

Sektion I widmet sich der kulturellen und gesellschaftlichen Relevanz der Literaturdidaktik. Michael Hofmann zeigt am Beispiel einer originellen Relektüre von Goethes Erlkönig (1782) unter Bezugnahme auf Nicola Mitterers responsive Literaturdidaktik sowie Michael Baums dekonstruktive Nichtlehrbarkeitsdoktrin literarischer Prozesse, dass ein konsequent auf offene literarische Gespräche ausgerichteter Literaturunterricht, der die Ambivalenz seiner Gegenstände ernstnimmt, zur Emanzipation heutiger Rezipient*innen beitragen kann und "eine freie und solidarische Kommunikation zwischen Menschen" (S. 23) ermöglicht. Nathalie Kónya-Jobs entwickelt äußerst detailreich eine alternative Literaturgeschichtsdidaktik, Söhnke Post wirft einen Blick auf Literaturunterricht mit Geflüchteten, Magdalena Kißling entwirft unter Bezugnahme auf bildungspolitische und diversitätsorientierte Methoden (Anti-Bias, Social Justice-Training, Mahloquet) Möglichkeiten eines diskriminierungssensiblen Literaturunterrichts und Thomas Gann weist nach, dass raumsemantische Analyseverfahren in der Tradition des russischen Formalismus auch stark von interkulturellen Kontexten geprägt sind. Alle Beiträge zeichnen sich durch eine vielfältige und originelle Argumentation aus und plausibilisieren die gesellschaftlichen und (inter-)kulturellen Kontexte.

Sektion II widmet sich der theoretischen Verarbeitung des kulturellen Gedächtnisses und dessen Relevanz für die Vermittlung von Literatur und Medien. Inger Lison stellt einen Gegenwartsbezug her, indem sie beschreibt, wie auf social media (dem damaligen Twitter), auf Online-Plattformen zur touristischen Bewertung von Gedenkstätten (tripadvisor) und in gegenwartsliterarischen Medien (Bilderbuch, Graphic Novel, Film) eine intermediale Auseinandersetzung mit Erinnerung, Schuldfrage und Vergangenheitsbewältigung stattfindet. Die Relevanz, am Beispiel deutsch-türkischer Migrationsliteratur die marginalisierte Migrationsgeschichte in den Blick zu nehmen, führt René Perfölz vor und arbeitet hierbei insbesondere die literarischen Inszenierungen von Erinnerung als Reflexionsgegenstand für einen Literaturunterricht heraus, der Literatur nicht entästhetisiert, sondern zum sensiblen und kritischen Nachdenken über das Phänomen Erinnerung einlädt. Die größere Öffentlichkeit der literarischen und erinnerungskulturellen Vermittlungsarbeit schafft Christine Otts Beitrag, indem sie zeigt, wie Literatur, Literaturkritik und paratextuelle Inszenierung auch eine große wissenspoetologische Relevanz aufweisen.

Inter- und Transkulturalität nimmt Sektion III in den Blick. Lea Grimm eröffnet mit ihrem Konzept der metakulturellen Literaturdidaktik. Dabei geht es um die Identifikation von anthropologischen Grundmotiven und deren Auftreten in der Literatur unterschiedlicher Kulturen. Der Grundüberlegung folgend "soll im metakulturellen Literaturunterricht das Maximum an Erstaunen über nicht erwartete kulturverbindende Gemeinsamkeiten ausgelöst werden" (S. 158), um damit Annahmen kultureller Grenzen abzubauen. Dazu sollen close- und wide-reading-Phasen implementiert werden. Der Beitrag lotet selbst eigene Hürden aus und kündigt eine weitere Ausdifferenzierung an, die neugierig macht auf mehr. Karina Becker erarbeitet Möglichkeiten, Homi K. Bhabhas 'third space' und das Konzept der Hybridität auf Weltliteratur anzuwenden. Sehr plausibel zeigt sie das interkulturelle Potenzial einer Ausweitung der Gegenstände des Literaturunterrichts auf. Die Herausforderung, komplexe Theorien zu verhandeln und danach für den didaktischen und unterrichtspraktischen Kontext zu verarbeiten, gelingt Carlo Brunes Beitrag in herausragender Weise. Sehr anregend arbeitet er das literarästhetische Potenzial von Kafkas Ein altes Blatt (1920) heraus, perspektiviert die darin eingeschriebene Unzuverlässigkeit narratologisch souverän und zupackend. Besonders hervorzuheben ist, dass er am Ende konkrete unterrichtspraktische Umsetzungen entwickelt, die das theoretische und begriffliche Gerüst des Beitrags ausgezeichnet greifbar machen. Ines Böker und Stephanie Willeke beziehen die Transkulturalität stärker in den Umgang mit Literatur ein und zeigen, dass Literatur dabei helfen kann, kulturelle Grenzziehungen als Konstrukte erfahrbar zu machen und somit die politische Urteilsbildung zu schärfen. Martina Kofer geht aus von Bredels und Piepers integrativer Deutschdidaktik und der Reflexion von Sprachverwendung im literarischen Kontext und überträgt das überzeugend auf Mehrsprachigkeit in der Literatur. Johannes Odendahl schließt die Sektion mit einem sehr anregenden Beitrag, der auf Basis der Rezeption von Klassikern der Literaturgeschichte die spezifische Poetizität von Literatur herausarbeitet, die motivischen und semantischen Äquivalenzen literarischer Texte perspektiviert und so gewissermaßen die Klammer schließt, die Grimms metakultureller Ansatz eröffnet hat. Sein sympathisches Schlussplädoyer zeigt, dass Literatur und Literaturunterricht keine Normierung vertragen, sondern gerade die Vielfalt möglicher ästhetischer Zugänge große Potenziale diversitätsorientierter und interkultureller Zugriffe bietet.

Die letzte Sektion (IV) widmet sich dem Themenkomplex Gender. Franziska Bergmann eröffnet die Sektion mit einer Unterrichtskonzeption zu Schillers Kabale und Liebe (1794), die eine historische und lebensweltbezogen-populärkulturelle Kontextualisierung der Genderimplikationen vornimmt. Originell ist hier der Vergleich von Louis XIV und Donald Trump in Bezug auf den Wandel der Männlichkeitsbilder (vgl. S. 152f.). Julia Bodenburg beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Narratologie und Gender und schreibt Literatur das Potenzial zu, binäre Ordnungen zu produzieren, zu hinterfragen oder zu unterlaufen. Unter Bezug etwa auf Enid Blytons Fünf Freunde (ab 1942, dt. 1953) zeigt sie, wie in Literatur eine ästhetisierte Ausgestaltung von doing gender avant la lettre stattfinden kann. Literaturunterricht muss sich ihr zufolge darauf besinnen, die Eigensinnigkeit von Literatur zu wahren und ihrem subversiven Potenzial Raum zu lassen. Ina Henke widmet sich E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816), Das öde Haus sowie Das Gelübde (beide 1817) und arbeitet anhand einer sehr einleuchtenden, narratologisch präzisen Analyse scharfsinnig heraus, wie hier der Konstruktcharakter von Stereotypen ablesbar wird. Dabei zeigt sie, wie eine genaue Betrachtung der Figurenkonstruktionen und ihrer Wertungen zum Aufdecken kolonialer, machtkonstruierender, genderkonservativistischer Strukturen einladen kann, ohne dabei Positionen vorzugeben. Henkes Artikel verweist schon auf die intersektionale Perspektive, die gern noch breiter im Band hätte vertreten sein dürfen. Antonia Villinger betrachtet Schillers Kabale und Liebe (1784) und Hebbels Maria Magdalena (1843) in Hinblick auf Gender und Familienkonstellationen, wobei insbesondere die medienorientierten Vorschläge großes Innovationspotenzial bergen. Johanna Tönsing rundet den Band mit einem Blick auf Gegenwartsliteratur und deren neoliberale Strukturen ab, wobei sie gesellschaftliche Körper- und Schönheitskonstruktionen in den Blick nimmt und abschließend auch für den Einsatz von Trivialliteratur plädiert, die problematische Weiblichkeitsbilder affirmiert, um daran Reflexionsräume zu schaffen.

Fazit

Das Anliegen, "neuere Perspektiven der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft wie der Problemkreis des kulturellen Gedächtnisses, der Genderforschung und der inter- und transkulturellen sowie postkolonialen Literaturwissenschaft in didaktischer Perspektive zu reflektieren" (S. 9) war im Jahr 2018 definitiv hochaktuell, innovativ und dringlich. Entsprechend verdienstvoll ist es auch, dass sich die Beiträger*innen des Bandes fundiert und vertieft mit den Anschlussfähigkeiten kulturwissenschaftlicher Beobachtungen für die Literaturdidaktik auseinandergesetzt haben. Gerade vor dem Hintergrund des seinerzeitigen Desiderats ist es umso bedauerlicher, dass die damals hochaktuellen und brisanten Themen erst 2023 erschienen sind in einer Zeit, in der viele der benannten Perspektiven bereits breiter rezipiert wurden.

Das verdienstvolle Anliegen einer systematischen Implementierung postkolonialer, machtreflexiver Fragestellungen in die Literaturdidaktik (vgl. S. 12f.) verfolgen die Beiträge des Bandes aber durchgehend konsequent, reflektiert und fundiert. Die bibliographische Sorgfalt und die Vielfalt der diskutierten Theoriebezüge machen den Band sehr lesenswert und bilden damit ein ansprechendes Nachschlagewerk für eine gegenstandsorientierte Literaturdidaktik in der postmigrantischen Gesellschaft.

Titel: Neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturdidaktik
Herausgeber:
  • Name: Sigrid Thielking
  • Name: Michael Hofmann
  • Name: Miriam Esau
Erscheinungsort: Würzburg
Erscheinungsjahr: 2023
Verlag: Königshausen & Neumann
ISBN-13: 978-3-8260-7757-9
Seitenzahl: 332
Preis: 48,00€
Vor dem Hintergrund einer mit Farbe bemalten Leinwand in Blau, Grün, Rot und Gelb sind die Herausgeber*innen und der Titel des Buches genannt: Sigrid Thielking, Michael Hofmann, Miriam Esau: Neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturdidaktik. Erschienen 2023 im Verlag Königshausen & Neumann